2
Liz Albys Telefon klingelte am frühen Morgen und riss sie aus einem unruhigen Schlaf. Sie hatte von Sarah geträumt. Es war kein schöner Traum gewesen, denn Sarah schrie und quengelte und versuchte ständig, auf das Dach eines hohen Hauses zu klettern. Sie hangelte sich an einem Balkongitter entlang. Liz stand unten und wusste, dass es eine Frage der Zeit war, bis ihr Kind stürzen würde. Sie rannte hin und her, um im Ernstfall mit ausgebreiteten Armen dazustehen, aber es gelang ihr nicht, die Flugbahn des kleinen Körpers zu berechnen. Ganz gleich, wohin sie sich stellte, es hatte immer den Anschein, dass Sarah an der entgegengesetzten Seite aufschlagen würde. Liz war schon ganz verzweifelt, aber da hörte sie ein lautes Schrillen und wusste, dass die Feuerwehr zu ihrer Hilfe nahte. Im nächsten Moment erwachte sie und begriff, dass das Telefon läutete.
Sie starrte auf die Uhr neben ihrem Bett. Halb sieben. Wer rief so früh an?
Der Telefonapparat stand gleich neben der elektronischen Uhr. Liz setzte sich auf, knipste das Licht an, nahm den Hörer ab.
»Ja?«, fragte sie. Ihre Stimme klang noch etwas heiser. Auf der anderen Seite herrschte Schweigen. »Ja?«, wiederholte Liz ungeduldiger.
Die Stimme am anderen Ende klang ebenfalls krächzend. Jedoch nicht verschlafen. Sondern vollkommen kraftlos. »Mrs. Alby?«
»Ja. Wer ist denn da?«
»Hier ist Claire Cunningham.«
Liz brauchte eine Sekunde, dann begriff sie. »Oh«, sagte sie überrascht, »Mrs. Cunningham!«
»Ich weiß, es ist eine unmögliche Uhrzeit«, sagte Claire. Sie sprach ein wenig schleppend, die Endungen ihrer Worte verwischten ganz leicht. Da Liz nicht davon ausging, dass Claire Cunningham morgens um halb sieben betrunken war, nahm sie an, dass sie unter ziemlich starken Beruhigungsmitteln stand.
»Ich war schon wach«, behauptete Liz. Schließlich war sie ja dankbar, dass jemand ihren verzweifelten Traum beendet hatte.
»Mein Mann ist endlich eingeschlafen«, sagte Claire, »er hat seit … seit er …« Sie holte tief Luft. »Seit er Rachel identifiziert hat, konnte er nicht mehr richtig schlafen. Jetzt schläft er ganz tief. Ich möchte ihn nicht wecken.«
»Ich verstehe.«
»Aber ich werde fast verrückt. Ich muss immerzu reden. Wenn ich schweige, meine ich zu ersticken. Ich muss über Rachel reden. Über das, was … mit ihr geschehen ist.«
»Das ging mir in den ersten Tagen ganz genauso«, sagte Liz.
Sie entsann sich ihrer vergeblichen Versuche, mit ihrer Mutter in ein Gespräch zu kommen. Sie hatte fast gebettelt. Aber natürlich hatte ihre Mutter nicht reagiert.
»Mein Mann hat mir erzählt, dass Sie angerufen haben«, sagte Claire, »und dass Sie angeboten haben, mit mir zu sprechen. Ich weiß, ich sollte trotzdem nicht um halb sieben …«
»Nein, wirklich, machen Sie sich keine Gedanken. Ich bin froh, dass Sie mich anrufen. Ich … brauche auch jemanden zum Reden.«
»Wir haben inzwischen unsere Telefonnummer geändert«, sagte Claire, »es haben so viele Leute angerufen. Vor allem Journalisten. Aber ich möchte nicht mit Journalisten sprechen. Die vermarkten doch nur den Tod meines Kindes.«
Liz dachte an die Talkshow, in der sie kurz nach Sarahs Tod gewesen war. Erst später war ihr aufgegangen, wie sehr man sie benutzt hatte.
»Ja, da muss man vorsichtig sein«, bestätigte sie.
»Könnten Sie … ich meine, könnten wir uns vielleicht einmal treffen?«, fragte Claire schüchtern. »Ich weiß nicht, ob Sie Zeit haben, aber …«
»Ich habe Zeit. Wollen wir gleich etwas ausmachen? Heute Vormittag?«
»Das wäre wunderbar!« Claire klang erleichtert. »Vielleicht irgendwo in der Innenstadt. Ich könnte mit dem Bus dorthin kommen. Ich kann nicht Auto fahren, weil ich so viele Tabletten nehme.«
Sie einigten sich auf ein Cafe am Marktplatz um elf Uhr.
»Ich habe Sie im Fernsehen gesehen«, sagte Claire, »ich werde Sie erkennen.« Zögernd fügte sie hinzu: »Sie taten mir so entsetzlich leid damals. Ich ahnte nicht, dass ich selbst so bald darauf …« Sie verstummte. Betäubt von der Wucht des Schmerzes, der sich kaum aushalten ließ.
Scheißkerl, dachte Liz, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Sie starrte zur Decke hinauf. Scheißkerl! Er zerstört die Kinder, und er zerstört alle um sie herum. Verdammter Scheißkerl!
Da es klar war, dass sie nun nicht mehr einschlafen würde, stand sie auf, zog ihren Bademantel an und streifte dicke Socken über ihre ewig kalten Füße. Sie zog die Vorhänge zurück und blieb am Fenster stehen, starrte hinaus in das zaghafte Erwachen des schon herbstlich gefärbten Morgens.
Sie überlegte, ob sie, als sie gerade das Wort zerstört gedachte hatte, auch sich selbst gemeint hatte. Es war eine schreckliche Vorstellung, zerstört zu sein. Als zerstört hatte sie immer ihre Mutter empfunden, und sie hatte sich geschworen, dass ihr dieses Schicksal erspart bleiben sollte. Sie war noch so jung. Sie wollte leben. Lachen, tanzen, fröhlich sein. Lieben. Es wäre so schön, irgendwann einen Mann zu treffen, den sie liebte und der ihre Gefühle voller Ehrlichkeit und Wärme erwiderte. Aber konnten zerstörte Frauen noch lieben?
Regenschwere Wolken am Himmel. Schon wieder. Der Sommer hatte sich wirklich verabschiedet. Vielleicht brauchte sie Sonne, damit es ihr besser ging.
Das war zumindest so etwas wie ein Plan. Ein Gedanke, eine Perspektive. Wie das genau aussehen sollte, wusste sie nicht. Aber die Vorstellung, wegzugehen, irgendwohin, wo es warm war, versorgte sie zum ersten Mal seit jenem Augusttag in Hunstanton wieder mit einem Anflug von Energie. Positiver Energie. Ein anderes Land. Spanien. Südfrankreich. Italien. Sonne und blauer Himmel, Olivenbäume, hohes, trockenes Gras, das sich im heißen Wind wiegte. Nächte unter samtschwarzem Himmel. Das rauschende Meer, warmer Sand unter den Füßen. Nie wieder hinter der Kasse in der Drogerie sitzen. Nicht länger dem körperlichen, seelischen und moralischen Verfall ihrer Mutter zusehen müssen. Und vielleicht noch mal Kinder haben. Nicht als Ersatz für Sarah. Sondern als Vertrauensbeweis an das Leben.
Den Kopf an die Scheibe gelehnt, fing sie an zu weinen.
3
Der Wind, der sie am Vorabend in Kyle of Lochalsh begrüßt und dafür gesorgt hatte, dass sie im gleißenden Abendsonnenlicht die Brücke nach Skye überqueren konnten, war über Nacht zum Sturm geworden. Frisch und kalt kam er über das Meer gejagt, fegte heulend über die Insel. Die Wellen draußen türmten sich zu meterhohen Brechern auf. Die Bäume bogen sich bis fast zur Erde. Über den Himmel rasten Wolkenfetzen, getrieben von einer wütenden Kraft, ballten sich zwischendurch zu hohen Türmen zusammen und wurden dann gleich darauf wieder auseinandergerissen und weitergewirbelt.
Virginia erwachte vom Pfeifen und Toben um sie herum und wunderte sich, dass sie trotz allem so tief und fest geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatte die lange Autofahrt sie völlig erschöpft. Die Müdigkeit war am gestrigen Abend jäh und schlagartig über sie hergefallen. Ganz plötzlich hatten sie alle Energie, alle Kraft verlassen. Sie hatte das Haus aufgeschlossen, war hinauf in ihr Zimmer geschlichen, hatte es gerade noch geschafft, sich das Bett zu beziehen, ihre Zähne zu putzen, in einen Schlafanzug zu schlüpfen. Dann lag sie schon zwischen den weichen Kissen und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Es war sieben Uhr, der Tag brach gerade herein. Durch ihr Fenster konnte sie den Himmel sehen. In den Lücken zwischen den Wolken trug er kühle Pastellfarben. Später würde er in ein leuchtendes Blau übergehen.
Sie sprang aus dem Bett, fröstelte in der kalten Luft. Sie hatte nicht mehr die Kraft gehabt, die Heizung im Haus anzuschalten, hatte sich sofort unter die Bettdecken geflüchtet. Rasch zog sie ihren warmen Wollpullover über den Schlafanzug, schlüpfte in ihre knöchelhohen, dick gefütterten Hausschuhe. Mit wirren Haaren und ungewaschenem Gesicht kam sie sich wie eine Vogelscheuche vor, aber das war ihr gleichgültig. Sie brauchte rasch einen Kaffee. Mit einer großen, heißen Tasse würde sie sich dann wieder in ihr Bett zurückziehen und den Tag ganz langsam beginnen. Nathan schlief sicher noch.
Als sie jedoch ins Wohnzimmer trat, stand er dort bereits am Fenster. Er trug Jeans, dazu einen Rollkragenpullover von Frederic, der ihm wie üblich an den Schultern zu eng war. Es roch nach Kaffee im Zimmer. Nathan hatte einen Becher in der Hand.
Er wandte sich nicht um, aber er hatte ihr Kommen offenbar bemerkt, denn er sagte: »Hast du das Licht draußen gesehen? Den Sturm? Die Wolken? Es ist unglaublich.«
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte. »Ein fantastischer Tag. Solche Tage machen mir immer wieder klar, weshalb ich den Norden so liebe.«
»Mehr als den Süden?«
»Ja. Viel mehr.«
Er drehte sich um, sah sie an. Der erste Schatten eines Bartes lag auf seinem Gesicht. »Ich auch«, sagte er, »ich liebe den Norden auch mehr als den Süden.«
Sie wusste nicht, weshalb sie plötzlich Herzklopfen bekam. »Ich dachte immer, ich sei die Einzige mit dieser Vorliebe.«
»Nein. Bist du nicht.«
»Ich liebe auch den Herbst mehr als den Frühling.«
»Ich auch.«
»Ich liebe Weißwein mehr als Rotwein.« Er lachte.
»Ich auch.«
»Ich kämpfe mich lieber durch einen Wintersturm, als im Sommerwind spazieren zu gehen.«
Er trat einen Schritt näher an sie heran. »Was ist es, wonach du dich in Wahrheit sehnst?«, fragte er leise.
»In Wahrheit?«
»Du liebst nicht, was lieblich ist. Sanft, warm, umschmeichelnd. Du liebst, was rauh ist, kalt, herausfordernd. Du liebst alles, was dich spüren lässt, dass du lebst. Du sehnst dich so sehr nach dem Leben, Virginia. So sehr man sich nur sehnen kann, wenn man in einem alten Gemäuer sitzt, umgeben von hohen Bäumen, die Sonne und Wind und die ganze Welt draußen fern halten.«
Sie merkte zu ihrem Entsetzen, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Um Gottes willen, jetzt nicht heulen! Welche Saite hatte er angeschlagen mit seinen Worten ?
»Ich will …«, sagte sie und verstummte.
»Was? Was willst du, Virginia?«
Sie holte tief Luft. »Ich wollte eigentlich nur einen Kaffee haben«, sagte sie.
Er stellte seinen Becher auf den Tisch, trat noch einen Schritt näher. »Und was noch? Was wolltest du noch?«
Verwirrt blickte sie an ihm vorbei. Innerhalb der letzten zwei Minuten hatte sie sich auf etwas Neues eingelassen. Der Ton zwischen ihnen hatte sich verändert. Sie hatten nur über ihrer beider Vorlieben gesprochen, oder nicht? Irgendwie schienen sie ganz andere Informationen ausgetauscht zu haben. Noch begriff sie nicht ganz, was geschehen war und weshalb es geschehen war.
»Was wolltest du noch? Weshalb bist du mit mir nach Skye gefahren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch. Du weißt es.«
»Nein.«
»Du weißt es«, beharrte er und trat noch näher. Er stand jetzt dicht vor ihr. Sie roch die Seife, mit der er sich gewaschen hatte. Sein lächelnder Mund war zum Greifen nah. Sein Atem streifte ihre Wange.
Und zu ihrer Verwunderung verspürte sie nicht das Bedürfnis, zurückzuweichen.
Sie liebten sich den ganzen Tag über. Am Mittag verließen sie für zwei Stunden das Bett und liefen an den Strand, durch einen tobenden Sturm voller Wolken, Sonne und vereinzelten Regenspritzern. Sie rannten Hand in Hand am Wasser des Dunvegan-Fjords entlang, schmeckten Salzwasser auf den Lippen, rochen den Seetang. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit. Die Möwen um sie herum wetteiferten in ihrem Kreischen mit dem Tosen des Sturmes, breiteten weit die Flügel aus und ließen sich in wilden Achterbahnflügen durch die Luft tragen.
Sie liefen, bis ihre Lungen und ihre Seiten schmerzten und sie beide rote Wangen von der frischen Luft hatten, dann kehrten sie eng umschlungen langsam zum Haus zurück und gingen wieder ins Bett. Sie machten weiter, wo sie aufgehört hatten, erschöpfter jetzt als am frühen Morgen, zärtlicher, ruhiger, geduldiger als zuvor. Seit den Tagen mit Andrew hatte sich Virginia nicht mehr zu einem Mann sexuell so stark und unvermeidlich hingezogen gefühlt wie zu Nathan. Sie konnte nicht genug bekommen, wollte ihn wieder und wieder, lag zwischendurch in seine Arme geschmiegt, spürte seinen Herzschlag an ihrem Rücken und fühlte, wie alles in sie zurückströmte, was sie vor so langer Zeit verlassen und was sie für immer verloren geglaubt hatte: Leben, Frieden, Zuversicht, Gelassenheit und Glück. Abenteuerlust und Neugier. Ein erwartungsvolles Vertrauen in die Zukunft.
Weil er da ist, dachte sie verwundert, nur weil er da ist, verändert sich alles.
Es war fast sechs Uhr am Abend, als sie feststellten, dass sie Hunger hatten.
»Und, ehrlich gesagt, auch Durst«, sagte Nathan und schwang seine Beine aus dem Bett, »außer dem Kaffee heute früh hatte ich nichts zu trinken.«
»Ich hatte nicht mal den«, meinte Virginia, »und bislang hat er mir auch nicht gefehlt.«
Sie zogen sich an, stiegen die steile Treppe hinunter und inspizierten die Speisekammer. Zum Glück gab es etliche Konserven, und es fanden sich auch einige Flaschen Wein. Sie stellten einen Weißwein kalt, dann machte sich Virginia an die Zubereitung des Essens, während Nathan Holz aus dem Garten holte und den Kamin im Wohnzimmer in Gang setzte. Virginia stand am Herd und blickte mit glänzenden Augen hinaus in den stürmischen Septemberabend, der ein unglaubliches Wechselspiel aus wolkenverhangener Düsternis und goldfarbenem Licht bot. Sie dachte auf einmal: Dies hier festhalten. Diese Stunden und Tage auf Skye. Zusammen mit diesem Mann. Nur ein bisschen noch, ein bisschen noch festhalten!
Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie mit diesen Gedanken instinktiv zum Ausdruck brachte, wie abgegrenzt von der Welt draußen sich ihr Glück auf der Insel abspielte. Was immer zwischen ihnen noch geschehen würde, es konnte nur mit Problemen behaftet sein.
Im Kamin brannte ein warmes, knisterndes Feuer, und jenseits der Fenster senkte sich langsam die Dunkelheit über das Land. Nur schattenhaft noch waren die Bäume am Ende des Gartens wahrnehmbar, die sich tief unter dem Sturm bogen. Virginia und Nathan saßen direkt vor den Flammen auf dem Fußboden, verzehrten ihre einfache Mahlzeit, die ihnen köstlicher vorkam als alles, was sie je gegessen hatten, tranken den Wein, sahen einander immer wieder an, verwundert und bezaubert. Nach all den Tagen und Nächten, die sie zusammen in Ferndale verbracht hatten und während derer sie nicht auf die Idee gekommen wären, einander zu berühren, waren sie fassungslos über die Intensität der Leidenschaft, mit der sie sich konfrontiert gesehen hatten, nachdem das Festland hinter ihnen geblieben war und sie das Gefühl gehabt hatten, plötzlich in eine andere Wirklichkeit geraten zu sein.
»Wir werden zurückmüssen«, sagte Virginia nach einer Weile. »Skye und dieses Haus hier, das wird nicht für ewig sein.«
»Ich weiß«, sagte Nathan.
Sie schüttelte den Kopf, nicht ablehnend, nur erstaunt. »Ich habe Frederic noch nie zuvor betrogen.«
»Kommt es dir wie ein Betrug vor?«
»Dir nicht?«
Er überlegte. »Es geschah so zwangsläufig. Wir hätten nichts dagegen tun können. Seit ich das Bild von dir gesehen hatte, du weißt, das alte Foto, das dich in Rom zeigt, wusste ich …«
»Was? Dass du mit mir schlafen wolltest?«
Er lachte. »Dass ich diese Frau wiederfinden wollte. Und jetzt ist sie da.«
Sie nahm einen weiteren Schluck Wein, schaute in die Flammen. »Was empfindest du, wenn du an Livia denkst?«
»Offen gestanden, habe ich bislang nicht an sie gedacht. Hast du etwa den ganzen Tag über an Frederic gedacht?« Er sah sie so entsetzt an, dass sie nun auch lachen musste. »Nein. Nein, wirklich nicht. Aber ich denke jetzt an ihn. Ich frage mich, was ich ihm sagen werde.«
»Am besten die Wahrheit.«
»Wirst du Livia die Wahrheit sagen?«
»Ja.«
»Was wirst du sagen?«
»Dass ich dich liebe. Dass ich sie nie geliebt habe.«
Sie schluckte. »Ich glaube, ich habe Frederic auch nie geliebt«, sagte sie leise. Sie seufzte tief. Was sie nun fühlte, dachte und auch aussprach, hatte er nicht verdient, das wusste sie. Dennoch war es die Wahrheit.
»Er war da, als ich einen Menschen brauchte. An einem sehr einsamen und traurigen Punkt meines Lebens war er da. Nach Tommis Tod und als Michael sozusagen bei Nacht und Nebel verschwunden war. Er war verständnisvoll, fürsorglich. Er liebte mich. Er gab mir Wärme und Geborgenheit. Er war wie ein Hafen, in den ich flüchten konnte. Aber ich liebte ihn nicht. Und deshalb wohl konnte ich auch nicht wirklich aus der Starre auftauchen, in die mich Tommis Tod gestürzt hatte. Ich war immer noch einsam, nur spürte ich es nicht mehr so stark.« Sie sah Nathan an. »Glaubst du, dass das so ist? Dass wir an der Seite eines Menschen, den wir nicht lieben, einsam bleiben?«
»Zumindest dann, wenn wir vorher schon einsam waren, ja. Etwas Wichtiges in uns wird dann nicht berührt. Wir sind nicht mehr allein, aber wir sind einsam.«
»Ich war wie tot vor Einsamkeit«, sagte Virginia, »es wurde erst nach Kims Geburt etwas besser. Aber sie ist ein Kind. Sie konnte mir nie ein Partner sein.«
Zärtlich strich er ihr mit dem Finger über die Wange. Sie hatte in den letzten Stunden gemerkt, wie sehr sie die Sanftheit seiner großen, kräftigen Hände liebte.
»Aber jetzt bin ich da«, flüsterte er. Vorsichtig schob er die Gläser beiseite, drängte Virginia langsam mit seinem Gewicht zu Boden. Sie seufzte voller Behagen und Verlangen. Sie begannen einander im warmen Schein der tanzenden Flammen zu lieben, während es draußen Nacht über den Inseln wurde.