Elfen-Tipp
Zögere nicht, einen Elf zu töten. Töte ihn einfach.
Nach einem knappen Kilometer habe ich endlich ein Netz. Ich halte an, drücke die Kurzwahltaste und eile dann hinter das Schneemobil zu Nick.
»Gram?«, platze ich heraus, kaum dass es in der Leitung klickt.
»Nö. Hier ist Officer Clark. Bist du das, Zara?«
»Ja, ja.« Ich schaue in den grauen Himmel hinauf, linse durch die Bäume zu ihm hinauf, als ob er alles in Ordnung bringen könnte. »Ist Betty da?«
»Ähm.« Officer Clark räuspert sich. »Es ist gerade sehr schlecht, Zara. Wir haben … Nun, ein Unfall.«
»Was?« Ich wirble herum und lasse dabei fast das Telefon fallen. »Ist mit Gram alles in Ordnung?«
»Ihr geht’s gut. Sie hilft. Es ist nur … es ist schlimm. Ich muss los. Ich sag ihr, dass sie dich anrufen soll.«
»Moment. Sagen Sie ihr …«
Er hat aufgelegt. Ein Eichhörnchen paradiert auf einem Ast wie ein verrückt gewordener Kaiser. Es keckert mich an.
»Ich weiß schon, ist ja gut«, gebe ich zurück.
Ich schaue nach Nick. Er atmet nur noch ganz flach. Die Jacke, mit der ich ihn zugedeckt habe, ist voller Blut. Ich knurre ihn an, dass er kämpfen soll, und rufe dann Issie an. Es klingelt und klingelt.
»Hey, Zara.« Ihre Stimme klingt gedämpft, aber vertraut.
Ich schlucke erleichtert. Dann gehe ich neben Nick in die Hocke, berühre seinen schlafenden Körper mit der flachen Hand und suche den Himmel nach Feinden ab.
»Zara?« Ihre Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und verwandelt mich.
»Issie. Wir haben ein Problem. Ein großes Problem.«
»Was?«
Meine Hand, die auf seinem Fell liegt, fängt an zu zittern. Ich kann es nicht verhindern. »Es geht um Nick. Er ist verletzt, richtig schlimm verletzt. Und die Elfen … ein paar sind tot und die anderen sind weg.«
»Wovon redest du? Du warst nicht in dem Bus, oder?«
»Was für ein Bus? Issie, hör zu! Da waren andere Elfen. Sie haben Nick angegriffen und …«
Ich schweige, weil es sich anhört, als hätte Issie das Telefon fallen gelassen.
»Issie? Issie?«
Nicks Lider zucken, und seine wunderschönen Wolfslippen bewegen sich ein klitzekleines bisschen. Trotz meiner Sorgen, trotz meiner Angst erkenne ich, dass er verzweifelt versucht, durchzuhalten.
»Zara, hier ist Dev. Issie ist ohnmächtig geworden. Kann ich dich zurückrufen?« Dev klingt abgelenkt und gestresst.
»Nein!«, schreie ich in das Telefon. »Du kannst mich nicht zurückrufen. Nick ist …«
Aber er ist schon weg. Ich rufe noch einmal an, aber niemand nimmt ab.
»Scheiße!« Laut und widerhallend trägt dieses eine Wort meine ganze Enttäuschung in sich.
Doch im selben Augenblick bedaure ich, dass ich es laut hinausgeschrien habe. Im Wald könnten Elfen lauern. Vielleicht haben sie beobachtet, wie ich das Schneemobil langsam durch den Wald gesteuert und Nick auf der Decke hinterhergezogen habe. Vielleicht haben sie mich beobachtet und warten nur auf den richtigen Augenblick, um zuzuschlagen.
An dem Schneemobil ist seitlich ein eiserner Schürhaken angebracht, nicht die ideale Waffe, aber besser als nichts. Ich reiße das Klebeband ab, mit dem er befestigt ist, und nehme ihn in meine gesunde Hand. Dann eile ich zurück zu Nick. Er hat sich wieder in einen Menschen verwandelt.
»Nick?« Meine Stimme ist winzig klein. Ich lasse den Schürhaken in den Schnee fallen und sinke auf die Knie. Ich berühre sein Gesicht. Alle Farbe ist aus seiner Haut gewichen. Unter den Decken schaue ich nach seinen Wunden. Er ist überall verletzt und blutet am ganzen Körper. »Baby?«
Er stöhnt.
»Nick?« Etwas Nasses fällt von meinem Gesicht herab auf seine Wange. Tränen. »Ich hole Hilfe, okay?«
Seine Augen öffnen sich. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihnen. Schmerz verschattet sie. Seine Lippen bewegen sich. Ich beuge mich über ihn. »Ich versteh dich nicht.«
»Ich sterbe«, flüstert er.
»Nein, das tust du nicht«, beharre ich. Ich küsse ihn auf die Stirn. Sie glüht. »Du wirst nicht sterben.«
Seine Augen schließen sich. Er bäumt sich auf. Ich drücke mit der Hand gegen seine Schulter und verbrenne mich fast. »Du musst ruhig liegen bleiben, Baby. Bleib liegen, sonst wird alles nur noch schlimmer.«
Seine Augenlider flattern, und sein Körper beruhigt sich. Es sieht aus wie ein gewaltiger Kampf, aber er schafft es, seine Augen wieder zu öffnen. Ich beuge mich wieder zu ihm hinunter und presse meine Lippen auf seine. »Du wirst bald in Sicherheit sein. Ich schwöre es. Ich werde dich beschützen.«
Seine Lippen bewegen sich unter meinen. »Ich liebe dich.« Einen Augenblick lang liegt in seinen Augen der kraftvolle, eindringliche Blick von Nick. »Und ich werde dich immer lieben, egal was passiert.«
»Wir werden uns immer lieben«, sage ich. »Okay? Ich muss dich jetzt zurückbringen. Wir fahren zur Straße, und dort rufe ich einen Krankenwagen und alles wird gut …«
Seine Augen schließen sich. »Mach … dir … keine … Sorgen … du wirst … immer …«
Ich nehme seinen Kopf in beide Hände und hebe ihn an: »Bleib wach! Nick, Baby, du musst bei mir bleiben.«
Hinter mir ertönt eine weibliche Stimme: »Er kann nicht.«
Mein ganzer Körper bebt. Ich drehe mich nicht um. Ich werde sie nicht anschauen. Ich weiß, wer sie ist. Die Walküre. Thruth. Ein wilder Zorn wallt in mir auf. »Verpiss dich.«
Die Luft hinter mir bewegt sich. Sie macht einen Satz über uns hinweg und landet auf der anderen Seite von Nick. Ihre Schwingen sind sehr kräftig. Ein Schimmer umgibt sie, aber ihr Gesicht erinnert keineswegs an einen glücklichen Engel, eher an den kalten Stahl eines Messers. Es zerreißt mich fast.
»Du kannst diesen Krieger nicht retten«, sagt sie. Jedes Wort schneidet in meinen Magen ein. Jedes Wort ist ein Todesurteil, das ich nicht annehmen will.
Ich packe den Schürhaken und steige vorsichtig über Nick, sodass ich ihr direkt gegenüberstehe. Sie muss durch mich hindurchgehen, wenn sie ihn holen will. Meine Finger schließen sich fester um das kalte Eisen. »Ich lasse nicht zu, dass du ihn holst.«
»Du hast keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl.« Ich habe keinen Körperkontakt zu Nick, ich möchte ihn berühren, um sicherzugehen, dass er noch da ist. Ich trete ein bisschen zurück, sodass meine Ferse seinen Arm leicht berührt. Er bewegt sich nicht.
Thruths Schwingen erinnern mich an ein schwarzes, auf dem Kopf stehendes Valentins-Herz. »Nein«, sagt sie. »das stimmt nicht. Man hat nicht immer eine Wahl.«
Der Wind um uns herum wechselt die Richtung. Er treibt mir kalte Schneekristalle in die Augen. Ich frage mich, ob sie dahintersteckt.
»Du willst lieber, dass er hier stirbt, statt sein Leben als ein Kämpfer für das Gute in den Hallen von Walhalla fortzusetzen?« Sie grinst mich höhnisch an. »Du bist habgierig und egoistisch, typisch für einen Menschen.«
»Er wird nicht sterben«, beharre ich.
Sie nickt. Eine Sekunde lang huscht ein freundlicherer Ausdruck über ihr Gesicht. »Doch, er wird sterben, und zwar bald.«
Etwas in mir krampft sich zusammen. Verzweiflung erfüllt meinen Kopf und mein Herz. Meine Hände zittern, und meine Finger lockern ihren Griff um das Metall. Nick stirbt. Er stirbt, und ich kann ihn nicht retten. Er ist so blass und atmet kaum noch. Sein Körper ist wie eine Hülle, wie ein Mantel, der an einer Garderobe hängt, leblos und leer. Mein Körper sinkt in sich zusammen, aber dann richte ich mich mühsam wieder auf. Ich versuche, ihr den Schürhaken zu geben. »Dann töte mich. Nimm mich auch mit. Nur … nur lass mich nicht … Ich darf ihn nicht verlieren.«
Sie schüttelt den Kopf. Der Wind fährt in ihre wallenden Haare. Der Blick ihrer Augen wird hart. »Du bist kein Kämpfer. Du bist nur ein Mädchen. Ein Menschenmädchen.«
Jemand schluchzt. Das bin ich, und ich flehe sie an: »Bitte.«
Sie bewegt sich nicht. Der Wind legt sich. Die Luft ist auf einmal ganz klar, keine herumwirbelnden Schneekristalle behindern die Sicht. Ich kann alles an Thruth genau erkennen, jedes Haar, jede Feder. Doch ich flehe weiter und will es nicht akzeptieren.
»Bitte … Ich bin zur Hälfte Elf. Ich bin kein Mensch.« Ich fuchtle wild mit dem Schürhaken in ihre Richtung. »Ich färbe mich blau. Das ist typisch Elf. Nimm mich mit. Wenn du ihn mitnehmen musst, dann nimm mich auch mit!«
»Nein, ein Elternteil von dir ist ein Elf. Du bist immer noch ein Mensch, vielleicht bist du besonders empfänglich für Elfenmagie, oder vielleicht bist du dazu bestimmt, ein Elf zu werden, aber jetzt bist du ein Menschenmädchen. Nur ein Menschenmädchen.« Ihre Schultern bewegen sich ein kleines bisschen, und sie tritt einen Schritt vor. »Du bist noch kein Kämpfer. Du hast nicht getötet.«
Etwas in mir ballt sich zusammen: »Komm. Nicht. Näher.« Ich drehe den Schürhaken und steche in ihre Richtung. »Sonst bist du die Erste.«
Ihre Lippen zucken, als würde sie gleich lächeln. Sie empfindet mich in keiner Weise als Bedrohung. Witternd atmet sie die Luft ein: »Da kommen Elfen, Kleine.«
Sie zeigt hinter mich.
Ich drehe mich nicht um. Darauf falle ich nicht herein. »Du lenkst mich nicht ab.«
Sie seufzt. »Die Zeit deines Kriegers ist gekommen. Ich muss mich beeilen, sonst verlieren wir ihn beide.«
Ihre Haltung verändert sich. Ich wappne mich und stoße den Schürhaken in ihre Richtung. Sie schubst mich mit dem Arm zur Seite wie einen kleinen Hund.
»Nein!« Ich schreie das Wort heraus wie einen Fluch, wie ein Gebet und wirble zu ihr herum. Ich stürze mich auf sie und bekomme sie genau in dem Moment am Knöchel zu fassen, als sie Nick in ihre Arme nimmt. Meine Nägel ritzen ihre Haut auf. Ihr Blut ist rot. Ich benutze auch meine verletzte Hand, um besser festhalten zu können. »Du darfst ihn nicht mitnehmen.«
Ihre Schwingen spannen sich an und breiten sich über uns aus. Der Wind fährt unter sie, und sie hebt ab. Sie hebt ab und reißt mich mit
»Lass los«, sagt sie.
»Nein!« Ich verliere den Boden unter den Füßen. »Nein.«
Wir steigen auf. Einen halben Meter. Und noch einen halben Meter.
Ihre Stimme klingt frustriert. »Lass los, Mädchen! Menschen ist der Zutritt zu Walhalla verwehrt.«
»Du darfst ihn nicht mitnehmen.« Meine Finger rutschen ab. Mein verletzter Arm schlenkert nutzlos neben meinem Körper. Verdammt! »Ich brauche ihn.«
Wir steigen weiter auf. Jetzt sind wir schon fast zwei Meter hoch. Mir egal. Ich habe keine Angst vor Höhe. Ich habe nur Angst, Nick zu verlieren.
»Lass ihn los«, flehe ich. »Ich kann mich um ihn kümmern. Bitte …«
Sie schüttelt ihr Bein. »Du bist schlimmer als ein bettelnder Hund. Wo ist deine Ehre?«
»Er gehört mir!«, schreie ich. Meine Finger zittern von der Anstrengung, mein ganzes Gewicht halten zu müssen. »Ich liebe ihn. Bitte.«
»Es tut mir leid«, flüstert sie und schüttelt ihr Bein noch einmal. »Wir brauchen den Wolf für die Schlacht. Wenn er tot in der Erde verrottet, ist er für niemanden von Nutzen. Und jetzt lass mich los.«
Sie tritt mit ihrem anderen Fuß nach mir. Ihre Ferse kracht in meine Finger. Sie verkrampfen sich. Nur eine Sekunde lang lockert sich mein Griff, aber das genügt. Ich falle. Meine Füße treffen zuerst auf dem Boden auf. Die Erschütterung des Aufpralls, als die Schwerkraft mich wiederhat, dröhnt bis in meinen Kopf hinauf, aber ich schwanke fast nicht. Meine Knie beugen sich. Ich lasse mich nicht unterkriegen, doch eine Sekunde später plumpse ich nach hinten auf den Schürhaken. Ich spüre das harte, kalte Metall links von meiner Wirbelsäule. Ich schaue nach oben.
Sie sind weg.
Ich konnte ihn nicht retten. Ich konnte ihn nicht halten.
»Nein.« Ich schreie das Wort nicht heraus. Ich flüstere es. Ich flüstere es immer wieder und wieder, bis es eine Art verrückter Singsang wird. »Nein. Nein. Neinnein. Neinneinneinneinnein …«
Mein Inneres ist leer wie der Himmel. Nur dieses eine riesige Loch, das aus meinem Magen herauswächst und immer größer und größer wird und alles von mir auslöscht, Nick. Nick ist tot.