Definition

Elfenkuss: Die entscheidende Handlung bei der Verwandlung von Mensch in Elf. Oft tödlich, nur selten sexy.

 

Wir stürmen die Treppe hinauf in einen anderen Flur mit langweiligem Hotelteppich und beigefarbener Tapete und rennen vorbei an vielen Türen, bis wir Zimmer 259 erreichen. Er schiebt die Schlüsselkarte ein, stößt mich durch die Tür und wirft sie hinter mir zu. Wir lassen uns gegen die tapezierte Wand fallen und rühren uns nicht. Dreißig Sekunden später erfüllt der Lärm rennender Füße den Flur.

»Sie haben nicht gesehen, in welches Zimmer wir gegangen sind«, sagt er. »Wir dürften in Sicherheit sein.«

Ich schlucke und betrachte das Doppelbett mit den zwei gleichen bräunlichen Daunendecken, die identischen Kissen auf jedem Bett, den kurzflorigen beigefarbenen Teppichboden. Dann gibt es noch eine Messinglampe, Vorhänge, eine Klimaanlage. Sieht alles normal aus. Ein ganz normales Hotelzimmer. Ein ganz normales Hotelzimmer, aber hier werde ich meine menschliche Identität verlieren und etwas … etwas anderes werden.

»Und was, wenn ich?«, stoße ich hervor.

Er nimmt ein weißes Handtuch aus dem Bad und wickelt es um mein Handgelenk. »Was, wenn du was tust?«

»Wenn ich wie mein Vater werde?«

»Er gehört nicht zu den Schlimmsten. Bei Weitem nicht.« Er bindet die Handtuchenden zusammen.

»Ich weiß.« Ich muss an den König denken, der Nick heute fast umgebracht hat. An ihm war nichts Menschliches mehr. »Und wenn ich so werde?«

Er berührt mein Kinn. »Das wird nicht geschehen, Zara.«

»Bist du sicher?«

»Ich werde es nicht zulassen.«

Er wird es nicht zulassen.

Eremophobie, die Angst davor, wer du bist.

Ereuthrophobie, die Angst vor Schamröte.

Ergophobie, die Angst vor Arbeit.

Eremophobie, die Angst davor, wer du bist.

»Was murmelst du da vor dich hin?«, fragt er und setzt mich auf den Boden. Er selbst streckt die Beine aus, sodass sie die vom Bett herunterhängende Tagesdecke berühren.

»Phobien. Ich mach das immer, wenn ich Angst habe.« Ich kreuze die Beine und zucke dann zurück, weil mein Knie sein Bein berührt. Nick wäre gar nicht begeistert davon. In meiner Kehle bildet sich ein Klumpen.

»Es tut mir leid, dass du Angst hast.«

»Na ja. Wäre ein bisschen merkwürdig, wenn nicht, oder?«

»Schon.«

Felinophobie, die Angst vor Katzen.

Francophobie, die Angst vor Frankreich.

Frigophobie, die Angst vor Kälte, die Angst vor Dingen, die kalt sind.

Eremophobie, die Angst davor, wer du bist.

Wie nennt man die Angst davor, ein Monster zu werden? Die Angst davor, sich selbst für immer zu verlieren? Die Angst davor, dass sich dein Körper vollständig verändert und du dein früheres Ich nicht wiedererkennst? Denn diese Angst zerrt an mir, reißt jeden rationalen Gedanken mit sich, jede Hoffnung. Wer werde ich sein, wenn ich das tue? Werde ich grausam sein? Stärker? Werde ich immer noch ich sein? Werde ich immer noch Zara White sein, auch wenn sich mein Körper verändert?

»Ich schreibe gerade ein Buch mit dem Titel Wie überlebt man einen Elfenangriff«, sage ich. Ich lehne meinen Kopf an die Wand hinter mir. »Lustig, was?«

»Warum lustig?« Seine Stimme ist fest und klar, obwohl wir so dicht nebeneinandersitzen und obwohl meine eigene Stimme so bitter klingt.

»Weil ich, wie sich herausstellt, den Leuten darin erzähle, wie sie eine Begegnung mit mir überleben.«

Als er nicht antwortet, hebe ich den Kopf, damit ich in sein Gesicht sehen kann. Er ist rot geworden.

»Was ist?«, frage ich.

»Du zitterst ja vor Angst.«

»Ich glaube, wir sollten es einfach tun«, platze ich heraus. »Küss mich, bevor es zu spät ist und es sich nicht mehr lohnt.«

»Bist du sicher?«

Ich denke darüber nach, was mit mir geschehen wird. Ich werde kein Mensch mehr sein. Ich werde andere Zähne haben. Eine andere Haut. Anderes Blut.

Genuphobie, Angst vor Knien.

Gephyrophobie oder Gephydrophobie oder Gephysrophobie, Angst über Brücken zu gehen.

Eremophobie, die Angst davor, wer du bist.

»Wirst du mir helfen?«, frage ich verzweifelt. »Wenn ich wieder zu mir komme? Wirst du mir helfen, damit ich kein Monster werde wie die, die … wie die, die … Ich liebe Nick«, betone ich. Mein Herz flattert hoffnungslos in meiner Brust. Tränen drohen meine Augen zu überfluten.

»Natürlich tust du das«, sagt er leise, aber er flüstert nicht.

»Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Nick liebe«, wiederhole ich.

»Ich weiß.«

Ich lege meinen Hals frei. »Also los, fang an.«

Er lacht. Er lacht wirklich. »So geht das nicht. Wir sind keine Vampire.«

»Wohin küsst du mich dann? Dieser Idiot von Elf hat es einmal versucht. Aber ich kann mich nicht richtig erinnern, was er gemacht hat.«

»Auf die Lippen, nicht den Hals.«

Da erinnere ich mich daran, wie Ians Gesicht immer näher kommt. Das Böse in ihm war wie ein Gas in der Luft. Er hat mir den Arm gebrochen. Er wollte mich brechen. Ich schiebe die Erinnerung aus meinem Kopf hinaus und frage: »Wird es wehtun?«

»Vielleicht. Du solltest …«

Jemand klopft an die Tür. »Wachdienst.«

Astley springt auf und murmelt einen Fluch. »Wir müssen uns verstecken.«

Er gibt mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich unter das Bett kriechen soll. Er kommt auch. In seinen aufgerissenen Augen liegt ein gehetzter Ausdruck. Über uns baumeln Staubmäuse zwischen Bettfedern aus Metall Wieder klopft es: »Wachdienst.«

Astley legt einen Finger an die Lippen und nimmt meine Hände. Es ist schrecklich eng hier unten, und ich bin furchtbar allergisch gegen Staub. Meine Nase juckt. Seine Augen werden groß. Eine Schlüsselkarte wird durch den Schließmechanismus geschoben.

»Leg einen Zauber über uns«, flüstere ich verzweifelt. »Wie beim Fliegen, damit er uns nicht sieht.«

Er zuckt zusammen, als ob er es nicht fassen könnte, dass er nicht selbst daran gedacht hat, und kneift dann einen Augenblick lang die Augen zu. Ich drücke die Daumen, dass es klappt.

Schwere Schuhe trampeln ins Zimmer. Ein Funkgerät knistert. Die Schranktür schwingt auf. Die Schritte werden lauter, als der Wachmann auf den Linoleumboden des Badezimmers tritt. Meine Nase explodiert. Ich kann nichts dafür. Gleich werde ich niesen. Astley nimmt meine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und drückt zu. Meine Ohren platzen. Schmerz wogt in meinen Augäpfeln, aber es ist kein Ton zu hören, als sich das Niesen entlädt.

Dennoch zeigen sich Finger am unteren Ende des Bettes, und die Staubkrause wird angehoben. Zwei braune Augen und eine schmale Nase erscheinen. Wenn er unter das Bett fasst, kann er unsere Füße berühren. Ich versuche, ihm telepathische Botschaften zu senden: Fass nicht unters Bett.

Der Stoff fällt wieder nach unten. Die Füße ziehen sich auf den Flur zurück, und die Tür schlägt zu. Ich reiße den Kopf zurück, um meine Nase freizubekommen.

»Das war knapp«, flüstere ich.

Er nimmt mein Gesicht in seine Hände: »Bist du sicher, dass du es tun willst?«

Ich nicke und zwinge die Wörter aus mir hinaus: »Ich bin mir sicher.«

»Es gibt kein Zurück, Zara.« Seine Finger gleiten an meinen Wangen herab und zwirbeln meine Haare.

»Ich weiß.«

Seine silberfarbenen Augen sind so nah. Sein Atem berührt die Haut neben meinen Lippen, eigentlich sogar knapp über meinen Lippen. »Ist dein Wolf das wert, Zara? Ist er es wert, dass du dein Menschsein aufgibst?«

»Ja, er ist es.« Ich schließe die Augen und stelle mir Nick vor, und dann Is, Gram und Devyn. Ich stelle mir sogar Cassidy und Callie und Giselle vor. »Sie alle sind es wert.«

Meine Worte schweben eine Weile in der Luft. Dann krabbeln wir unter dem Bett hervor und setzen uns hin. Meine Hände liegen in meinem Schoß. Mein Handgelenk blutet immer noch. Wichtig ist nur, dass ich gesund genug bin, um es zu tun, und dass ich überlebe. Dass ich überlebe, um Nick zurückzuholen, überlebe und in meinem Verhalten weiterhin menschlich bleibe.

Hier darf nichts schiefgehen.

Und meine Ängste? Ich muss sie einfach beiseiteschieben. Astley riecht nach Pilzen und nach Mann. Er riecht nach Erde und kaltem Wind. Einen Augenblick lang öffne ich die Augen, aber sein Gesicht ist so nah, dass es verschwimmt.

»Ich werde es jetzt tun.« Seine Lippen sind meinen so nahe, das sie mich berühren, als er »werde« und »tun« sagt.

Meine Hand ballt sich zur Faust, und das Blut scheint noch schneller aus meinem Handgelenk zu tropfen.

»Entspann dich, Zara. Es ist viel weniger gefährlich, wenn du entspannt bist. Ehrenwort.« Er rutscht ein bisschen von mir ab. Ich spüre es. Die Luft bewegt sich. Ich spüre seine Begierde, ehrlich, aber ich spüre auch, wie er versucht zu warten, stark zu sein.

»Ich habe das Gefühl, dass ich Nick betrüge«, platze ich heraus.

»Weil du mich küsst?«

Ich öffne die Augen. »Ja.«

Er hat sich mit seinem Zauber umgeben, sodass er wieder wie ein hübscher junger Mann aussieht. Seine Nase kräuselt sich ein bisschen, als er mich betrachtet, um aus mir klug zu werden. »Glaubst du, er wird dich danach überhaupt noch lieben? Dein Wolf ist ein bisschen fanatisch.«

»Ich war auch fanatisch.«

»Aber du bist es nicht mehr.«

Ich zucke die Achseln. »Ich weiß nicht. Es ist nicht so einfach mit dem Fanatismus. Er ist da, und dann ist er auf einmal weg. Wie ein gefährlicher Keim, der darauf wartet, zuzuschlagen und dich zu infizieren, wenn du gerade denkst, dass ein Antibiotikum ihn aus deinem Körper vertrieben hat. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass … dass … Ach! Können wir es jetzt einfach tun?«

Ohne nachzudenken, strecke ich die Arme aus und nehme sein Gesicht in meine Hände. Ich bin nicht schrecklich stark, immerhin ist ein Arm verletzt und der andere blutet. Aber ich schaffe es, seinen Kopf ein kleines Stückchen zu mir heranzuziehen. Unsere Lippen berühren sich. Nichts passiert. Lippen berühren Lippen, sonst nichts. Ich starre in seine grasgrünen Augen. Sein Gesicht sieht jetzt nicht mehr so verschwommen aus. Ich weiß nicht, warum. Ich ziehe mich langsam zurück. Ich will ihn fragen, warum nichts passiert.

Aber ich komme nicht dazu. Seine Hände, seine nicht verletzten Hände, umfassen meinen Kopf. Er zieht mein Gesicht näher zu sich heran. Unsere Lippen drücken sich aufeinander. Die Welt wird schwerelos. Es gibt nur noch unsere Lippen, nur noch unsere Lippen, die sich berühren. Rauch. Staub. Licht und Erde und Wind. Die Welt trudelt davon und verliert sich Schicht um Schicht. Ich weiß es. Ich weiß es, aber ich kann es nicht aufhalten. Ich kann gar nichts aufhalten. Für mich gibt es nur noch den Kuss.

Begierde.

Sonst nichts. Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich seine Lippen noch fester auf meine pressen. Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich ihn bitten, niemals aufzuhören.

Worte.

Seine Lippen bewegen sich unter meinen. Er küsst noch, murmelt aber gleichzeitig Worte in einer Sprache des Himmels und der Götter, der Sprache der Elfen. Es muss die Sprache der Elfen sein. Seine Finger spreizen sich in meinen Haaren. In meinem Kopf pochen Worte, denen ich keine Bedeutung zuordnen kann.

Schmerz.

Und dann verändert sich alles. Die Worte züngeln wie Flammen in meinem Kopf. Meine Haut brennt von einem Feuer, das direkt aus meinen Neuronen zu schießen scheint. Seine Lippen verlassen meine Lippen, und ich bin allein. Ich bin aufgebraucht, verzehrt. Mir tut alles weh. Ich bin verloren. Verloren. Verloren!

»Astley!«, keuche ich seinen Namen.

Seine Hände schieben sich unter mich und heben mich auf das Bett. Ich zucke. Ich weiß, dass ich zucke. Er schiebt mir vorsichtig die Haare aus der Stirn. »Es hat angefangen. Es wird alles gut, Zara. Ich werde die ganze Zeit hier sein.«

»Mach, dass es aufhört«, stöhne ich.

»Das kann ich nicht. Ich kann dich nur an meiner Kraft teilhaben lassen und es dir leichter machen.«

»Das. Ist. Leichter?«

Er lacht. Es klingt traurig. Ich versuche die Augen zu öffnen, um ihn anzusehen, aber es gelingt mir nicht. Ich habe das Gefühl, als würde jemand rote Erde in unzählige kleine Wunden auf meinem ganzen Körper reiben. Ich stoße keuchend die Worte aus. Die kleinen Wunden fräsen sich tiefer in meinen Körper hinein. Sie schlängeln sich zu meinen Venen, zu meinen Muskeln und zu meinen Knochen.

»Es wird nicht lange dauern«, versichert er mir. Seine Hand liegt auf meiner Stirn. »Ich verspreche es dir. Du wirst es überleben. Spüre meine Hand. Spüre meine Kraft. Sie ist jetzt dein, meine Königin. Ich verspreche es dir. Ich bin dein.«

Mein Kopf schwimmt. Vor meinen Augen blitzen Bilder auf. Issie, die über den Flur hüpft, weil sie eine Drei in ihrem Physiktest geschrieben hat. Mein Stiefvater, der die Arme ausbreitet, um mich zu umarmen, nachdem ich zum ersten Mal eine Meile unter fünf Minuten gelaufen war. Meine Mom, die mir mit meiner Barbie-Prinzessinnenbürste die Haare bürstet. Meine Mom, die mit mir zusammen im Pool schwimmt, mit geschlossenen Augen »Marco« ruft, lacht und nach mir sucht. Betty, die aufgewärmte Spaghetti am Pfannenboden anbrennen lässt. Nick. Nicks wunderschöne braune Augen, Nick, der zusammen mit mir Amnesty-International-Briefe schreibt, und der Stift verschwindet in seiner supergroßen Hand. Nicks Lippen, warm und wild und wirklich. Nick, der in den Himmel fortgetragen wird.

Ich schreie.

Astleys Hand legt sich auf meinen Mund. »Ich werde jetzt dafür sorgen, dass du ohnmächtig wirst, Zara. Du darfst nicht schreien. Wir sind in einem Hotel. Die anderen Gäste könnten dich hören. So ist es besser.«

Das Letzte, was ich höre, ist sein Versprechen, dass alles gut werden wird. Das Letzte, was ich denke, ist Nicks Name, eine Silbe, die mir alles in der Welt bedeutet. Nick. Ich halte an diesem Namen fest, halte an ihm fest, während mein Körper ins Leere trudelt. Aber dann kommt auch er mir abhanden, und ganz zum Schluss denke ich an mich, an Zara. Was werde ich sein, wenn ich wieder aufwache? Ich weiß nicht einmal, ob ich das überlebe, und wenn, vielleicht bin ich dann so böse, so abscheulich, dass Devyn mich töten muss oder dass ich mich selbst töten muss. Gewaltiger Jammer erfüllt meine Seele. Ich habe gerade eben den größten und schrecklichsten Fehler begangen: Ich habe mich selbst verraten.