Montag, 4. September
1
Noch zwei Wochen bis zu meinem Geburtstag, dachte Janie bedrückt.
Genau genommen war es sogar schon wieder ein Tag weniger. Am übernächsten Sonntag war es so weit. Und sie wusste immer noch nicht genau, wie das Ereignis gefeiert werden würde.
Heute war Montag, und somit bestand wieder die Chance, den netten Mann in dem Schreibwarengeschäft zu treffen. Obwohl es ja wirklich so aussah, als habe er ihre Verabredung vergessen. Oder er war ernsthaft sauer, weil sie damals nicht gekommen war. Sie hätte ihm so gern erklärt, dass es nicht ihre Schuld gewesen war, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, aber womöglich würde er ihr gar keine Gelegenheit dazu geben.
Janie seufzte. Sie streifte die Bettdecke zurück, schwang die Füße auf den Boden. Sie tappte zu ihrem Schreibtisch, zog die Schublade auf und kramte ganz vorsichtig die fünf Einladungskarten heraus, die sie noch immer weit hinten versteckt hielt. Sie hatte sie inzwischen so oft in die Hand genommen und angesehen, dass eine von ihnen bereits an einer Ecke eingeknickt war. Sie versuchte die Delle zu glätten. Wie schön, ach, wie schön wäre es, wenn sie sie bald beschriften und in ihrer Klasse verteilen könnte!
»Janie!« Von draußen vernahm sie die Stimme ihrer Mutter. »Erster Schultag! Du musst aufstehen!«
»Ich bin schon wach, Mum!«, rief Janie zurück.
Doris Brown öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. »Die Zeit des Trödelns ist vorbei! Beeil dich! Das Bad ist frei!«
»Okay!« Janie versuchte, die Karten unauffällig in die Schublade zurückzuschieben, und erregte damit erst recht den Argwohn ihrer Mutter.
»Was hast du denn da?« Doris war mit zwei Schritten neben ihr und nahm ihr die Karten aus der Hand. Überrascht betrachtete sie die Inschrift.
»Ich dachte eigentlich«, sagte sie dann, »dass ich mich klar ausgedrückt hätte? Es wird keine Party geben!«
»Ich weiß. Aber …«
»Das Geld hättest du dir sparen können.« Doris gab ihrer Tochter die Karten zurück. »Du musst nicht glauben, dass ich meine Meinung noch ändern werde!«
Wenn Janie gelernt hatte, etwas nicht zu glauben, dann dies. Doris war noch nie von einer einmal gefassten Entscheidung abgewichen.
»Ich habe …«, begann sie und hielt dann inne … einen ganz netten Mann kennengelernt, hatte sie gerade sagen wollen. Aber sie war nicht sicher, ob das klug wäre. Vielleicht wurde Mum wütend und verbot ihr von vornherein den Umgang mit ihrem Bekannten. Eigentlich aber war es eine Gelegenheit, Mum in ihre Pläne einzuweihen.
Mum, mach dir keine Gedanken wegen der Party, hätte sie gern gesagt, du musst dich um gar nichts kümmern! Stell dir vor, ich kenne jemanden, der will das alles für mich machen. Er hat ein schönes Haus mit einem großen Garten, in den ich so viele Kinder einladen kann, wie ich nur will. Bei schlechtem Wetter können wir in seinem Keller feiern. Er hat schon viele Kindergeburtstage veranstaltet. Das Schlimme ist nur, ich finde ihn nicht mehr. Wir haben einen Treffpunkt ausgemacht, an dem wir uns an dem Samstag treffen wollten, an dem du krank wurdest und ich daheim bleiben musste. Er sagt, er kommt jeden Montag dorthin, aber ich habe ihn nicht mehr dort gesehen. Heute will ich wieder versuchen, ihn zu treffen. Vielleicht könntest du mir helfen. Vielleicht hast du eine Idee, was ich machen könnte, um ihn zu finden?
»Ja?«, fragte Doris. »Du hast …?«
»Ich habe …« Janie schloss die Augen. Sie hätte sich ihrer Mutter so gern anvertraut. Das Schlimme war nur, dass Doris Brown so unberechenbar war. Es konnte entsetzlich schief gehen, wenn man sich ihr öffnete.
»Nichts«, sagte sie, »ich wollte eigentlich gar nichts sagen.«
Doris schüttelte den Kopf. »Manchmal kommst du mir ganz schön wirr vor. Also, los jetzt. Beeil dich. Du musst nicht gleich am ersten Tag zu spät zur Schule kommen!«
2
»Wann kommt Mummie wieder?«, fragte Kim. Sie war quengelig an diesem Morgen, und ihre Augen glänzten ein wenig. Grace, die sich nur krächzend verständigen konnte und vor Kopfschmerzen meinte, jeden Moment rasend zu werden, legte dem Kind besorgt die Hand auf die Stirn.
»Fieber hast du nicht«, stellte sie fest, »ich fürchte ja, du wirst dich bei mir anstecken!«
»Ich mag nicht zur Schule gehen«, maulte Kim.
»Aber da bist du doch immer gern hingegangen«, meinte Grace. »Denk nur an all die vielen netten Kinder, die du wiedersiehst! Die hast du doch sicher schon vermisst!«
»Nein«, sagte Kim störrisch. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Sie war müde. Sie mochte nicht in die Schule gehen, wo sie wieder stundenlang still sitzen und aufpassen musste. Sie vermisste ihre Mutter. Wieso war sie am ersten Schultag nicht da?
Grace nahm sich ein Taschentuch und schneuzte sich die Nase. Ihre Glieder schmerzten, und sie konnte kaum mehr schlucken. Sie hatte gehofft, nur eine leichte Erkältung zu haben, die sie mit viel Vitaminen und einem Kamilledampfbad schnell wieder wegbekommen würde, aber dies nun schien sich zu einer richtigen Grippe auszuwachsen. Es war ihr hundeelend. Hätte sie nicht die Verantwortung für Kim gehabt, sie wäre an diesem Tag gar nicht aufgestanden. Zu allem Überfluss hatte Jack schon ganz früh am Morgen zu einer zweitägigen Fahrt hinunter nach Plymouth aufbrechen müssen. Er fuhr einen Transport mit Styroporplatten, für den er schon vor Wochen zugesagt hatte. Beim Anblick seiner Frau allerdings hatte er überlegt, aus dem Geschäft auszusteigen. Grace hatte jedoch heftig widersprochen.
»Auf keinen Fall! Mr. Trickle ist immer so nett und verschafft dir diese Jobs. So schnell kann er niemanden als Ersatz linden. Du darfst ihn nicht enttäuschen!«
»Dir geht es aber ganz schön schlecht!« Jack war wütend geworden. »Es ist rücksichtslos, was Mrs. Quentin sich da leistet! Ich meine, Mr. Quentin kann nichts dafür, dass er nach London musste, dort ist sein Beruf, und da kann er nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Aber Mrs. Quentins Aufgaben sind nun einmal hier. Wie kann eine Mutter sich so benehmen? Verschwindet von heute auf morgen, und andere Menschen können zusehen, dass es ihrem Kind gut geht!«
»Sie wusste ja nicht, dass ich gerade jetzt krank werde«, beschwichtigte Grace, » und ich hatte ihr vorher gesagt, dass ich gern für Kim sorge und dass sie bei uns bleiben kann, so lange sie will.«
»Trotzdem ist das keine Art. Abgesehen von den Sorgen, die sie uns allen bereitet hat. Ich muss sagen, ich finde …«
»Psst! Ich will nicht, dass Kim dich hört!«
Jack hatte weiter vor sich hin gebrummt, aber am Ende hatte er sich überreden lassen, die Fahrt nach Plymouth wie geplant durchzuführen. Grace hatte ihm versprochen, sich sofort wieder ins Bett zu legen, wenn sie Kim zur Schule gebracht hatte. Etwas anderes wäre ihr auch gar nicht übrig geblieben. Sie glühte vor Fieber, und jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte.
Musste das jetzt sein?, dachte sie müde.
Sie hatte Jack, den Choleriker, nicht noch weiter auf die Palme treiben wollen und daher abgewiegelt, als er über Virginia Quentin zu wettern begann, aber in Wahrheit war sie auch wütend. Ganz schön wütend. Sie wusste nämlich mehr als ihr Mann. Sie hatte Kim ein wenig ausgefragt und herausbekommen, dass Virginia tagelang drüben mit einem fremden Mann unter einem Dach gelebt hatte. Während ihr Ehemann sich in London aufhielt. Und jetzt waren beide verschwunden.
Grace konnte eins und eins zusammenzählen. Der arme Mr. Quentin! Betrogen und hintergangen auf seinem eigenen Grund und Boden. Und nun auch noch im Stich gelassen, zusammen mit dem kleinen Kind.
Das hätte ich nicht von ihr gedacht, überlegte sie, ich glaube, ich habe sie immer ganz falsch eingeschätzt. Diese ruhige, sanfte Frau. Aber stille Wasser sind bekanntlich tief.
»Wann kommt denn nun meine Mummie zurück?«, bohrte Kim.
Grace seufzte. »Das weiß ich nicht genau.« Sie nieste und putzte sich zum hundertsten Mal an diesem Morgen die Nase. Ihre Augen brannten und tränten.
»Bist du denn nicht mehr gern bei mir?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Kim seufzte. »Doch. Aber …« Sie drehte ihre Tasse herum.
»Was?«, fragte Grace und nieste schon wieder. »Ich dachte, zum Schulanfang ist sie da«, erklärte Kim. Und nieste nun auch.
Schöne Bescherung, dachte Grace erschöpft.
Virginia Quentin war die Frau von Jacks Arbeitgeber, aber dennoch würde sie ihr ein paar unangenehme Wahrheiten mitten in ihr hübsches Gesicht sagen, sobald sie sie wiedersah.
Sollte das jemals der Fall sein. Grace war sich da keineswegs sicher. Aber das brauchte Kim zu diesem Zeitpunkt nicht zu erfahren. Das Kind musste nun erst einmal über die Hürde des ersten Schultags kommen. Dann konnte man weitersehen.
3
Der Mann stellte sich als Superintendent Baker vor und sagte, er leite eine Sonderkommission, die sich mit der Aufklärung der Verbrechen an Sarah Alby und Rachel Cunningham beschäftige. Liz saß in ihrem Zimmer und hatte einen Berg von Prospekten über spanische Städte und Dörfer um sich herum ausgebreitet. Sie mochte mit Baker nicht ins Wohnzimmer gehen, wo der Fernseher wie üblich dröhnte und es außerdem ziemlich durchdringend nach einer Mischung aus Schnaps und Schweiß stank. Betsy Alby verkam mit jedem Tag mehr, in Riesenschritten, wie es Liz schien. Oder war das auch vorher so gewesen, und sie hatte es bloß nicht richtig gemerkt? Sie war empfindlicher geworden seit Sarahs Tod, hatte feinere Antennen bekommen. Inzwischen meinte sie, ihre Mutter kaum noch eine Woche länger ertragen zu können.
Sie bat den Superintendent, auf ihrer Schlafcouch Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich auf einen alten Küchenschemel, den sie mit einem selbst genähten, farbenfrohen Bezug aufgepeppt hatte. Sie dachte in diesem Moment, dass sie keinesfalls für alle Zeiten Besucher auf diese Art empfangen wollte.
»Ich sehe, Sie planen einen Urlaub«, sagte Baker und wies auf die Prospekte.
Ob er das unpassend fand angesichts der Tragödie, die sie gerade erlitten hatte?
Sie schüttelte den Kopf. »Keinen Urlaub, nein. Ich … ich möchte England verlassen. Weg von allem, verstehen Sie?« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer, von wo man gerade einen Sprecher lautstark die Nachrichten des Tages verlesen hörte.
»Ich verstehe«, sagte Baker, »nach allem, was war, ist ein Neuanfang sicher eine gute Idee.«
»Ich möchte mir eine Gegend aussuchen, die mir gut gefällt. Und dann will ich dort in den Hotels fragen, ob sie jemanden brauchen können. Ich habe schon öfter als Kellnerin gejobbt, ich bin ganz gut darin. Na ja«, sie zuckte mit den Schultern, »wenigstens ist es dort wärmer als hier. Und vielleicht lerne ich ja auch mal jemand Nettes kennen.«
»Ich wünsche es Ihnen von Herzen«, sagte Baker. Er klang aufrichtig.
Dann räusperte er sich. »Miss Alby, weswegen ich komme … Es gibt da eine neue Information, den … den mutmaßlichen Mörder der kleinen Rachel Cunningham betreffend.« Kurz berichtete er von Julias Aussage, nach der Rachel mit dem Mann, der sie wahrscheinlich später missbraucht und getötet hatte, verabredet gewesen war.
»Sie hatte ihn einige Wochen zuvor kennen gelernt, fieberte der Begegnung mit ihm entgegen. Leider ist mit ihrer Beschreibung wenig anzufangen. Sie hatte ihrer Freundin lediglich erzählt, dieser Mann sähe ganz toll, wie aus einem Film aus.« Er seufzte. »Das hilft uns nicht wirklich.«
»Nein«, sagte Liz.
»Unsere Überlegung ist nun die, dass jener Mann vielleicht auch schon im Vorfeld an Ihre Tochter Sarah herangetreten ist. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um denselben Täter handelt, was wir vorläufig tun. Der Mann scheint eine gewisse Geschicklichkeit zu haben, Kindern Versprechungen zu machen, die diese alle Vorsicht vergessen lassen. Vielleicht hat Ihre Tochter irgendetwas in dieser Art erwähnt – etwas, dem Sie gar keine Bedeutung beimaßen, das aber unter diesen Umstanden in einem neuen Licht erscheint? Oder Sie haben sie mit jemandem zusammen gesehen? Kann das sein?« Er sah sie hoffnungsvoll an.
Die tappen völlig im Dunkeln, dachte Liz, die haben nicht die kleinste Spur. Die greifen nach jedem Strohhalm.
Sie überlegte. »Nein. Nein, ich habe niemanden in ihrer Nähe gesehen. Meine Tochter war ja auch erst vier Jahre alt. Sie lief nicht allein in der Gegend herum.«
»Sie könnte mal eine Weile unbeaufsichtigt auf einem Spielplatz …«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Liz empört. »Dass ich mein Kind ohne Aufsicht auf irgendwelchen Spielplätzen habe herumsitzen lassen?«
»Miss Alby, das wollte ich keinesfalls …«
»Ich weiß schon, das haben Sie ja zur Genüge aus meiner Nachbarschaft erfahren. Dass ich eine schlechte Mutter bin … war. Dass ich mich nicht genug gekümmert habe. Dass Sarah nicht genug geliebt wurde. Und da denken Sie nun …«
»Bitte, Miss Alby!« Baker hob beschwichtigend beide Hände. »Nehmen Sie nicht alles persönlich und versuchen Sie zu verstehen, dass ich hier nur meinen Job mache. Wobei ich wirklich zutiefst daran interessiert bin, den Kerl hinter Gitter zu bringen, der zwei kleine Kinder auf dem Gewissen hat und vielleicht schon hinter dem nächsten Opfer her ist. Ich versuche, Möglichkeiten zu konstruieren, bei denen er auf Ihre Tochter aufmerksam werden und mit ihr in Kontakt treten konnte. Das ist alles.«
Sie atmete tief. Er hatte Recht. Er hatte sie nicht angegriffen. Er versuchte, ein Monster zu fassen. Er konnte nicht ständig darüber nachdenken, wem er mit welcher Frage vielleicht zu nahe trat.
»Sie hat mir nichts erzählt. Daran würde ich mich erinnern. Und ich habe sie nie mit einem Fremden gesehen. Vielleicht … dass sich im Kindergarten mal jemand an sie herangemacht hat? Aber dort passt man sehr auf …« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Wir werden selbstverständlich mit den Betreuern im Kindergarten auch noch einmal sprechen«, sagte Baker. Er sah müde aus. Liz konnte spüren, dass ihm der Fall wirklich an die Nieren ging.
»Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
Er nickte. »Zwei Jungs. Acht und fünf Jahre alt.«
»Jungs sind nicht so gefährdet«, sagte Liz.
»Leider doch«, widersprach Baker, »leider machen sich die Pädophilen auch an Jungen heran. Kein Kind ist vor ihnen sicher.«
»Schaffen Sie oder Ihre Frau es immer, auf Ihre Kinder aufzupassen?«
»Nein. Natürlich nicht. Vor allem der Große ist stundenlang mit seinem Fahrrad unterwegs. Meist zusammen mit Freunden, aber wenn die sich unterwegs trennen, würden wir es nicht mitbekommen. Man kann seine Kinder nicht an die Leine legen. Man kann sie nicht rund um die Uhr bewachen. Man kann nur versuchen, ihnen mit aller Klarheit einzuschärfen, dass sie Fremden nicht vertrauen dürfen. Nie in fremde Autos steigen. Nie mit jemandem mitgehen. Den Eltern sofort Bescheid sagen, wenn jemand sie anspricht, den sie nicht kennen. Aber«, er schüttelte resigniert den Kopf, »all das hatten Mr. und Mrs. Cunningham ihrer kleinen Rachel auch immer wieder erklärt. Sie war ein verständiges, vernünftiges Mädchen. Dennoch fand sie das, was der Fremde ihr anbot, so verlockend, dass sie alles vergaß, was sie gelernt hatte.«
»Scheiße«, sagte Liz.
»Ja«, stimmte Baker zu, »das kann man wohl sagen.« Er überlegte. »Gab es etwas, womit Ihre Tochter zu locken war? Wofür sie bereit gewesen wäre, mit jedem mitzugehen?«
Der schwere Stein sank wieder auf Liz' Brust. Ihre Augen irrten unwillkürlich zu den Prospekten, die heißes spanisches Land unter strahlend blauem Himmel zeigten. Würde sie es dort vergessen können? Würde sie es je vergessen können?
»Das Karussell«, sagte sie.
Baker neigte sich vor. »Das Karussell?«
»Ja. Das Karussell, das in New Hunstanton steht. Nur ein paar Schritte von der Bushaltestelle entfernt. Das hatte es ihr angetan.«
»Ich kenne das Karussell. Ist sie öfter damit gefahren?«
Liz nickte. »Eigentlich immer, wenn wir zum Baden nach Hunstanton fuhren. Sie fieberte förmlich darauf hin. Nur …« Sie stockte.
»Ja?«, fragte Baker behutsam.
»Es … es war immer so schwer, sie von dort loszueisen«, sagte Liz leise, »verstehen Sie, sie mochte dann nicht mehr aufhören. Sie schrie und heulte, wenn ich sagte, dass jetzt Schluss ist. Oft wehrte sie sich mit Händen und Füßen dagegen, wenn ich weiterwollte.«
Er lächelte. »So sind sie nun mal. Das ist normal.«
Liz schluckte. »Ich … ich hasste diese Auftritte. Und deshalb …«
»Ja?«
»An dem Tag, an dem … es geschah, ließ ich sie gar nicht erst mit dem Karussell fahren. Ich sagte gleich nein. Ich … ich …«
»Was denn?«
Die Tränen würgten sie im Hals. »Ich hatte einfach keine Lust, in der heißen Sonne zu stehen und diesem blöden Karussell zuzusehen«, sagte Liz verzweifelt. »Verstehen Sie, ich war einfach zu faul. Ich hatte keine Lust, mir hinterher ihr Geschrei anzuhören. Ich wollte schnell einen schönen Platz für uns suchen. Mich hinlegen. Meine Ruhe haben. Ich …« Sie konnte nicht weitersprechen. Sie wäre sonst in Tränen ausgebrochen.
»Aber das ist doch verständlich«, sagte Superintendent Baker mit ruhiger Stimme. Er wirkte überzeugend. Voll Dankbarkeit registrierte Liz, dass er sie wohl nicht nur zu trösten versuchte, sondern dass er wirklich meinte, was er sagte.
»Machen Sie sich nicht so verrückt«, bat er. »Jeder Vater, jede Mutter hat den Kindern schon Wünsche abgeschlagen. Und nur allzu häufig aus sogenannten egoistischen Gründen. Weil man gerade keine Lust hatte. Weil einem alles zu viel wurde. Weil man mit seinen Gedanken woanders war. Weil irgendetwas anderes wichtiger oder dringender war. Das ist doch in Ordnung. Wir werden doch nicht Eltern und geben damit gleichzeitig alles an der Garderobe ab, was uns zu ganz normalen Menschen macht. Unsere Bequemlichkeit, unseren Eigennutz, unsere kleinlichen Bedürfnisse. Unsere Unzulänglichkeit eben. Die bleibt uns. Das ist normal.«
Sie atmete tief. Sie war nicht wirklich getröstet, aber es war, als lege sich ein erster feiner Balsamfilm über ihre wunde Seele. Sie konnte weitersprechen.
»Sie war furchtbar enttäuscht. Sie weinte heftig, stemmte die Füße in den Boden, wollte nicht an dem Karussell vorbeigehen. Ich … zerrte sie vorwärts. Ich war so wütend auf sie! Wütend, dass … ich sie hatte mitnehmen müssen. Wütend, dass sie ...«
»Dass sie …?«
Liz schluckte. »Dass sie überhaupt da war«, sagte sie fast tonlos.
Baker schwieg. Ganz kurz hatte Liz den Eindruck, dass er ihre Hand nehmen wollte, aber er tat es dann doch nicht. Sie saßen beieinander, aus dem Nebenzimmer dröhnte der Fernseher, der kleine Wecker auf Liz' Nachttisch tickte. Die Prospekte leuchteten in schrillem Blau und Gelb, plötzlich unpassend und aufdringlich. Es gab nichts weiter zu sagen, das wusste Liz. Die Menschen konnten mit ihr über das Karussell reden, ihre Versäumnisse relativieren und zurechtrücken. Aber niemand konnte ihr die Schuld nehmen, die sie auf sich geladen hatte, indem sie ihre Tochter zutiefst ablehnte. Indem sie sie nie, zu keinem Moment, als ein Geschenk, sondern immer nur als eine große Last begriffen hatte. Und irgendwie hing das alles zusammen. Liz hatte eine undeutliche Ahnung, dass sie sich wegen der ausgeschlagenen Karussellrundfahrt nicht so entsetzlich grämen würde, wäre sie ihrem Kind eine liebevolle und fürsorgliche Mutter gewesen. Das Karussell stand für alles, was zwischen ihr und Sarah nicht in Ordnung gewesen war.
Baker schließlich brach das Schweigen. Er hatte einen Job zu erledigen. Er musste vorwärts denken.
»Sie sagen, dass Sarah sehr heftig auf die Nichterfüllung ihres Wunsches nach einer Karussellfahrt reagiert hatte. War das auch für andere sichtbar?«
Seine Sachlichkeit half Liz, aus dem sie umfangenden Schmerz aufzutauchen und ihre Sprache wiederzufinden. »Ja, natürlich. Sie kämpfte ja regelrecht gegen mich. Ich musste sie etliche Meter mitschleifen.«
»Könnte es auch sein, dass jemand mitbekommen hat, worum es bei dieser Auseinandersetzung ging?«
Liz überlegte. »Ich glaube schon. Sie brüllte ja ziemlich laut, dass sie zu dem Karussell wollte, und ich brüllte schließlich ebenfalls ziemlich laut, dass das nicht in Frage kommt. Umstehende können das durchaus gehört haben.«
»Es wäre also denkbar«, meinte Baker, »dass jemand Zeuge des Konflikts wurde, Ihnen beiden dann gefolgt ist und bei sich bietender Gelegenheit – als Sie weggegangen waren, um die Sandwiches zu kaufen – die Kleine angesprochen und ihr eine Karussellfahrt angeboten hat. Ich vermute, Sarah wäre problemlos mit ihm mitgegangen?«
»Ganz sicher«, sagte Liz zutiefst überzeugt, »für eine Karussellfahrt wäre sie mit jedem gegangen. Ohne das geringste Zögern.«
»Hm«, machte Baker.
»Aber«, fuhr Liz fort, »woher sollte dieser Mensch denn wissen, dass er Sarah allein antreffen würde? Er konnte ja nicht ahnen, dass ich … dass ich sie so lange allein lassen würde.«
»Das konnte er natürlich nicht wissen. Aber diese Typen warten einfach auf eine Chance. Der Strand war sehr voll. Durchaus denkbar, dass sich eine Mutter und ihr Kind inmitten eines solchen Gedränges für ein paar Momente aus den Augen verlieren. Oder die Mutter schläft ein, das Kind spielt in einiger Entfernung … Ihm war wahrscheinlich klar, dass es blitzschnell gehen würde, dass Sarah sofort mitkommen und er mit ihr in der Menge verschwinden konnte. Er hat's einfach versucht. Und tatsächlich bot sich ihm dann ja auch die Chance.«
»Diese vierzig Minuten!«, rief Liz verzweifelt. »Diese furchtbaren vierzig Minuten! Ich …«
»Quälen Sie sich nicht so«, sagte Baker. »Es ist kein Trost für das, was passiert ist, aber vielleicht mindert es ein wenig Ihre Selbstvorwürfe, wenn ich Ihnen sage, dass er es auch so mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit geschafft hätte. Wenn der Ablauf so war, wie ich glaube, dann hatte er Ihre Tochter ins Visier genommen. Und es ist davon auszugehen, dass sich ihm irgendeine Möglichkeit geboten hätte. Bestimmt sind Sie für eine Weile weggedämmert. Mir geht das jedenfalls immer so, wenn ich in der Sonne liege.«
Aber seine Kinder waren noch am Leben. Diesmal hatte Liz nicht das Gefühl, dass er aufrichtig war. Diesmal versuchte er sie zu trösten. Es gab Menschen, die ließen ihr vierjähriges Kind eben keinen Moment aus den Augen. Denen passierte so etwas nicht. Aber ihr war es passiert. Wegen ihres Leichtsinns, ihres Überdrusses, ihres Lebenshungers.
»Sie können sich nicht vielleicht erinnern, ob im Bus jemand saß, der Sie öfter angeschaut hat?«, fragte Baker. »Und der auch danach in Ihrer Nähe stand? Oder jemand, der an der Bushaltestelle war und den Sie irgendwann später in der Nähe Ihres Liegeplatzes noch einmal sahen? Ohne dass es Ihnen in diesem Moment seltsam vorgekommen wäre? Aber vielleicht im Nachhinein …?« Er sah sie hoffnungsvoll an.
Sie zerbrach sich den Kopf, aber da war völlige Leere. Wenn sie an jenen furchtbaren Tag dachte, dann sah sie nur sich. Und ihre kleine Tochter. Und hörte die Musik aus dem sich drehenden Karussell. Alles andere war ein Meer aus Gesichtern, Stimmen, Körpern. Eine unüberschaubare Masse von Menschen. Sie schaffte es nicht, jemanden herauszukristallisieren.
»Nein«, sagte sie, »ich kann mich nicht erinnern. Mir ist niemand aufgefallen. Schon im Bus war ich so in meine Gedanken vertieft. Ich glaube, mich hätte jemand eine Stunde lang anstarren können, ich hätte es nicht bemerkt. Und auch später … nein, da ist nichts. Absolut nichts.«
Baker war sichtlich enttäuscht. Er erhob sich. »Nun gut«, sagte er, »ich gebe Ihnen hier meine Karte. Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich bitte gleich an. Egal, wie nichtig Ihnen vielleicht ein Gedanke vorkommt, haben Sie bitte keine Hemmungen. Alles kann wichtig sein. Wirklich alles.« Er reichte ihr seine Karte.
Jeffrey Baker, las Liz. Sie mochte ihn. Er hatte sie gut behandelt. Er war der erste Beamte, bei dem sie keine Verachtung gespürt hatte. Der erste, der ihr nichts vorwarf. Der erste, der nicht durchblicken ließ, was er von ihrem Verhalten als Mutter hielt: nämlich gar nichts.
»Ich melde mich«, versprach sie.
Sie folgte ihm durch den kurzen Flur zur Wohnungstür. Durch die geöffnete Wohnzimmertür konnte man Betsys aufgedunsenen Körper im Sessel sehen. Inzwischen plärrten die Teilnehmer irgendeiner Vormittagstalkshow ihre peinlichen Offenbarungen ins Publikum.
An der Tür drehte sich Baker um.
Er lächelte sie an. »Das mit Spanien«, sagte er, »also, das mit Spanien, das finde ich eine sehr gute Idee.«
4
Er hatte auf der ganzen Fahrt noch fast kein Wort gesprochen. Am Vorabend hatte sich die Stimmung wieder entspannt; sie hatten dann doch eine Konserve aufgemacht, Kerzen angezündet und Musik gehört. Aber sie hatten nicht mehr miteinander geschlafen. Beide waren sie nicht mehr in der Stimmung dazu gewesen.
Morgens waren sie schon um sechs Uhr aufgebrochen, nachdem sie jeder eine Tasse Tee getrunken, aber ansonsten vor lauter Müdigkeit nichts zu sich genommen hatten. Virginia hatte Nathans Schweigen auf die frühe Tageszeit geschoben, darauf, dass er noch unausgeschlafen und nicht ganz wach war. Aber dann fuhren sie Meile um Meile, erst durch die Dunkelheit, dann in den erwachenden Morgen hinein, der sich jedoch grau und wolkenverhangen präsentierte und ihnen nicht mit dem kleinsten Sonnenstrahl entgegenkam. Und Nathan sagte immer noch nichts. Sie musterte ihn von der Seite, sein gut geschnittenes Profil, und sie hätte weinen mögen bei dem Gedanken an das Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, das sie noch vor wenigen Tagen erfüllt hatte, als sie die Fahrt in die umgekehrte Richtung antraten. Als die Landschaft immer weiter und offener und menschenleerer wurde und der Abstand zu Frederic immer größer. Jetzt fuhren sie in den dichter besiedelten Teil Englands hinein und wieder dorthin, wo die Probleme und Sorgen waren. Und noch dazu sprach er kein Wort. Bald würden sie die von Industriebauten durchsetzte Gegend um Leeds erreichen. Sie dachte an Dunvegan und an den vom Sturm leer gefegten, hohen, blauen Himmel vom Vortag und musste schlucken.
Wir bringen jetzt unsere Vergangenheit in Ordnung, dachte sie, und von da an wird alles besser werden.
Auf der Höhe von Carlisle hielt sie es nicht mehr aus.
»Nathan, was ist los? Du hast fast nichts gesprochen, seit wir losgefahren sind. Liegt es an mir? Hast du irgendein Problem mit mir?«
Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Ich habe kein Problem mit dir«, sagte er.
»Was ist es dann? Du fährst ungern nach Norfolk zurück, das kann ich verstehen, aber …«
Er antwortete nicht sofort, erhöhte das Tempo des Wagens und steuerte gleich darauf auf einen Rastplatz, der bereits seit einer Weile immer wieder angekündigt worden war. Er hielt vor dem Gebäude, in dem man die Tankrechnung bezahlen und Kleinigkeiten kaufen konnte.
»Ich brauche einen Kaffee«, sagte er, nahm ein paar Münzen, die in der Ablage lagen, und stieg aus.
Fünf Minuten später erschien er mit zwei großen Deckelbechern aus Styropor. »Komm, wir setzen uns irgendwohin«, schlug er vor, und Virginia hatte plötzlich den Eindruck, dass er die Enge des Autos, das Eingesperrtsein nicht mehr ertrug.
Zum Glück regnete es nicht, und es war auch nicht allzu kalt. Sie setzten sich an einen Picknicktisch, der sich gleich neben einem kleinen Kinderspielplatz befand, und hielten ihre heißen Kaffeebecher umklammert.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Nathan.
Virginia meinte für einen Moment, ihr Herz setze ein paar Schläge aus.
»Und?«, fragte sie beklommen.
Er sah sie an. Sein Blick war weich. »Es ist nicht einfach, dir meine Situation der letzten Jahre zu schildern«, sagte er, »aber wir haben einander Ehrlichkeit versprochen, und ich möchte die Dinge so formulieren, dass du wirklich begreifst, wie sie zusammenhängen.«
Sie atmete tief. Sie hatte geglaubt, er wolle die kaum begonnene Beziehung aufkündigen. Wegen Frederic. Wegen Livia.
Wegen all der unwägbaren Probleme, die auf sie zukommen würden.
»Es stimmt, nicht wahr?«, fragte sie. »Du hast noch nie ein Buch veröffentlicht?«
Er nickte. »Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass ich seit Jahren schreibe. Dass ich jedenfalls zu schreiben versuche.«
»Was hat daran nicht funktioniert?«
Er starrte an ihr vorbei in die schon in erstem Gelb getönten Blätter des dichten Buschwerks um den kleinen Spielplatz herum.
»Alles«, sagte er, »oder nichts. Wie man es nimmt. Nichts hat funktioniert.«
»Lag es an den Ideen? An der Umsetzung?« Sie überlegte, wollte etwas sagen, das ihm zeigte, wie sehr sie ihn verstand. Aber letztlich hatte sie keine Ahnung, wie ein Schriftsteller lebte und arbeitete und welche Probleme seinen Schaffensprozess begleiten konnten.
»Es lag wohl an der Umsetzung«, sagte er, »und dies wiederum hing mit dem Leben zusammen, das ich führte. Es war ein Leben, das ich als tödlich empfand – als eng, eingeschränkt, lähmend. Manchmal glaubte ich, keine Luft zu bekommen, dachte, ich müsste buchstäblich ersticken. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, starrte auf den Bildschirm meines Computers und fühlte nichts als Leere in mir. Es war gnadenlos. Es war entsetzlich.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Virginia. Sie konnte es wirklich verstehen. Zögernd streckte sie die Hand aus, berührte sacht seinen Arm.
»Was war so lähmend? Was hat dich erstickt?«
Er lehnte sich zurück. Plötzlich sah er müde aus und grau unter seiner Sonnenbräune. Grau wie der Himmel über ihnen, welk wie das Laub, das regennass und schwer an den Ästen hing. Sie hatte ihn immer stark und strahlend, sehr selbstbewusst und zuversichtlich erlebt. Auf einmal erblickte sie eine andere Seite. Die Seite, die gelitten hatte. Die Seite, die er offenbar perfekt zu verbergen gelernt hatte. Seine Verletzlichkeit rührte sie, und sie hätte ihm das gern gesagt, doch ein Instinkt hielt sie zurück. Sie ahnte, dass er derlei Worte von ihr nicht hören wollte.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte er.
5
»Stell dir eine Kleinstadt in Deutschland vor. Die kleinste, spießigste, provinziellste Kleinstadt, die du dir ausmalen kannst. Jeder kennt jeden. Jedem ist es ganz wichtig, was die anderen von ihm denken. Man schaut ganz genau, wer den Gehsteig vor seinem Haus nicht ordentlich fegt oder seine Gardinen nicht regelmäßig wäscht. Oder die Büsche am Gartenzaun nicht ordentlich zurückschneidet! Zu weit herauswuchernde Zweige können dazu führen, dass eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen wird.
Leider ist es nicht übertrieben, was ich erzähle.
Ich lernte Livia an der Uni kennen. Heute – ganz ehrlich – frage ich mich, weshalb ich mich in sie verliebt habe. Ich glaube, etwas an ihrer stillen, verschlossenen Art reizte mich. Ich witterte etwas dahinter, das ich gern entdecken wollte. Sehr spät erst merkte ich, dass da gar nichts war. Oder vielleicht war ich einfach nicht geeignet, es zu entdecken. Das mag natürlich sein.
Auf jeden Fall wurden wir ein Paar. Ich jobbte für die Hochschulzeitung, veröffentlichte regelmäßig Artikel. Die Idee zu einem großen Roman spukte aber bereits ständig in meinem Kopf herum. Meine Vorstellungen waren vage, noch schwer formulierbar. Aber ich wusste, da ist etwas, und es drängt hinaus. Ich fragte Livia, ob sie es sich vorstellen könnte, mit einem Schriftsteller verheiratet zu sein. Sie freute sich über den Heiratsantrag, der sich ja mit meiner Frage verband. Dass das Leben mit einem Schriftsteller schwierig sein könnte – darüber hat sie, glaube ich, in diesem Moment nicht so genau nachgedacht.
An den Wochenenden zog es mich regelmäßig ans Meer. Nicht, dass ich ein eigenes Boot gehabt hätte, aber die Eltern eines Kommilitonen besaßen eines, und wir durften damit segeln. Ich machte meinen Segelschein, entdeckte meine Leidenschaft für das Wasser. Die Weite der Meere stellte eine ungeheure Faszination für mich dar. Ich glaube, damals wurde der Gedanke geboren, irgendwann einmal zu einer Weltumsegelung aufzubrechen. Später natürlich, viel später. Livia war davon nicht sehr begeistert. Ich nahm sie ein paar Mal mit auf das Schiff, aber sie konnte sich nicht recht für das Segeln erwärmen. Livia hatte schon immer ziemliche Angst vor dem Wasser.
Alle paar Wochen besuchten wir ihre Eltern, meine künftigen Schwiegereltern. In jener entsetzlichen Kleinstadt. Ich fuhr nicht gern dorthin, aber da es nicht allzu häufig geschah, war es okay. Immerhin kochte Livias Mutter sehr gut. Sie war nett, aber total angepasst an das Leben dort und völlig unterwürfig ihrem Mann gegenüber. Der saß nach einem Schlaganfall, den er in relativ jungen Jahren erlitten hatte, im Rollstuhl, war rundum pflegebedürftig, hing eigentlich völlig von der Gnade seiner Frau ab und schaffte es trotzdem, sie von morgens bis abends zu schikanieren und mit seinen bösen Launen und gehässigen Bemerkungen regelmäßig zum Weinen zu bringen. Er war unbeschreiblich geizig, obwohl er eine sehr gute Pension bekam. Beispielsweise durfte keine Putzfrau eingestellt werden, und seine gesundheitlich ebenfalls angeschlagene Frau musste das riesige, unpraktische Haus ganz allein in Ordnung halten. Im Winter froren wir alle, weil er verbot, die Heizungen ausreichend aufzudrehen. Er weigerte sich, Reparaturen an dem alten Kasten vornehmen zu lassen und zu bezahlen. Es zog wie verrückt durch die Fenster. Für ihn war das sicher auch ungemütlich, aber er hielt es aus, weil es ihn so tief befriedigte, uns leiden zu sehen. Meiner Meinung nach hasste er uns, weil wir nicht auch im Rollstuhl saßen. Wenn wir uns schon normal bewegen konnten, dann wollte er uns wenigstens das Leben schwer machen, wo er nur konnte.
Ich beendete mein Studium, wir legten unseren Hochzeitstermin fest. Ich begann erste Notizen für meinen geplanten Roman zu machen. Nebenher jobbte ich hier und dort. Ich freute mich auf die Arbeit. Ein paar Figuren nahmen schon Gestalt an. Es drängte mich, anfangen zu können. Es war wie ein langer, langer Geburtsvorgang, den ich jedoch nicht als schmerzhaft, sondern als schön empfand.
Dann passierte die Katastrophe.
Knapp drei Wochen vor unserer Hochzeit starb Livias Mutter. Ohne jede Vorwarnung, von einer Minute auf die andere. Ein Herzinfarkt. Livias Vater rief an, um es uns mitzuteilen. Er erreichte mich, und selbst in diesem tragischen Moment hatte ich den Eindruck, dass es ihn mit einer gewissen Befriedigung erfüllte, dass sie zuerst gestorben war. Dass er, der Krüppel, nun länger durchhalten würde.
Klar, dass Livia gleich zu ihm reiste und sich um ihn kümmerte, der Alte konnte ohne fremde Hilfe ja nicht mal auf die Toilette. Er konnte sich kein Spiegelei braten, und angeblich bekam er mit seinen verkrüppelten Händen auch nicht die Kühlschranktür auf, um sich einen Joghurt herauszuholen. Für die kleinste Kleinigkeit brauchte er eine Bedienstete. Livia war vom ersten Moment an praktisch rund um die Uhr im Einsatz.
In den Wochen vor der Hochzeit sah ich sie nun gar nicht mehr. Ich reiste dann hinterher, wir heirateten standesamtlich mit zwei Nachbarn als Trauzeugen. Wir konnten danach nicht einmal essen gehen, weil Livia schnell wieder nach Hause zu dem bedauernswerten Pflegefall musste.
Mir war klar, dass sie nicht Knall auf Fall mit mir wieder abreisen konnte, aber ich dachte doch, dass wir nun gemeinsam ein geeignetes Pflegeheim suchen, den Alten dorthin schaffen, das Haus verkaufen oder vermieten würden. Tatsächlich führte Livia auch einige Telefonate mit Heimen, ließ sich Prospekte zuschicken, sah sich eines der Häuser auch persönlich an … aber irgendwie ging alles nicht voran, sie blieb in der Planung stecken, und irgendwann vertraute sie mir an, dass sich ihr Vater weigere, sein Haus zu verlassen, dass er auch nicht von einer fremden Person betreut werden wolle und dass sie, Livia, es nicht fertigbrächte, ihn gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen, wogegen er sich derart heftig sträube.
Das war's, dann. Damit waren im Prinzip die Würfel gefallen. Ich kapierte, dass Livia bleiben würde, dass sie ihre Rolle im Grunde schon akzeptiert hatte. Eigentlich war sie wie ihre Mutter. Das Wort eines Mannes ist ihr Befehl. Seltsam, dass es so etwas heute noch gibt, nicht? Aber vielleicht ist es nicht einmal so selten.
Ich wollte mich nicht gleich nach der Hochzeit von ihr trennen. Ich redete mir ein, es sei schließlich ganz gleich, wo ich meinen Roman schriebe. Und natürlich hatte ich vor, darauf hinzuwirken, dass wir letztlich doch eine andere Lösung finden würden. Länger als ein Jahr, dachte ich, sind wir keinesfalls hier.
Es wurden zwölf Jahre. Zwölf Jahre, die vielleicht sehr schwer erklärbar sind. Es gab immer wieder Vorstöße in Richtung Heim. Es gab immer wieder Termine, die wir uns setzten. Es gab aber auch immer wieder Gründe, geplante Schritte nicht zu tun. Wir warten bis nach Weibnachten. Wir warten noch seinen nächsten Geburtstag ab. Lass ihn den Sommer noch hier verleben. Lass ihn nicht gerade im Herbst in ein Heim ziehen, da ist alles so grau. Verstehst du? Wir lebten zwölf Jahre lang in der Erwartung, dass er jetzt gleich umsiedeln würde. Ich glaube, wir merkten kaum, dass es mit jedem Jahr unwahrscheinlicher wurde, dass er es wirklich tat.
Und ich lief durch diese kleine Stadt wie ein Tiger durch seinen Käfig. Zehn Schritte in die eine Richtung, zehn Schritte in die andere. Ich wusste, dass mich alle Welt für einen Schmarotzer hielt, während Livia als Heilige galt. Wenn ich mich in das einzige Cafe am Platz setzte, um Notizen zu machen, wurde ich von fettleibigen Hausfrauen angestarrt, die mit einem Kopftuch über ihren Lockenwicklern zum Brotkaufen kamen. Wollte ich abends allein sein und im örtlichen Gasthof zu Abend essen, tagte dort gleichzeitig der Schützenverein oder der Mütterverein. Irgendjemand sprach mich todsicher darauf an, dass unser Gehsteig nicht sauber gefegt war oder dass irgendein blöder Busch aus unserem Garten zum Nachbarn wucherte. Es wurde feindselig registriert, dass ich weder am samstäglichen Männerstammtisch teilnahm noch mich breitschlagen ließ, bei Straßenfesten Würstchen zu grillen oder das Sackhüpfen der Schulkinder zu moderieren. Eigentlich tat ich niemandem etwas. Aber ich war ein Individualist, und das galt dort als schlimmstes Verbrechen. Irgendwann hätte ich am liebsten dieses alte, hässliche Haus meines Schwiegervaters nicht mehr verlassen. Aber dann musste ich ständig in seine böse Fresse schauen, und das war auch unerträglich. Es gab keinen Ort, an dem ich mich gut fühlte. An dem ich Frieden empfunden hätte.
Es gab somit keinen Ort, an dem ich schreiben konnte.
Natürlich spielte ich immer wieder mit dem Gedanken, einfach abzuhauen. Oder Livia ein Ultimatum zu stellen. Ihr zu sagen, dass sie sich bis zu irgendeinem Termin entscheiden solle zu gehen, dass ich andernfalls allein gehen würde. Aber es blieb bei den Überlegungen. Denn letztlich wusste ich genau, wie das ausgehen würde: Sie würde nicht mit mir kommen. Sie würde bei ihrem Vater bleiben, weil sie nicht in der Lage wäre, sich dem Gefühl der Verpflichtung zu entziehen. Und ich würde dann irgendwo allein sitzen und von den Bildern verfolgt werden. Wie sie von ihm schikaniert wurde. Wie sie sich abhetzte und abmühte und dennoch nie seine Zustimmung errang. Und mit vielen Verrichtungen auch kräftemäßig völlig überfordert war.
Ob ich sie noch liebte, nachdem ein paar Jahre vergangen waren? Die Umstände bildeten nicht gerade einen guten Nährboden für das Gedeihen oder das Pflegen und Bewahren von Gefühlen. Ich war frustriert, oft wütend, hatte den Eindruck, geradewegs in eine Falle marschiert zu sein, aus der ich mich nicht mehr zu befreien vermochte. Es machte mich verrückt, kein eigenes Geld zu verdienen. Ich lebte von meinem Schwiegervater, was mir teilweise gerecht erschien, weil ich viele Arbeiten am Haus und im Garten verrichtete und auch zur Stelle war, wenn er zum Arzt gebracht werden musste oder eine Spazierfahrt unternehmen wollte. Aber es war nicht das Gleiche, als ginge ich einem Beruf nach und erhielte ein regelmäßiges Gehalt. Außerdem gab mir der Alte immer das Gefühl, mich auf seine Kosten durchzuschnorren.
Irgendwie, unwillkürlich, gab ich Livia die Schuld an der Misere. Vom Verstand her war mir klar, dass sie da auch in etwas hineingerutscht war, was sie nicht gewollt hatte, aber immer wieder kam mir auch die Überlegung, dass ich in dem ganzen Schlamassel nicht stecken würde, hätte ich sie niemals kennen gelernt. Und da war der Schritt nicht weit hin zu dem Gedanken: Wäre ich ihr doch nur nie begegnet …
Außerdem verlor ich immer mehr die Achtung vor ihr. Wer war sie? Eine immer grauer, dünner, blasser werdende, verhuschte Person, die sich von einem alten Mann tyrannisieren ließ. Ihre Unterwürfigkeit machte mich ganz rasend. Warum sagte sie ihrem Vater nicht einmal die Meinung? Brüllte ihn an? Machte ihm klar, wie jämmerlich er dran wäre, wenn sie sich plötzlich umdrehte und ginge?
Aber der Typ ist sie nicht. War sie nie, wird sie nie sein.
Und so saßen wir dort, und die Jahre vergingen, und schließlich, im letzten Jahr, lag der Alte eines Morgens tot in seinem Bett, und ich konnte es zunächst kaum fassen. Aber er war wirklich gegangen, und wir waren frei.
Ich weiß, dass Livia keine Lust hatte, auf diese Weltumsegelung zu gehen. Und vielleicht war es von mir nicht richtig, sie deswegen unter Druck zu setzen. Aber, verdammt, ich musste eine Chance haben, mich ganz und gar von den Ketten zu befreien! Ich konnte nicht einfach das Haus verkaufen, in eine andere Stadt ziehen, die furchtbaren Jahre abhaken und von vorn durchstarten, als wäre nichts gewesen. Ich musste alles hinter mir lassen. Mein Land, meine Bekannten, meine Bürgerlichkeit. Ich wollte auf einem Schiff durch die Wellen pflügen, über mir nur den Himmel, rund um mich nur das Wasser, ich wollte die salzige Gischt auf meinen Lippen schmecken und die Schreie der Möwen hören. Ich wollte andere Länder sehen, andere Menschen treffen.
Ich wollte endlich keine Gewichte mehr an meinen Füßen spüren.
Ich wollte mein Buch schreiben.
Es ist tragisch ausgegangen, wie du weißt. Ich kam bis Skye. Dann sank mein Schiff und damit alles, was ich hatte. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und besitze nichts mehr. Absolut nichts. Und die ganze Zeit frage ich mich: Ist das nicht die wirkliche, die große Freiheit? Nichts mehr zu verlieren zu haben, an nichts mehr zu hängen? Ist es die Freiheit, von der ich zwölf Jahre lang geträumt habe?
Oder bin ich in Wahrheit abhängiger und unfreier als je zuvor? Ein Gestrandeter, ein Gescheiterter? Man kann schöne Worte finden, um meine Situation zu beschreiben, und man kann schreckliche Worte finden. Vielleicht treffen beide nicht die ganze Wahrheit. Vielleicht ist diese Wahrheit sehr schillernd, widersprüchlich und vielschichtig. An guten Tagen denke ich, dass ich ein beneidenswerter Mann bin. An schlechten Tagen wünsche ich mir, ich könnte endlich aus diesem Albtraum erwachen.
Aber da ist noch etwas. Ich sage es am Ende, aber es ist sehr wichtig. Es rückt alle Dinge in ein anderes Licht.
Als ich vor Skye unterging, bist du in mein Leben getreten. Ich musste alles verlieren, um dir zu begegnen. Das ist das wirklich Besondere an meiner Situation. Es macht aus einem Schiffsunglück ein Wunder.
Ich habe dir gesagt, dass es gute und schlechte Tage für mich gibt.
Seit dem letzten Wochenende glaube ich, dass die schlechten vorbei sind.«
6
Um Viertel vor vier begriff Janie, dass der nette Mann schon wieder nicht kommen würde. Sie hatte sich nicht mehr in das Schreibwarengeschäft hineingetraut, aber sie hatte rasch durch die Scheiben geblinzelt und gesehen, dass der Laden leer war. Nur der Inhaber hing gelangweilt hinter seiner Theke herum, blätterte in einer Zeitschrift und gähnte ohne Unterlass.
Dann hatte sich Janie auf der anderen Straßenseite postiert, wo sich ein Maklerbüro befand. Im Schaufenster hingen die Fotos verschiedener Häuser in der Gegend, und Janie tat so, als studiere sie angelegentlich, was dort geschrieben stand, und betrachte staunend die bunten Bilder. Aus den Augenwinkeln konnte sie die Tür zum Schreibwarenladen beobachten. Sie war um Viertel vor drei da gewesen, und bis um Viertel vor vier waren nur drei Menschen hineingegangen und nach ziemlich kurzer Zeit wieder herausgekommen. Eine alte Dame, die sich beim Gehen auf einen Stock stützte. Ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren, in die sie gelbe Streifen eingefärbt hatte. Ein junger Mann in grauem Anzug mit roter Krawatte.
Das waren alle. Janies Freund war nicht dabei.
Es war zum Heulen. Er hatte es sich anders überlegt, ihn hatte ihre Unzuverlässigkeit geärgert. Vielleicht hatte er ein anderes kleines Mädchen kennen gelernt, dem er jetzt den Geburtstag ausrichtete. Einem, das nicht gleich bei der ersten Verabredung weggeblieben war.
Janie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war eine alte Uhr von Mum, sie hatte sie ihr im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt. Janie war stolz, sie zu besitzen.
Zehn nach vier. Sie konnte eigentlich nach Hause gehen.
Die Tür des Maklerbüros öffnete sich, und eine sehr elegante Dame im nachtblauen Hosenanzug schaute heraus.
»Na, junge Frau, möchten Sie ein Haus kaufen?«, fragte sie spöttisch. »Oder was ist so schrecklich interessant an unserem Schaufenster?«
Janie zuckte zusammen. »Ich … ich …«, stotterte sie, »ich finde die Bilder so schön.«
»Na ja, aber du schaust sie nun schon seit über einer Stunde an. Ich denke, langsam dürftest du sie auswendig kennen. Hast du kein Zuhause?«
Janie erschrak. Die Dame begann sich zu sehr für sie zu interessieren. Ob sie ihr ansah, dass sie gerade den Sportunterricht schwänzte?
Denn genau das tat Janie. Sie hätte sonst nicht rechtzeitig bei dem Schreibwarenladen sein können. Der Sportunterricht dauerte am Montag jetzt immer von drei bis fünf Uhr. Im letzten Schuljahr war das anders gewesen, da waren sie am Montag immer schon um halb drei fertig gewesen. Am Morgen hatte Janie gar nicht daran gedacht, dass sich das ändern könnte. Als der neue Stundenplan diktiert wurde, war sie blass geworden vor Entsetzen. Und hatte ziemlich schnell beschlossen, dass es im Augenblick wichtigere Dinge in ihrem Leben gab. Eine gute, zuverlässige Schülerin konnte sie später immer noch sein.
»Ich … gehe schon«, sagte sie hastig.
Die Dame sah sie eindringlich an. »Wenn es Probleme gibt … möchtest du, dass ich deine Mutter anrufe? Wenn du mir ihre Nummer …«
Um Gottes willen, das wäre das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
»Keine Probleme«, versicherte sie, »ich habe einfach die Zeit vergessen.«
Sie lächelte unsicher, überquerte dann die Straße, wobei sie den Schreibwarenladen fixierte. Es war die letzte Gelegenheit … Aber nichts rührte sich, niemand betrat das Geschäft oder kam heraus. Es war ein völlig ereignisloser Montag.
Und Janie wusste, dass sie den Rest des Tages damit verbringen würde, ihre Einladungskarten, deren Einsatz immer unwahrscheinlicher wurde, anzusehen und dabei mit den Tränen zu kämpfen. Und sie würde darüber nachdenken, wie viel Ärger ihr das heutige Schwänzen einbringen würde.
Bis Mum davon erfuhr, sollte sie sich eine richtig gute Erklärung überlegt haben.
7
Um fünf Uhr holte Grace Kim von der Schule ab, und sie tat es mit der letzten Kraft, die sie noch aufbringen konnte. Sie spürte, dass das Fieber gestiegen war, aber sie wagte nicht, die Temperatur zu messen, weil sie Angst hatte, dass das Ergebnis sie erschrecken und noch mehr lähmen würde. Gegen drei Uhr hatte Jack angerufen. Die Verbindung war schlecht gewesen; sie hatte das gleichmäßige Brummen des Motors ziemlich laut und seine Stimme eher leise gehört. »Wie geht's?«, hatte er gefragt.
Ihr taten die Zähne weh und alle Knochen, aber sie hatte behauptet: »Gut. Na ja … den Umständen entsprechend.«
»Du hörst dich aber nicht gut an.«
»Wirklich, es geht schon.«
»Ich hätte nicht fahren sollen.«
»Doch. Es war mir wichtig, dass du fährst.«
»Hat sich Madame gemeldet?« Grace wusste gleich, dass er Mrs. Quentin meinte. Das Wort Madame klang abfällig, und so hatte er sie auch noch nie bezeichnet. Bei ihm hatte sie wohl für alle Zeiten verspielt.
»Nein. Ich habe nichts von ihr gehört.«
Er murmelte etwas, das Grace geflissentlich überhörte. Nachdem er ihr aufgetragen hatte, sich zu schonen, beendeten sie das Gespräch, und Grace kroch in ihr Bett zurück. Ihr graute vor dem Moment, da sie aufstehen und sich auf den Weg zu Kims Schule machen musste. Ganz kurz spielte sie sogar mit dem Gedanken, sich an Livia Moor zu wenden, die offenbar für einige Zeit drüben im Haupthaus wohnte. Über ihre Anwesenheit hatte Frederic Grace informiert, aber wer genau sie war und weshalb sie hier Unterschlupf gesucht hatte, blieb ein wenig unklar. Grace hatte sich jedoch zusammengereimt, dass sie irgendetwas mit dem Mann zu tun hatte, mit dem Virginia Quentin durchgebrannt war. Ihr war das zu suspekt. Dieser Person hätte sie ihren kleinen Liebling nicht anvertraut.
Irgendwie schaffte sie es, mit dem Auto bis zur Schule und wieder zurück zu kommen. Kim erzählte ohne Punkt und Komma, aufgeregt und überdreht. Sie hatte zwei neue Mitschüler bekommen, neue Lehrer, ein neues Klassenzimmer. Ihre Traurigkeit vom frühen Morgen war verflogen. Grace fürchtete aber, dass sie am Abend wieder unglücklich sein würde. Alles das, was sie Grace erzählte, hätte sie zu gern auch ihrer Mummie berichtet.
Wenn ich nicht so krank wäre, würde ich mich richtig über sie ärgern, dachte Grace.
Daheim kochte sie einen Kakao für Kim und stellte ihr einen Teller mit Keksen hin, aber dann merkte sie, dass sie wieder ins Bett musste. Sie hatte weiche Knie und fror so, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Kim, mein Schatz«, sagte sie mühsam, »ich muss mich ein wenig hinlegen. Es tut mir leid, aber mir geht es gar nicht gut. Du kannst ein bisschen fernsehen, wenn du möchtest, ja?«
»Wir müssen meine neuen Bücher einbinden«, sagte Kim.
»Wir hätten Papier kaufen sollen«, stellte Grace schuldbewusst fest. »Wir werden das morgen tun, ja? Wenn dich morgen jemand schimpft, dann sagst du, dass ich so krank war, aber dass ich mich darum kümmern werde.«
Kim machte ein betrübtes Gesicht. Sie hätte gern die Bücher in schönes, neues Papier gewickelt, ihre Hefte beschriftet, ihre Stifte gespitzt. Das alles an Graces großem Küchentisch, gemütlich unter der hellen Lampe.
»Wann kommt Mummie?«, fragte sie.
Grace seufzte. »Ich weiß es nicht. Und nun, bitte, sei lieb. Ich brauche ein, zwei Stunden Schlaf, dann geht es mir besser.«
So würde es nicht sein, das wusste sie: Ihr stand eine schaurige Nacht bevor. Sie kroch in ihr Bett, rollte sich wie ein Embryo zusammen, zog ihre Knie bis fast ans Kinn. Sie konnte nicht aufhören zu frieren.
Vielleicht sollte ich doch einen Arzt anrufen, dachte sie, aber über diesem Gedanken schlief sie schon ein.
Als sie aufwachte, war es draußen dunkel. Im Zimmer brannte eine Stehlampe in der Ecke. Wind war aufgekommen und bewegte die Zweige der Bäume; Grace konnte die tanzenden Schatten der Blätter an den Wänden sehen.
Sie richtete sich langsam auf. Ihr Kopf schmerzte, jeder Knochen im Körper tat ihr weh, aber sie fühlte sich ein wenig kräftiger als am Nachmittag. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es fast acht war. Längst an der Zeit, dass Kim ihr Abendessen bekam. Wie rührend von der Kleinen, dass sie sich so ruhig verhalten und ihren, Graces, Schlaf nicht gestört hatte.
Grace kletterte aus dem Bett. Als sie sich aufrichtete, drehte sich das Zimmer für einen Moment vor ihren Augen, und sie musste sich kurz am Nachttisch abstützen. Aber dann wurde ihr Blick klarer. Sie schlüpfte in ihre warmen Pantoffeln, zog ihren Morgenmantel über und schlurfte in die Küche.
Da war niemand. Nur die Katze lag in ihrem Körbchen und schlief. Auf dem Tisch standen der leere Becher, in dem sich der Kakao für Kim befunden hatte, daneben der Teller, auf dem die Kekse gewesen waren. Alles ausgetrunken, alles aufgegessen. Die Küchenuhr tickte gleichmäßig.
Grace ging ins Wohnzimmer hinüber in der Erwartung, Kim vor dem Fernseher zu finden. Aber das Zimmer war dunkel, der Fernseher ausgeschaltet. Grace runzelte die Stirn. War Kim etwa schon ins Bett gegangen?
Es gab eine kleine Kammer neben dem Bad, die den Walkers als Gästezimmer diente. Von wachsender Unruhe geplagt, schaute Grace hinein: Die Kammer war leer. Das Bett unbenutzt.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte sie.
Das Bad war leer. Die Speisekammer war leer. Selbst in den Keller tappte Grace hinunter, schaute in die Waschküche und in den Vorratsraum. Nichts. Keine Spur von einem kleinen Mädchen.
Sie griff sich an den Kopf. Spielte ihr das Fieber einen Streich? Hatte Kim angekündigt, irgendwo hin gehen zu wollen, und hatte sie es unter dem seltsamen Schleier, der sie umgab, nicht wahrgenommen? Aber derart benommen war sie nicht, wirklich nicht. Sie erinnerte sich, dass Kim ihre neuen Bücher hatte einbinden wollen. War sie hinübergegangen in das Haus ihrer Eltern, um nach Papier zu suchen?
Bleib ganz ruhig, ermahnte sie sich, aber ihr Herz raste dennoch wie irr. Es muss gar nichts passiert sein. Bevor diese … diese Morde an den zwei kleinen Mädchen in King's Lynn geschahen, hätte dich das gar nicht besonders aufgeregt. Da war Kim immer irgendwo auf dem großen Grundstück unterwegs, und kein Mensch hat sich Gedanken gemacht.
Aber diese Morde waren eben geschehen. Die Idylle war keine Idylle mehr.
Mit zitternden Fingern wählte Grace die Nummer vom Haupthaus. Nach endlosem Klingeln wurde schließlich abgenommen, und eine zarte Stimme hauchte: »Hallo?«
»Grace Walker hier«, krächzte Grace, »ich bin die Frau des Verwalters hier von Ferndale. Ist Kim drüben bei Ihnen?«
»Wer spricht dort?«, fragte das Stimmchen.
Grace hätte das begriffsstutzige Wesen durch das Telefon hindurch schütteln mögen. »Ich bin Grace Walker. Die Frau von Jack Walker, dem Verwalter. Wir wohnen in dem kleinen Pförtnerhaus ganz unten an der Auffahrt …«
»Ach so, ja«, sagte das Stimmchen.
»Kim wohnt doch zur Zeit bei uns. Ich habe ein paar Stunden geschlafen, weil ich ziemlich erkältet bin. Nun kann ich sie nirgends finden. Ich dachte, sie ist vielleicht drüben?«
»Nein. Das hätte ich gemerkt.«
»Und wenn Sie noch einmal nachsehen? Das Haus ist ja ziemlich groß und vielleicht …« Grace ließ den Satz offen.
»Ich schaue nach«, versprach das Stimmchen, »ich rufe Sie gleich zurück.«
Grace diktierte ihr die Nummer und legte dann auf.
Lieber Gott, dachte sie. Ein siebenjähriges Kind, das ihr anvertraut war. Und sie legte sich einfach schlafen. Schlief so tief und fest, dass sie über Stunden nichts sah und hörte.
Wenn etwas passiert ist … das verzeihe ich mir nie. Niemals.
Aber es musste nichts passiert sein. Warum sollte sie das Schlimmste denken? Das war Unsinn. Es lag am Fieber, dass sie kurz vor dem Durchdrehen stand.
Um irgendetwas zu tun, setzte Grace Teewasser auf. Als sie gerade einen Beutel Salbeitee in eine Tasse hängte, klingelte das Telefon.
»Livia Moor hier. Es tut mir leid, Mrs. Walker, ich habe im ganzen Haus nachgesehen. Kim ist nicht hier.«
Grace wurde innerlich ganz kalt. »Das kann nicht sein«, stieß sie hervor.
»Wirklich, ich habe in jeden Winkel geschaut«, beteuerte Livia.
Beide Frauen schwiegen.
»Es ist … mir geht es nicht gut«, sagte Grace schließlich. »Ich habe hohes Fieber. Sonst hätte ich mich nie mitten am Tag hingelegt.«
»Vielleicht spielt sie im Park«, meinte Livia.
»Es ist aber schon dunkel.«
»Trotzdem. Sie hat die Zeit vergessen …«
Grace fühlte ein Würgen in ihrem Hals. »Ich darf mir nicht vorstellen … guter Gott, sie ist erst sieben …«
»Soll ich zu Ihnen hinüberkommen?«, fragte Livia. »Vielleicht kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Das wäre nett von Ihnen«, flüsterte Grace. Es war nicht so, dass sie ein großes Bedürfnis nach der Anwesenheit dieser Fremden verspürt hätte, aber sie meinte, jeden Moment den Verstand zu verlieren, und vielleicht half es ihr, wenn jemand da war, mit dem sie reden konnte. Und wenn es diese seltsame Person aus Deutschland war.
Jack. Ach, wäre doch Jack da!
Sie beendeten das Gespräch. Grace goss das Wasser in ihre Tasse, dann wählte sie kurz entschlossen Jacks Nummer. Sein Handy war ausgeschaltet, aber es gelang ihr, ihn über sein Hotel in Plymouth zu erreichen.
»Wie geht es dir?«, fragte Jack sofort.
»Ach, nicht gut, gar nicht gut. Kim ist verschwunden.«
»Was?«
Jetzt konnte Grace die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ich hatte mich hingelegt und habe ungefähr drei Stunden geschlafen. Kim wollte fernsehen … aber jetzt ist sie nicht da. Sie ist nirgendwo im Haus.«
»Vielleicht ist sie hinüber …«
»Nein. Da ist sie auch nicht.«
»Hör zu«, sagte Jack, »dreh jetzt nicht durch. Sie muss ja irgendwo sein.«
»Sie war so traurig«, weinte Grace, »weil ihre Mum heute am ersten Schultag nicht da ist. Und … und sie hatte sich darauf gefreut, mit mir zusammen die neuen Bücher einzubinden. Aber ich hatte vergessen, Papier zu kaufen. Sie war enttäuscht, und …«
»Was und?«, fragte Jack. Seine Stimme klang rauh. Grace spürte, dass er sich auch Sorgen machte, aber dass er es vor ihr nicht zeigen wollte.
»Vielleicht ist sie vor Enttäuschung und Kummer weggelaufen. Und dann …«
»Meine Güte«, sagte Jack.
»Und dann ist sie dem Kerl begegnet, der …«, fuhr Grace fort, obwohl Jack sowieso schon gewusst hatte, was ihr im Kopf herumging. Sie sprach nicht weiter.
»Unsinn«, sagte Jack ruppig. So kratzbürstig wurde er immer, wenn ihm etwas an die Nieren ging. »Grace, ich würde dir jetzt gern helfen, aber selbst wenn ich heute Nacht noch wie der Teufel zurückrase …«
»Tu das nicht. Du brauchst jetzt deinen Schlaf.«
»Ich weiß nicht, wie fit du bist. Aber vielleicht könntest du im Park nachsehen, trotz der Dunkelheit. Kim hat viele Verstecke dort. Wenn du eine Taschenlampe nimmst …«
Grace stöhnte leise. Im Grunde fühlte sie sich für eine Suchaktion in dem unwegsamen Gelände kaum in der Lage.
»Ich werde Livia bitten.«
»Wen?«
»Das ist … ach, das ist zu kompliziert. Jack …«
»Ja ?«
»Ich habe Angst.«
»Unkraut vergeht nicht«, sagte Jack. »Ruf mich an, wenn's was Neues gibt, ja?«
»Ja. Ja, natürlich.«
»Und, Grace …«
»Ja?«
»Ruf mich auch an, wenn es nichts Neues gibt«, sagte Jack. »Ich möchte einfach … ach, Scheiße! Ich wusste schon heute früh, dass ich nicht fahren sollte. Ich hatte ein blödes Gefühl. Ich höre sonst immer auf solche Gefühle. Warum diesmal nicht?«
8
Livia bot dreimal an, mit einer Taschenlampe durch den Park zu gehen und nach Kim zu rufen, und dreimal zog sie ihr Angebot wieder zurück.
»Ich weiß nicht … das Gelände ist riesengroß«, sagte sie ängstlich, »ich verlaufe mich am Ende und finde nicht zum Haus zurück!«
Inzwischen war es stockfinster draußen. Grace begriff, dass Livia viel zu viel Angst hatte, nachts durch einen riesigen, bewaldeten Park zu streifen, und dass sie es letztlich nie im Leben tun würde.
»Ich werde selbst gehen«, krächzte sie.
»Auf keinen Fall«, widersprach Livia. »Sie glühen ja vor Fieber! Sie holen sich eine Lungenentzündung.«
»Wir können doch aber nicht hier sitzen und nichts tun!«
»Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen.«
»Unternehmen die so schnell schon etwas?«
»Nach allem, was war … vielleicht schon«, antwortete Livia leise. Im Krankenhaus hatte sie nichts vom Tagesgeschehen um sie herum mitbekommen, aber Frederic hatte ihr von den beiden Verbrechen erzählt.
»Wenn ich wenigstens einen Hund hätte«, fuhr sie fort, »dann würde ich …«
»Wir haben jetzt aber keinen Hund«, erwiderte Grace gereizt. Sie begriff, dass Livia zu den Menschen gehörte, die ewig lamentieren, aber nicht handeln, und dass von ihr im Grunde keine Hilfe zu erwarten war. Sie riss nur die Augen auf und machte einen spitzen Mund und hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Fast fühlte Grace Verständnis für Livias Ehemann, der vor ihr geflüchtet war und sich einer anderen Frau zugewandt hatte. Aber nur fast. Dass es ihm möglicherweise gelang oder schon gelungen war, die Ehe von Frederic und Virginia Quentin zu zerstören, würde Grace ihm niemals verzeihen.
»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte sie entschlossen. »Wir können nicht hier sitzen und die Zeit verstreichen lassen. Die müssen uns Leute schicken, die den Park durchsuchen.«
Sie ging ins Wohnzimmer hinüber. Gerade als sie den Hörer abheben wollte, rief Livia, die in der Küche geblieben war: »Da kommt jemand!«
»Kim!«, krächzte Grace und lief in die Küche zurück.
Aber es war nicht das sehnlichst erwartete Kind. Es waren Virginia und Nathan.
Sie hatten anhalten und das Tor öffnen müssen, und Livia hatte das Scheinwerferlicht des Autos gesehen.
Grace riss die Haustür auf und stolperte in Bademantel und Pantoffeln hinaus auf die Auffahrt, um den Wagen zu stoppen. Nathan, der am Steuer saß, bremste scharf. Virginia sprang sofort hinaus, als sie die völlig aufgelöste Frau im Lichtkegel erblickte.
»Grace! Was ist passiert? Ist etwas mit Kim?«
Grace, die während der letzten Minuten ihre Fassung mühsam wiedergefunden hatte, brach nun erneut in Tränen aus. »Sie ist verschwunden«, schluchzte sie.
»Was heißt das?«, fragte Virginia schrill. »Was heißt verschwunden?«
Inzwischen stieg auch Nathan aus. »Beruhigen Sie sich«, sagte er zu Grace. »Kim ist verschwunden? Seit wann?«
Grace berichtete vom Ablauf des Nachmittags. »Ich konnte mich einfach nicht länger auf den Beinen halten«, weinte sie, »deshalb wollte ich mich kurz hinlegen. Ich wollte nicht einschlafen. Ich verstehe nicht, wie …«
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, sagte Nathan. »Sie sind krank, und Sie waren überfordert.«
Virginia biss sich auf die Lippen. »Wo ist denn Jack?«
»Der hat einen Transport nach Plymouth. Er konnte nicht absagen.«
»Wir müssen sofort die Polizei anrufen«, sagte Virginia voller Panik.
»Vielleicht hält sie sich irgendwo im Park verborgen«, sagte Grace, »sie baut sich doch andauernd Höhlen und Geheimgänge und solche Verstecke.«
»Aber weshalb sollte sie sich verstecken?«, fragte Virginia.
»Sie war sehr traurig und bedrückt heute«, sagte Grace. Sie wich Virginias Blick aus. »Es war doch der erste Schultag, und sie konnte nicht verstehen, weshalb … Nun, weshalb ihre Mutter nicht hier war. Und ich konnte mich auch nicht richtig um sie kümmern. Vielleicht wollte sie einfach …« Sie hob die Schultern. »Vielleicht wollte sie einfach weg!«
»O Gott«, flüsterte Virginia.
»Wir brauchen Taschenlampen«, sagte Nathan. »Was Grace sagt, klingt plausibel. Vielleicht hat sie sich wirklich versteckt und hat Angst vor dem Rückweg in der Dunkelheit. Wir sollten sofort das ganze Gelände durchstreifen.«
»Wir sollten sofort die Polizei benachrichtigen«, sagte Virginia. Ihre Stimme klang schrill.
Verdammt, nicht Kim! Nicht Kim!
Nathan legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich vermute, die würden jetzt noch gar nichts unternehmen«, sagte er. »Kim ist noch nicht sehr lange fort, und sie ist auch nicht auf dem Schulweg, dem Spielplatz oder von sonst einem öffentlichen Ort verschwunden. Sie war hier im Haus. Niemand ist gekommen und hat sie von hier weggeholt, das halte ich zumindest für sehr unwahrscheinlich.«
»Aber sie …«
Der Druck seiner Hand auf ihrem Arm verstärkte sich. Selbstsicher und beruhigend. »Es gibt keine Übereinstimmung mit den Geschichten der beiden anderen kleinen Mädchen. Keinerlei Parallelen. Ich denke, wir finden sie.«
Sie atmete tief durch. »Okay. Okay, wir suchen sie. Aber wenn wir sie innerhalb der nächsten Stunde nicht finden, rufe ich die Polizei an.«
»In Ordnung«, stimmte Nathan zu.
»Wir haben Taschenlampen«, sagte Grace.
Sie hustete und weinte, während sie sich vor Virginia und Nathan her zum Pförtnerhaus schleppte. In der hell erleuchteten Haustür stand Livia. Sie starrte ihren Mann an. Sie war totenblass.
»Nathan«, sagte sie.
Er zog nur die Augenbrauen hoch. Virginia hielt den Kopf gesenkt. Sie wagte es nicht, Livia anzusehen.
»Das ist jetzt nicht der Moment zum Reden«, sagte Nathan sehr bestimmt, als Livia erneut den Mund öffnete. Sie zuckte zusammen, schwieg.
Grace kam mit zwei großen Taschenlampen aus der Küche. »Die sind sehr stark. Damit müsste es gehen.«
»Soll ich … mitkommen?«, fragte Livia leise.
Nathan schüttelte den Kopf. »Bleib hier bei Grace. Kümmere dich um sie. Sie glüht ja vor Fieber. Virginia hat ihr Handy dabei. Wenn wir Hilfe brauchen, melden wir uns.«
Wieder verstummte Livia. Die gräuliche Blässe ihrer Wangen vertiefte sich noch ein wenig. Wortlos und hilflos sah sie zu, wie ihr Mann und die andere Frau zwischen den Bäumen verschwanden.
Grace, obwohl soeben noch so gereizt über die zögerliche Art der jungen Deutschen, legte ihr nun in einer mitfühlenden Geste den Arm um die Schultern.
»Sie sind ja bleich wie der Tod«, sagte sie. »Ich glaube, Sie kippen mir gleich um. Wissen Sie was, Sie bekommen jetzt erst einmal einen Schnaps. Damit Sie wieder wie ein Mensch aussehen.«
Livia wollte protestieren, aber Grace schüttelte den Kopf.
»Nein, Sie tun, was ich sage. Wir haben da etwas, darauf schwört mein Jack. Gibt einem die Kraft zurück, sagt er immer.« Sie lächelte etwas schief und voller Mitgefühl. »Und Kraft werden Sie brauchen in der nächsten Zeit, das ist mal sicher!«
9
Nebeneinander her stolperten sie durch den Park. Zu Anfang waren sie über die breiten, sandigen Wege, die Virginia allmorgendlich entlangjoggte, gut vorangekommen, hatten mit ihren Lampen rechts und links in die Büsche geleuchtet und Kims Namen gerufen, aber irgendwann war Virginia schwer atmend stehen geblieben.
»Wenn sie sich wirklich versteckt«, sagte sie, »dann wahrscheinlich nicht hier, wo man sie leicht finden könnte. Dann ist sie bestimmt tiefer in den Park hineingelaufen, dorthin, wo sie auch immer spielt.«
»Dann müssen wir da auch hin«, sagte Nathan. Er nahm ihre Hand. »Komm. Versuch dich an die Orte zu erinnern, die sie gern aufsucht, und dort probieren wir dann unser Glück.«
Die Orte, die Kim gern aufsuchte, waren nur über Trampelpfade zu erreichen, die zum Teil so von Gestrüpp und Gebüsch zugewuchert waren, dass sie beinahe nicht mehr erkennbar waren. Im gespenstisch anmutenden Lichtkegel der Taschenlampen schien die Wildnis jedes Durchkommen zu verhindern, aber irgendwie kamen Virginia und Nathan voran, wobei sie sich immer wieder mit den Haaren in Zweigen verfingen, mit den Ärmeln ihrer Pullover an Dornenranken hängen blieben oder über Wurzelwerk stolperten.
»Das ist hier wirklich ein Paradies für Kinder«, murmelte Nathan einmal, um gleich darauf einen leisen Schmerzenslaut von sich zu geben, als ihm ein Zweig durch das Gesicht peitschte. »Verdammt, fünf Köpfe kleiner, und man käme hier ungeschorener durch. Wir werden nachher aussehen, als wären wir in eine Schlägerei geraten!«
Virginia wollte zu den Brombeerhecken, unter denen sich Kim ein kunstvoll verschlungenes Höhlensystem angelegt hatte, zu einem kleinen Steinbruch, in dem ihre Tochter eine Stadt für ihre Puppen gebaut hatte, zu einem Wäldchen, in dem Frederic im letzten Jahr eine Hängematte angebracht hatte. Sie kannte die Plätze gut, war oft dort gewesen, aber immer nur bei Tageslicht. Im Dunkeln schien alles verändert. Mehr als einmal blieb sie ratlos stehen, weil sie nicht mehr sicher war, welche Richtung sie einschlagen sollte. Zwischendurch rief sie wieder und wieder nach Kim.
Aus dem dunklen, schweigenden Park kam keine Antwort.
Sie erreichten die Brombeerhecken, leuchteten alles, so gut es ging, ab, fanden aber keine Spur von dem kleinen Mädchen. Auch an dem Steinbruch war sie nicht zu entdecken. Virginia sank auf einen Felsen, vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen.
»Sie ist weg, Nathan. Sie ist weg, und ich habe das Gefühl, dass …«
Er kauerte sich vor sie, zog die Hände von ihrem Gesicht. »Welches Gefühl?«
»Dass er sie hat! Dieser Perverse! Nathan«, sie sprang auf, »wir vertun hier unsere Zeit! Wir müssen sofort zur Polizei! Sie ist nicht hier im Park. Warum sollte sie hier herumirren?«
»Weil sie verstört und durcheinander ist«, sagte Nathan. Nach einer kurzen Pause fügte er mit behutsamer Stimme hinzu: »Hast du mal überlegt, dass … Frederic etwas damit zu tun haben könnte?«
»Was?« Sie starrte ihn entgeistert an.
»Er könnte dir damit eins auswischen wollen. Du hast ihm Hörner aufgesetzt, nun siehst du, was du davon hast. Er weiß genau, wo du am besten zu treffen bist: wenn er dir das Gefühl gibt, eine pflichtvergessene Mutter zu sein.«
Abrupt, völlig übergangslos, schossen ihr bei diesen Worten die Tränen in die Augen. »Aber das bin ich doch auch! Nathan, genau das bin ich! Wäre ich nicht mit dir nach Skye …«
Er hielt immer noch ihre Hände fest, schüttelte sie leicht. »Psst! Keine Selbstanklagen. Auch Mütter können Krisen haben und ausbrechen. Du glaubtest Kim zu Hause gut versorgt. Wäre Grace nicht krank geworden und hätte sie sich richtig um Kim kümmern können, wäre die Kleine mit Sicherheit nicht so traurig über deine Abwesenheit gewesen. Dann kam noch dazu, dass auch Jack ausfiel. Es war einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände. So etwas kann passieren.«
Sie nickte, zog ihre Hände aus seinen, wischte sich energisch die Tränen ab. »Keine Zeit zum Heulen«, sagte sie und stand auf. »Ich möchte noch bei ihrer Hängematte nachschauen. Wenn sie da nicht ist, laufen wir heim, und ich rufe Frederic und die Polizei an.«
Bis sie in dem dichten, dunklen Wäldchen die alte Hängematte gefunden hatten, waren sie völlig erschöpft. Von Kim war auch hier nichts zu entdecken, und es sah auch nicht so aus, als sei hier in den letzten Stunden oder Tagen ein Mensch vorbeigekommen. Nathan leuchtete die Umgebung ab, nirgendwo waren niedergetretenes Gras, abgebrochene Äste oder gar Fußspuren zu entdecken.
»Hier ist sie nicht, und hier war sie auch nicht«, sagte er. »Okay, dann zurück zum Haus!«
Auch während des Rückwegs hörten sie nicht auf, nach Kim zu rufen, aber sie erhielten keine Antwort. Als sie die hell erleuchteten Fenster des Pförtnerhauses zwischen den Bäumen hindurchschimmern sahen, wurde Virginia von der Hoffnung gepackt, Kim könnte inzwischen aufgetaucht sein und sich in Graces Obhut befinden. Aber kaum näherten sie sich dem Haus, kam die alte Frau schon herausgelaufen.
»Haben Sie sie gefunden?«, rief sie. »Haben Sie sie mitgebracht?«
Livia tauchte hinter ihr auf. Nathan tat so, als sei sie gar nicht vorhanden. »Können wir hier telefonieren?«, fragte er.
Grace kämpfte immer noch oder schon wieder mit den Tränen. »Selbstverständlich. Der Apparat ist im Wohnzimmer.«
Virginia war schon im Haus.
»Zuerst Frederic«, sagte sie, »und dann die Polizei.«
10
Frederic war mit einigen politischen Freunden bei einem Inder zum Essen gewesen, aber er hatte an der lebhaften Unterhaltung der anderen kaum teilgenommen, hatte über weite Strecken nicht einmal mitbekommen, worum es in dem Gespräch der anderen ging. Er musste immerzu an Virginia denken, daran, was sie nun gerade auf Skye mit dem anderen Mann tat. Er hätte nie gedacht, dass er unter Bildern der Art, wie sie sich ihm soeben aufdrängten, so leiden würde, dass er überhaupt der Mensch war, der sich derartigen Fantasien hingab. Sich seine Frau in der Umarmung eines anderen vorzustellen … Warum tat er das? Warum konnte er damit nicht aufhören? Und warum empfand er einen so schrecklichen, fast körperlichen Schmerz dabei? Er hätte von sich selbst stets geglaubt, zu sachlich, zu nüchtern zu sein für derartige Emotionen. Wenn die Frau fremdging, dann litt ein Mann nicht wie ein Hund. Gegen Kummer, gegen Enttäuschung gab es die Mechanismen, die man über den Verstand einschaltete, und die verhinderten, dass man zum Spielball dessen wurde, was im eigenen Inneren vor sich ging. Man ließ Emotionen, gute wie schlechte, nicht Macht über sich gewinnen. Frederic hatte stets an den Sieg des Intellekts über die Gefühle geglaubt.
Allerdings war das weit vor allen Überlegungen gewesen, Virginia könnte ihn verlassen, sich einem anderen Mann zuwenden. Virginia war die Frau seines Lebens, die Frau, mit der er alt werden wollte, daran hatte es nie den mindesten Zweifel gegeben. Er hatte vorausgesetzt, dass sie ebenso empfand. Offenbar hatte er sich gründlich getäuscht. Und zu seinem Entsetzen hatte er der Schärfe des Schmerzes nichts entgegenzusetzen. Er war ihm vollkommen hilflos ausgeliefert.
Verzweifelt versuchte er, seit er wieder in London war, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Seine Termine wahrzunehmen, sich um wichtige Menschen zu kümmern, all das zu tun, was für diese Woche auch vor dem Eintritt der Katastrophe auf seinem Programm gestanden hatte. Es war weniger die Sorge um seine Karriere, die ihn dazu trieb, eher der Versuch, nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hätte er sich in seine Wohnung gesetzt und die Wände angestarrt, hätte er den Verstand verloren oder sich ständig sinnlos betrunken. Er musste in der Struktur eines ganz gewöhnlichen Tagesablaufs bleiben, das war seine einzige Chance.
Chance worauf?, fragte er sich. Nicht verrückt zu werden? Herauszufinden, was er tun sollte? Den Schmerz niederzuringen? Hass und Wut und Verzweiflung in sich nicht dominieren zu lassen?
Etwas von all dem. Vor allem aber war es die Chance, nicht ununterbrochen grübeln zu müssen. Wenigstens dann, wenn er einem Gesprächspartner gegenübersaß und sich auf dessen Anliegen konzentrieren musste, hörte die Mühle in seinem Kopf auf, sich zu drehen.
An diesem Abend jedoch hielt er das Gerede, das Gelächter, die Heiterkeit, die Scherze fast nicht mehr aus. Zu groß war die Diskrepanz zu dem, was sich in seinem Inneren abspielte.
Um kurz nach zehn erklärte er, unter starken Kopfschmerzen zu leiden, was niemanden verwunderte, denn seine Schweigsamkeit, seine Geistesabwesenheit waren den anderen die ganze Zeit über schon aufgefallen. Er nahm ein Taxi, ließ sich durch die Nacht fahren, die von den tausend verschiedenen Lichtern der Großstadt erleuchtet wurde. Den ganzen Tag lang hatte er sich um Möglichkeiten gerissen, sich abzulenken. Jetzt auf einmal sehnte er sich danach, sich in seiner Wohnung zu verkriechen. Wie ein krankes Tier in seiner Höhle.
Er hörte das Telefon klingeln, als er gerade den Schlüssel ins Türschloss steckte. Das Schloss klemmte, hektisch fingerte er daran herum. Mit einem Sprung war er am Apparat.
»Ja?«, fragte er, bemüht, nicht atemlos zu klingen. Er ärgerte sich über die Inbrunst, mit der er hoffte, es handele sich bei dem Anrufer um Virginia, aber zugleich glaubte er nicht, dass sie sich bei ihm melden würde. Er war tief erstaunt, als er ihre Stimme hörte.
»Frederic? Ich dachte schon, du bist nicht da. Ich wollte gerade wieder auflegen.«
»Oh … Virginia. Ich bin eben erst nach Hause gekommen.« Sie soll ruhig glauben, dass ich ein ganz normales Leben führe und keineswegs zu Tode verletzt herumsitze, dachte er und fand sich selbst dabei kindisch.
»Ich war mit Bekannten beim Essen«, erklärte er.
»Ich bin in Ferndale«, sagte Virginia. Übergangslos setzte sie hinzu: »Kim ist verschwunden.«
»Was?«
»Grace hat sie von der Schule abgeholt, sich dann aber wegen ihrer Grippe ins Bett gelegt. Als sie ein paar Stunden später aufwachte, war Kim verschwunden.«
»Das gibt es doch gar nicht!«
»Sie ist fort. Ich bin schon an allen möglichen Orten im Park gewesen, aber nirgends gibt es eine Spur von ihr. Ich bin völlig verzweifelt. Ich …«
»Ich komme sofort«, sagte Frederic.
Ihr Zögern war lautlos und doch so spürbar durch den Telefonapparat, dass Frederic nach einer Sekunde des Staunens begriff. Es überraschte ihn, wie intensiv der Schmerz war, trotz der Sorge um sein Kind.
»Verstehe«, sagte er, »dein Liebhaber ist da. Im Augenblick passe ich da vermutlich nicht ins Konzept.«
»Spielt das jetzt eine Rolle?«
»Warum soll ich dann nicht kommen?«
Sie klang erschöpft und deprimiert. »Ich habe nicht deswegen gezögert«, sagte sie, »es war nur …«
»Ja?«
»Ich war … ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein soll oder nicht. Ich hatte gefürchtet … dass Kim bei dir ist. Offensichtlich ist sie es nicht, aber wenigstens wüsste ich sie dann in Sicherheit.«
Jetzt war er für einen Moment sprachlos. »Du dachtest, sie ist bei mir?«, fragte er dann.
»Ja.«
»Weshalb sollte sie hier sein? Weshalb sollte ich sie einfach mitnehmen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen?«
Sie atmete tief. »Um mir meinen Ausflug nach Skye heimzuzahlen«, sagte sie.
Während er um Fassung rang, völlig perplex, mit einer solchen Anschuldigung konfrontiert zu werden, sagte Virginia: »Ich werde jetzt die Polizei anrufen. Sie müssen sofort etwas unternehmen.«
»Du glaubst, ich fahre schnell von London nach King's Lynn, hole mir irgendwie unbemerkt Kim aus dem Haus der Walkers, rase mit ihr nach London zurück, nur um auf diese abartige Weise mit meiner Kränkung fertigzuwerden?«
»Es ist doch jetzt gleichgültig, was ich geglaubt habe. Wichtig ist nur, dass wir Kim finden.«
Sie hatte Recht. Es war nicht der Moment, sich auseinander zu setzen. Dafür würde später Zeit sein. Viel später.
Ihm kam plötzlich ein Gedanke. »Warst du bei ihrem Baumhaus?«
»Bei welchem Baumhaus?«
»Das ich mit ihr gebaut habe, als sie vier war.«
Ein heißer, langer Sommer. Sie hatten damals noch in London gelebt, den Juli und August ausnahmsweise nicht auf Skye, sondern in Ferndale verbracht. Kim hatte gerade eine Phase durchlebt, in der sie sich besonders stark an ihren Vater klammerte, und Frederic hatte sich viel Zeit für sie genommen. Er war mit ihr zum Baden gefahren und durch die Wälder gestreunt, hatte mit ihr Tiere beobachtet und Blumen gesammelt. Und ein Baumhaus gebaut. Ein richtig tolles Baumhaus mit einer Leiter, die man nach oben ziehen konnte, und mit einer Bank zum Sitzen und sogar einem wackeligen Tisch darin.
»Aber da ist sie doch ewig nicht mehr gewesen«, sagte Virginia.
»Trotzdem erinnert sie sich. Und es war eine besonders glückliche Zeit für uns. Möglich, dass es sie deshalb dorthin zieht.«
Ihr Familienleben war in jenem Sommer von großer Harmonie erfüllt gewesen. Manchen Nachmittag hatten sie alle zusammen in dem Baumhaus verbracht, obwohl Virginia immer gefürchtet hatte, es werde unter ihnen zusammenbrechen. Kim hatte gespielt, dass sie ihre Eltern zum Tee einlud, hatte in Plastiktassen aus ihrer Puppenküche Wasser serviert und kleine Stückchen Sandkuchen auf winzigen Tellern.
Sie hatten viel Spaß gehabt. Das Baumhaus mochte für alles stehen, was Kim im Augenblick zu verlieren fürchtete.
»Findest du die Stelle noch?«, fragte Frederic.
»Ja. Natürlich.«
»Pass auf, du schaust dort nach. Wenn sie da auch nicht ist, verständigst du sofort die Polizei. Und rufst mich an. Ich werde irgendeinen Weg finden, heute Nacht noch nach Ferndale zu kommen.«
»In Ordnung.« Er konnte ihrer Stimme anhören, wie verzagt sie war. Die Angst um Kim schnürte ihr buchstäblich den Hals zu.
»Ich warte hier neben dem Apparat«, sagte er und legte den Hörer auf.
Er glaubte nicht, dass Kim entführt worden war. Nicht aus dem Haus der Walkers. Sie war weggelaufen, protestierte auf die einzige Art, die ihr zur Verfügung stand, gegen das drohende Auseinanderbrechen ihres Weltgefüges.
Aber auch das war schlimm genug. Er hatte vorgehabt, die nächste Zeit in London zu bleiben, abzuwarten, dass Virginia den nächsten Schritt auf ihn zu tat. Sie war aus ihrer Beziehung davongelaufen, sollte sie sich nun etwas überlegen, wie man mit dem Scherbenhaufen umgehen konnte. Nun wurde ihm klar, wie kindisch seine Einstellung war und dass er sie möglichst schnell aufgeben sollte. Denn bei der ganzen Geschichte ging es nicht bloß um ihn und Virginia, ihrer beider Gefühle füreinander, die Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte, und um das, was er beigetragen hatte, es so weit kommen zu lassen. In allererster Linie ging es um Kim. Ihr Wohl mussten sie im Auge haben, dann erst konnten sie an sich selbst denken.
Spätestens morgen würde er nach King's Lynn aufbrechen. Sie mussten miteinander reden. Besprechen, wie die nächsten Wochen aussehen sollten. Wie sich mögliche Änderungen im Familienleben mit Kim am besten und schmerzlosesten vereinbaren ließen.
Kim.
Er starrte das Telefon an.
Kim, komm zurück! Wo bist du? Komm zurück, alles wird gut!
Die nächste Stunde, das war ihm klar, würde zu den längsten seines bisherigen Lebens zählen.