Elfen-Tipp

Tatsache: Elfen können ihre Begierden kontrollieren. Drücken wir die Daumen, dass es tatsächlich so ist.

 

Nachdem ich geduscht habe, ziehe ich mich an und gehe zurück ins Zimmer. Kaum zu glauben, wie lange ich hier mit ihm alleine war. Mein Magen revoltiert. Astley ist mit einem Kamm durch seine blonden Haare gefahren. Ein Muskel an seinem linken Auge zuckt.

»Gibt es zwischen meinen Stimmungen und deinen auch eine Verbindung?«, frage ich scheinbar beiläufig, während ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammendrehe, obwohl mein Herz mindestens achthundertmal in der Minute schlägt, weil ich so nervös und verängstigt bin. Aber vielleicht schlagen Elfenherzen auch einfach so.

»Eigentlich nicht«, sagt er. »Wenn wir miteinander geschlafen hätten, dann schon.«

Ich hebe die Augenbrauen, um ihm zu bedeuten, dass dies niemals passieren wird, und schiebe eine noch wichtigere Frage nach: »Werde ich anderen etwas antun? Ich meine, werde ich in der Lage sein, mich zu beherrschen?«

»Nicht alle Elfen sind blutrünstige Monster.«

»›Nicht alle‹ reicht nicht.« Ich mache mich daran, die zerfetzten Laken vom Boden aufzuheben und sie in die kleinen Plastikpapierkörbe zu stopfen, die man in Hotelzimmern hat. »Ich möchte wissen, ob ich böse sein werde.«

Er kommt durch das Zimmer zu mir her. Sein Gesicht sieht angespannt aus, vor Sorge vermute ich. »Zara …«

»Schau dir das an.« Ich halte ihm ein zerfetztes Laken vor die Nase. »Das habe ich gemacht. Gerade eben habe ich im Bad eine Delle in das Waschbecken gehauen. Ich bin wahnsinnig stark, und ich habe gesehen, was Elfen anrichten können, Astley. Sie haben Nick getötet. Sie entführen Jungen. Sie … so darf ich nicht sein!«

Seine Hände legen sich auf meine Schultern. »Du wirst nicht so sein.«

»Woher weißt du das?«

»Ich werde es nicht zulassen.« Seine Hände bewegen sich ein bisschen, aber er hält mich weiterhin fest. Dann wird sein Blick sanfter: »Und was noch viel wichtiger ist: Du selbst wirst nicht zulassen, dass du so wirst. Du bist nicht so, Zara.«

Eine Minute lang bleiben wir einfach so stehen, ohne uns zu bewegen und ohne zu sprechen. »Glaubst du wirklich?«

Er lässt eine Schulter los und schiebt ein paar nasse Haarsträhnen hinter mein Ohr. Es ist eine sehr intime Geste, ich weiche ihr trotzdem nicht aus. »Ich verspreche es dir, Zara. Du wirst Begierden haben, aber du kannst sie kontrollieren.«

»Dann sind meine Freunde sicher, auch wenn ich ihnen nahe bin?«

»Natürlich.«

Das leuchtet ein. Auch Megan und Ian aus unserer Schule haben nicht dauernd getötet. Ich erzähle Astley von ihnen, und er setzt sich auf das Bett und zieht einen Fuß auf das Knie des anderen Beins.

»Das liegt daran, dass ihr Herrscher eine gewisse Kontrolle über seine Begierden hatte. Gelegentlich gibt es einzelne Schurken, die unabhängig sind, und sie werden … sie geben ihren Begierden uneingeschränkt nach, aber normalerweise fangen wir sie schnell ein. Erst wenn ein König die Kontrolle verliert, so wie es deinem Vater passiert ist, entwickeln sich die Dinge tödlich.« Er scheint seine Worte sorgsam zu wählen. »Das wird mir nicht passieren.«

Ich mustere ihn. »Versprichst du das?«

Er nickt. »Ich schwöre es.«

Die Laken in meiner Hand kommen mir schrecklich schwer vor. Ich versuche, sie zusammenzulegen, aber sie sind widerspenstig, zu zerfetzt und steif von getrocknetem Blut, um sich meinen Wünschen zu fügen. »Du musst mich töten, wenn ich böse werde. Das habe ich auch Devyn und Issie gesagt. Ich möchte lieber sterben, als andere Menschen verletzen.«

»Ich weiß nicht, ob ich dazu fähig bin, dich zu töten, Zara«, flüstert er. Er steht auf und nimmt mir die Laken ab. »Aber ich weiß, dass du niemandem etwas zuleide tun wirst. Du kannst deine Elfenkraft und deine Reflexe für das Gute nutzen.«

Die Laken sind der Beweis für meine Verwandlung. Weitere Beweise sind meine überfrachteten Sinne und die Art und Weise, wie mein Gehirn vor Kraft surrt. Was weiß ich? Ich weiß, dass ich bis vor ein paar Tagen nicht getötet habe, dann habe ich getötet, aber da war ich noch ein Mensch. Jetzt, wo ich ein Elf bin, ist es viel einfacher. Ich weiß Dinge, die sich normale Menschen nur vorstellen können: dass es Elfen gibt und Werwesen und sogar Walküren, die in unserer Welt existieren. Dass das Böse so stark und so real ist, dass du beim bloßen Gedanken daran eine Gänsehaut bekommst. Ich weiß, dass Begierden viele Jahre lang kontrolliert in den Herzen von Lebewesen schlummern. Dass sie einfach abwarten, während wir zur Schule gehen, uns in unsere warmen Betten kuscheln oder mit unseren Vätern im warmen Süden joggen. Sie warten ab, und dann schlagen sie zu. Ich hoffe, dass es einmal eine Zeit geben wird, in der diese Begierden vollkommen unter Kontrolle sind und Menschen nicht mehr in Gefahr schweben, aber jetzt ist es noch nicht so weit, diese Zeit ist noch nicht da.

»Wir werden gegen sie kämpfen, ja? Sobald ich Nick zurückgeholt habe, werden wir die Elfen unter Kontrolle bringen«, sage ich.

»Sobald wir herausgefunden haben, wie genau wir den Wolf zurückbringen, ja.« Er fummelt am Bündchen seines Pullovers herum und schaut mich beim Sprechen nicht an, wie er es sonst tut.

Ich funkle ihn böse an: »Ich bin deswegen immer noch wütend auf dich.«

Er fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Wahrscheinlich ist er müde, denn sogar seine Stimme klingt matt, als er sagt: »Ich weiß.«

Es klopft. Astley schaut auf und gleitet an mir vorbei. »Einen Augenblick.«

Mit katzenartigen Bewegungen geht er zur Tür und öffnet sie. Eine wunderschöne, hochgewachsene Frau um die vierzig mit langen schwarzen Dreadlocks steht draußen. Ich kann riechen, dass sie nach Wald und Pilzen duftet wie Astley. Leise murmelt sie: »Hat sie überlebt?«

»Ja«, antwortet Astley.

»Bemerkenswert. Ich bringe die gewünschte Information.«

Er tritt auf den Flur hinaus und schließt die Tür hinter sich. Hastig ziehe ich mir die Schuhe an. Ich habe nur so getan, als würde es mir gut gehen. In Wahrheit habe ich das Gefühl, dass mir die Haut abgezogen und dann wieder angelegt wurde, allerdings irgendwie krumm. Aber egal. Nicht egal ist, dass ich einen Schritt weiter bin auf meinem Weg, Nick zu retten. Ich stehe wieder auf und schaue mich in dem Zimmer nach einem Hinweis um, nach irgendetwas, das mir hilft, den nächsten Schritt zu finden. Ich gehe zur Tür und öffne sie. Astley steht immer noch draußen und redet mit der Frau.

Sie beugt ihre eleganten, langen Beine und geht vor mir in die Knie: »Meine Königin.«

»Oh! Nein! Nicht doch!« Ich nehme sie an der Schulter und ziehe sie wieder hoch.

In ihren Augen glänzen Tränen, die noch nicht den Weg in ihr Gesicht gefunden haben, aber sie steht auf. Sie ist gut zehn Zentimeter größer als ich, deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als ihre Schulter loszulassen. Ich strecke ihr die Hand hin: »Zara, schön dass wir uns kennenlernen.«

»Amelie.« Sie nimmt meine Hand. Etwas wie elektrischer Strom fließt zwischen uns, fast wie ein Schlag. Es hat den Anschein, als wolle sie meine Hand küssen, statt sie zu schütteln, aber Astley räuspert sich und lenkt sie ab. Deshalb sagt sie nur: »Es ist eine Ehre, dich kennenzulernen. Du siehst erstaunlich gut aus. Normalerweise verläuft die Verwandlung nicht so …«, sie sucht nach einem Wort. »… problemlos.«

Ich lasse ihre Hand los. Wie stehen im grellen Licht des Hotelflurs, und die beiden tauschen Blicke aus. Sie verbergen etwas vor mir. Ich weiß es, denn die Luft flirrt praktisch davon, dass sie etwas vor mir verbergen.

»Worüber sprecht ihr?«, frage ich.

Astley beäugt mich kritisch. Schließlich holt er Luft und sagt: »Sie bringt mich auf den Stand der Dinge.«

»In Bezug auf die Elfen?« Ich korrigiere mich. »Die bösen Elfen.«

Er nickt.

»Und …«, drängle ich.

»Nach dem Überfall auf den Schulbus scheinen sie sich ein bisschen beruhigt zu haben.« Seine Stimme und seine Augen sind hart. »Aber dein Vater ist verschwunden. Der andere König wurde im Wal-Mart gesehen.«

Das raubt mir fast den Atem. »Im Wal-Mart?«

»Ich weiß.« Seine Augen bekommen einen schelmischen, verschmitzten Ausdruck, der aber rasch wieder verschwindet. »Er ist eine unglaubliche Bedrohung, Zara. Wenn die Leute deines Vaters weiterhin zu ihm überlaufen, wird er immer stärker werden.«

»Aber deshalb haben wir ja dich«, sagt Amelie.

»Weil ich Astley stärker mache.« Ich streiche mir die Haare hinter die Ohren und ertappe mich bei der Bewegung. Sie ist mir vertraut. Das habe ich schon immer gemacht. Ich möchte mich rückversichern, dass ich immer noch ich bin. Aber ich bin es nicht, oder etwa doch?

Astley räuspert sich wieder. »Ja, das wirst du. Du tust es bereits, aber es wird mehr werden, wenn du von Walhalla zurückkommst, deshalb müssen wir sicherstellen, dass du zurückkommst.«

Am Ende des Flurs schiebt eine Frau vom Zimmerservice ihren Wagen zu einer Tür. Der Wagen ist hoch beladen mit Papiertüchern und Toilettenpapier und sauberen Gläsern und Badehandtüchern. Die Stapel kommen mir ziemlich schief vor und drohen, gleich umzufallen. Ich möchte ihr helfen. Sie schaut zu uns her und hebt eine Augenbraue. Ich frage mich, wer ihr helfen wird. Wenn all die gefährlichen Dinge, die passieren könnten, tatsächlich passieren, wenn es einen richtig schlimmen Krieg gibt, wer wird dann den Menschen helfen? Wer wird den Menschen helfen, die im Kreuzfeuer stehen? Wer wird Issie und meine Mom und meine Mitschüler aus dem Spanischkurs und diese Putzfrau und alle anderen beschützen?