Elfen-Tipp
Elfen übertreffen sogar an einem guten Tag noch den Gemeinsten an Gemeinheit.
Astley beugt sich vor und berührt mein Gesicht. Vielleicht will er sich für die abscheulich schlechte Landung entschuldigen, ich weiß nicht genau. Ich weiche ein bisschen aus. Seine Hand sinkt. Die Bewegung ist langsam, als ob wir beide Überlebende eines Autounfalls wären und noch ganz benommen beieinander Trost suchten, aber Angst hätten, uns zu bewegen, sogar Angst hätten, überhaupt zu existieren. Eine Minute lang sagen wir gar nichts. Dann brummt mein Handy wieder. Ich kriege es nicht aus meiner Tasche, weil mein Arm so blutig ist. Astley fasst hinein und holt es für mich heraus.
»Du wirst ja rot«, meint er.
»Du hast in meine Tasche gefasst. Das ist eine sehr vertrauliche Geste.«
Er lächelt schelmisch und gibt mir das Telefon. »Da sind auch noch Bonbons.«
»Skittles«, erkläre ich. »Die mag ich besonders.«
Wir sind immer noch ineinander verknäult. Ich schaue auf das Display. Ich habe fünf Nachrichten in Abwesenheit, alle von Issie. Und alle haben denselben Inhalt: Bist du okay? Wo bist du? Ich bitte ihn darum, zu antworten, dass es mir gut geht, und nach dem Wohlergehen der anderen zu fragen. Seine Finger kommen mir auf der winzigen Handytastatur riesig vor. Es brummt sofort wieder. Leichte Verletzungen. Wo bist du?
Diese Frage werde ich nicht beantworten, denn dann muss ich mich damit rumschlagen, dass sie mich retten wollen. Aber ich schaue mich dennoch um und nehme den Müllcontainer wahr, die zweigeschossige glatte Wand, den Schnee, die Heizvorrichtung. Astley setzt sich auf die Fersen zurück und wartet.
Ich warte auch, denn ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Ich schaue mir die Umgebung ein bisschen genauer an. Er wohnt im Holiday Inn, was irgendwie lustig ist. Man erwartet von Elfen nicht, dass sie normale Dinge tun, aber vermutlich tun sie es … manche wenigstens. Megan und Ian sind zur Schule gegangen. Einige müssen auch irgendwo arbeiten, denn woher sollten sie sonst ihre Kleider haben? Ich weiß es nicht. Es gibt so viel, was ich nicht über sie weiß.
»Du wohnst hier?«, frage ich ihn, als wir uns hinter dem Müllcontainer voneinander lösen.
»Das ist zugegebenermaßen kein besonders schickes Hotel, aber in deiner Stadt ist die Auswahl nicht allzu groß«, sagt er und klappt mein Handy zu. »Wir können auch woanders hinfliegen, wenn du magst.«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. Dann streife ich den Schnee von meinen Armen, aber dadurch blutet mein Handgelenk nur noch mehr. »Mir geht’s gut.«
»Dir geht es alles andere als gut.« Seine Hand legt sich um mein Handgelenk. Er drückt gegen die Wunde, um die Blutung zu stoppen. »Du zitterst ja. Du hast viel Blut verloren. Es ist gefährlich, wenn ich jetzt auch nur versuche, dich zu küssen.«
Mein Herzschlag setzt aus. »Du musst. Wir müssen uns beeilen.«
»Nichts ist sicher, Zara«, sagte er, während er mich vorbei an den schneebedeckten Autos auf dem Parkplatz zum Hoteleingang lotst. Ich bin ein bisschen langsam mit meinem nackten Fuß im Schnee. Er bemerkt es: »Soll ich dich tragen?«
»Nein!« Das Fliegen war Körperkontakt genug.
»Du wirst Frostbeulen an den Zehen bekommen.«
»Nein, werde ich nicht.«
Er bleibt stehen und zieht sich die Schuhe aus. »Nimm die.«
Mein Mund bleibt offen stehen. Er geht in die Hocke und schiebt meinen nackten Fuß in seinen Lederschuh.
»Du bist ja eiskalt«, schimpft er.
»Mir geht’s gut, Außerdem sind mir deine Schuhe sowieso zu groß.«
Er zieht mir den Hausschuh aus und schiebt meinen Fuß in seinen anderen Schuh, als wäre ich ein Baby. »Dann schlurf einfach.«
Ich protestiere, denn ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, obwohl ich weiß, dass Elfen gut mit Kälte klarkommen. Ich schlurfe los. Mit seinen schuhlosen, verletzlichen Füßen geht er neben mir an einem alten Chevy Suburban und ein paar anderen Autos vorbei. Jemand schließt von Weitem seinen Wagen auf, und das leise Piepen hallt über den Parkplatz. Wir erreichen den Eingang, und Astley hält mir die Tür auf.
Die Frau am Empfang schaut uns an und taumelt ein paar Schritte zurück. Dann legt sie eine zitternde Hand auf den Mund. Ihre Augen sind weit aufgerissen vor Angst und passen irgendwie zu ihrer übertriebenen Frisur. Mit der anderen Hand zeigt sie auf uns. Ihre Armreifen stoßen klirrend aneinander, weil ihre Hände so zittern.
»Ihr seid … i-i-i-hr seid …«, stottert sie. Beim Zurückweichen stößt sie etwas Schweres zu Boden.
Astley beugt sich zu mir und flüstert: »Ich habe vergessen, meinen Zauber zu erneuern, und du bist ganz blau.«
»Außerdem blute ich, und du bist barfuß. Sieht verboten aus«, stimme ich zu, während wir an den mit Rosenmuster gepolsterten Sofas der Lobby vorbeischlurfen. »Arme Frau.«
Die Hand, mit der die Frau auf uns gezeigt hat, sinkt nach unten, und die Frau stößt einen leisen, wimmernden Laut aus.
»Hallo!« Ich lese das Namensschild, während ich in meinem merkwürdigen Schlurfgang auf den Empfang zugehe. »Deidre. Alles in Ordnung. Wir kommen gerade von der absolut wildesten Party, die man sich vorstellen kann. Total abgefahren. Schauen Sie mich an. Unwiderstehlich, was? Ich hoffe nur, dass ich die verdammte Farbe wieder abbekomme.«
»Oh …«, sprudelt es aus ihr heraus, während sie versucht, sich zu fangen. »Wow. Wow! Und diese Zähne …«
»Ich weiß. Seine Verkleidung ist noch viel besser als meine. Total unfair.« Ich nicke und schubse Astley mit dem Arm am Empfang vorbei. Dann rufe ich ihr über die Schulter, sozusagen von bösem Mädchen zu bösem Mädchen, noch verschwörerisch zu: »Dafür wird er so verdammt büßen.«
»Recht so, Mädel!«, ruft sie mir zu. »Lass ihn richtig dafür büßen.«
Wir eilen den mit Teppich ausgelegten Flur hinunter und ein paar Stufen hinauf, hinter denen die Zimmer nach beiden Seiten abgehen. Astley schaut mich amüsiert an: »Warum sagst du dauernd verdammt?«
Ich atme zuerst einmal aus. Vermutlich habe ich die ganze Zeit die Luft angehalten. »Erwachsene erwarten, dass Teenies so reden. Du weißt schon, Verblödung und so.«
Er lächelt, und in seinem Mund sind wirklich viele Zähne.
»Deine Zähne sind echt gruselig«, sage ich. »Ich möchte nicht solche Zähne haben.«
»Dann … willst du damit sagen, dass du es nicht tun willst?« Er stoppt mich durch ein bisschen mehr Druck auf mein Handgelenk. Wir stehen im Flur zwischen den Räumen 125 und 127, so steht es wenigstens auf den Messingschildern der Türen. »Es ist deine Entscheidung, Zara.«
Meine Beine fühlen sich ganz wackelig an. Im Stillen fange ich an, Phobien zu rezitieren, um so die Dinge wieder in den Griff zu bekommen, aber es funktioniert nicht. Ich lehne mich an die Wand. »Gib mir einen Augenblick Zeit.«
Er blinzelt und dreht sich, sodass ich sein Gesicht besser sehen kann, dann scheint er sich anders zu besinnen. Seine Stimme klingt ganz ruhig, aber sein Blick ist hochkonzentriert und hart: »Es ist eine enorme Entscheidung.«
Ich schlucke, nehme ihm mein Handy ab und rufe meine Großmutter an. Sie hebt gleich zu Beginn des ersten Klingelns ab. Ihre Stimme sticht wie eine Heugabel durch die Luft. »Zara! Wo zum Teufel steckst du? Geht es dir gut?«
»Ja. Mir geht’s gut. Und dir?«
»Alles bestens. Ich kann mehr einstecken, als den Scheiß, den sie ausgeteilt haben. Aber wo bist du?«
»Ich bin bei Astley«, sage ich.
»Sie ist bei Astley«, wiederholt sie gedämpft. Offenbar hat sie sich vom Telefon abgewandt. »Er ist der König? Du bist beim König? Hat er dich entführt?«
»Er hat mich gerettet«, flüstere ich.
»Zara White, du bist viel zu schlau, um zu glauben, dass ein Elfenkönig dich jemals retten würde. Du lässt dich nicht von ihm küssen, ich wiederhole, du lässt dich nicht küssen«, ordnet sie an. »Ich gehe nach Walhalla und hole Nick. Ich verstehe deine Überlegungen, aber diese ganze Sache ist ein abgekartetes Spiel. Du bist nicht stark genug, um das zu tun. Das hat weitreichende Konsequenzen, vergiss das nicht.«
Ich unterbreche sie. »Ich liebe dich, Gram. Das weißt du, nicht wahr?«
»Zara!«
»Ich liebe Issie und Dev und Mom und auch Mrs Nix, okay?« Mein Herz klumpt sich in meiner Brust zusammen. Es ist, als würde man eine Hand in eine Schneewehe stecken – roher, kalter Schmerz. »Ich liebe euch!«
Ich beende die Verbindung, bevor ich verstehe, was sie in den Hörer schreit.
Hinter mir ertönt eine Stimme: »Bist du okay?«
Ob ich okay bin? Das Blut aus der Wunde an meinem Handgelenk fließt durch seine Finger und tropft auf den Boden. Ich habe keine andere Wahl. Ich muss okay sein. Ich muss das tun, weil ich für alles verantwortlich bin. Ich bin in das Haus hineingegangen. Nick ist mir gefolgt, und dann ist er gestorben. Und wenn ich ihn nicht zurückholen kann, wird mein gesamtes Inneres in dieser kalten Schneewehe versinken, und nichts kann es je wieder herausholen. Oh ja, ich bin okay. Ich fühle mich fantastisch. Aber dann schiebe ich den Gedanken beiseite, schaue auf den Boden, während wir noch ein Stück den Flur hinunterschlurfen, und sage: »Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen all dem Blut. Es tropft auf den Teppich.«
Er lacht. »Machst du Witze? Du wirst dich gleich verwandeln, und da machst du dir Gedanken über ein paar Blutflecken?« Er legt den Kopf schief und mustert mich, was mich schrecklich verlegen macht. Dann sagt er: »Hast du keine Angst, meine Königin zu sein?«
Ich hole tief Luft. »Hör zu. Ich habe eine verdammte Höllenangst wegen dieser ganzen Sache, okay? Ich fürchte mich davor, was es bedeutet, ein Elf zu sein, ich fürchte mich davor, deine Königin zu sein, und vor dem, was all das langfristig für mich bedeutet. Ich habe Angst wegen Walhalla, ich habe Angst, dass ich Nick nicht zurückholen kann und dass er mich nicht mehr liebt, wenn ich mich verwandelt habe. Ich habe Angst vor all den frei herumlaufenden Elfen. Ich habe Angst, dass du mich anlügst. Ich habe so eine verdammte Angst. Aber ich muss es tun. Ich muss es tun, und zwar einen Schritt nach dem anderen, und wenn ich zu viel nachdenke, dann kann ich gar nichts mehr tun. Dann wird die Angst mich lähmen, verstehst du?«
Er gluckst und öffnet eine Tür zu einer Treppe. »Du hast zweimal verdammt gesagt.«
»Ich bin durcheinander.«
»Die meisten Leute fluchen, wenn sie durcheinander sind.«
»Ich bin nicht die meisten Leute.«
Er nimmt meinen Ellbogen. »Ich weiß.«
Mit schief gelegtem Kopf sieht er mich an. Ich sehe ihn auch an, betrachte die silberfarbenen Augen, die blaue Haut, die vollen Haare, die furchterregend scharfen Zähne. Er hebt mein Handgelenk zwischen uns hoch und hält mit dem Fuß die Tür auf. »Bist du dir sicher?«
»Glaubst du, ich überlebe?«, flüstere ich.
»Den Kuss?«, flüstert er zurück.
Ich wende den Blick nicht von seinen Augen ab. »Ja. Den Kuss, alles.«
»Ich werde dafür sorgen, dass du überlebst, Zara. Ehrenwort.« Seine Pupillen verändern sich nicht. Nichts weist darauf hin, dass er lügt. »Es ist für mich sehr wichtig, dass es dir gut geht. Wenn du meine Königin sein sollst, dann musst du überleben, du musst stark sein und mir in meinem Kampf beistehen.«
»Für die Guten, nicht wahr?« Ich sage das gewollt witzig und laut.
»Genau.«
Hinter uns ruft eine Frauenstimme: »Da sind sie!«
Wir wirbeln beide herum. Deidre, die Frau vom Empfang, steht neben einem großen, dünnen Wachmann aus dem Hotel in einer grauen Uniform und zeigt auf uns, was lächerlich ist, denn außer uns ist hier niemand.
»Man zeigt nicht auf andere Menschen. Das ist unhöflich«, flüstere ich Astley zu. »Wir sollten abhauen.«
Er schüttelt den Kopf. »Bleib stehen. Vielleicht kann ich das klären.«
Der Wachmann poltert durch den Flur auf uns zu, seine Wangen schlabbern wie die eines Hundes, und ich wispere stöhnend: »Vielleicht? Was meinst du mit vielleicht?«
Astley nimmt meine Hand und tritt einen Schritt nach vorn. »Sir? Kann ich Ihnen helfen?«
Die Pupillen des Sicherheitmanns sind ganz groß: »Keine Bewegung!«
»Was für eine Bewegung?«, fragt Astley, und ich schwöre, er meint es ernst. »Das sagt man so«, zische ich. »Es heißt, ›bleib stehen‹.«
»Bloß keinen Sarkasmus, Punk.« Der Wachmann stellt sich noch aufrechter hin und mustert uns. »Zu welcher Sorte Freak gehörst du mit deinem Aufzug?« Mit einer Handbewegung fordert er mich auf, vorzutreten. »Alles in Ordnung mit Ihnen? Hat er Sie belästigt?«
Der Flur scheint auf einmal winzig klein zu werden und nur noch nach dem Rasierwasser des Wachmannes zu duften. Es ist klaustrophobisch. Klaustrophobie ist die Angst vor …
»Hallo?«, bellt er, »Hören Sie? Sie sollen vortreten.«
»Sie steht unter Schock«, erklärt Deidre. Einen Augenblick frage ich mich, ob draußen jemand ist. Ich schaue mich um, während Astley wieder anfängt, zu sprechen.
»Wirklich, Sir. Uns geht es gut. Wir waren auf einem Kostümfest. Meine Freundin hat’s ein bisschen übertrieben und …«
»Bursche! Ich habe gesagt, lass das Mädchen los.« Der Wachmann wendet sich an Deidre. »Rufen Sie die Polizei. Ich halte die beiden solange hier fest.«
Meine Finger drücken Astleys. Er drückt zurück. »Sir, ich kann Ihnen versichern …«
»Gehen Sie schon!« Der Mund des Wachmanns öffnet sich weit, als er Deidre anschreit. Sie hastet davon. Er tritt auf uns zu und zieht sein Funkgerät heraus.
»Beleg ihn mit einem Zauber. Er holt Verstärkung«, zische ich Astley zu.
»Ich versuch’s«, zischt er zurück. »Aber ich bin nicht gut in so was.«
Der Wachmann bleibt stehen, bevor er das Funkgerät an den Mund hält, und mustert uns. Eigentlich mustert er Astley. »Auf dich passt die Beschreibung der Irren, die den Sumner-Bus überfallen haben? Bist wohl einer von ihnen? Brauchst nicht antworten. An die Wand mit dir.«
Astley macht einen Schritt nach vorn, aber ich reiße ihn zurück.
»Lauf!«, schreie ich und werfe dem Wachmann die Skittles aus meiner Tasche ins Gesicht.
Astley gehorcht tatsächlich. Er dreht sich um, und ich zerre ihn auf das Exit-Schild hinter uns zu, während der Wachmann auf seinem Funkgerät rumtippt, verzweifelt Verstärkung anfordert und die Verfolgung aufnimmt.