Elfen-Tipp
Auch wenn der Volksmund es anders erzählt, ziehen Elfen es nicht vor, nackt zu sein. Zum Glück tragen sie Kleider. Das bewahrt sie vor vielen Anzeigen wegen unsittlicher Entblößung und vor Erfrierungen.
Als ich aufwache, bin ich allein im Wagen und Issie klopft gegen die Scheibe. Die Haare, die sie nicht unter ihren bunt gestreiften Hut gestopft hat, flattern im Wind.
»Zara!«, schreit sie, und ihre kleine Faust trommelt gegen das Glas. »Zara! Mach auf!«
Ich entriegle die Tür.
»Devyn! Beeil dich!« Is reißt die Tür auf und beugt sich ins Auto. Sie kriecht fast auf mich drauf, »Oh mein Gott, alles in Ordnung? Alles in Ordnung? Ich dachte, du wärst tot.«
»Ich bin nicht tot«, stoße ich hervor und fahre mir mit der Hand über die Augen. »Aber ich fühle mich so. Total groggy.«
»Das ist kein guter Ort zum Schlafen! Oh mein Gott, ich will dir ja nicht zu nahe treten oder deine Entscheidungen anzweifeln, aber das ist gefährlich, Zara. Dein Auto ragt zur Hälfte aus der Parklücke raus, aber der Motor ist nicht an«, sprudelt es aus Issie heraus. Ihre Augen sind groß wie die eines völlig verrückten Hasen.
»Er muss den Motor abgestellt haben«, sage ich. Ich kann immer noch nicht fassen, was geschehen ist.
»Deine Haut sieht komisch aus. Fast bläulich. Moment. Er? Wen meinst du? Nick?« Sie kommt mit ihrem Gesicht dicht an meine Nase. Kalte Luft strömt durch die offene Tür, während sie mir in die Augen schaut.
Ich bin quer über den Vordersitzen zusammengesackt, und auf dem dunkelblauen Polster ist ein peinlicher Sabberfleck. Ich setze mich auf. »Ach, dieser verdammte Elfentyp.«
Is ringt nach Luft. »Was hast du gesagt?«
Er muss mich irgendwie k.o. geschlagen haben. Keine Ahnung, wie. Ich taste meine Schulter ab, aber dort ist nichts. Keine schmerzenden Stellen. Kein Blut. Am Griff der Beifahrertür klebt Blut, aber das ist alles. Das einzige Zeichen, dass jemand hier war.
Devyn erscheint. Hinter ihm steht Cassidy. Ihre behandschuhte Hand ruht auf seinem Rollstuhl, als würde er ihr gehören. Devyns Gesicht legt sich in sorgenvolle Falten. »Zara? Was ist passiert?«
Ich schaue ihn nur groß an und werfe einen Blick auf Cassidys besorgte Miene. Ihre Zöpfe flattern im Wind. »Nichts. Ich … ich bin bloß eingeschlafen und … äh …«
»Sie ist gegen die Handbremse gekommen, und der Wagen ist weggerollt«, springt Issie mir bei.
Cassidys Augen verengen sich. Sie sieht gut aus mit ihrem dunklen Teint. Sie ist viel größer als Is, viel schicker und offenbar sehr viel schlauer. »Aber hier ist doch gar kein Gefälle.«
»Ach, die Schwerkraft, du weißt schon«, verhaspelt sich Issie. »Die zerrt doch eigentlich immer an dir, oder?«
Sie stößt Devyn so heftig den Ellbogen gegen die Schulter, dass sein Rollstuhl sich zur Seite dreht. Cassidy hält ihn auf. Er sucht ihren Blick und sagt: »Danke.«
Alles scheint sich wie in Zeitlupe zu bewegen, und ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass ich ein bisschen benommen bin, oder an Issie. Sie heftet ihren Blick auf Devyn. Devyn schaut immer noch Cassidy an, und Cassidy lächelt bewundernd zu ihm hinunter. Scheiße.
»Bist du sicher, dass dir nichts passiert ist, Zara?«, fragt Devyn, als er es geschafft hat, wieder zu uns zu schauen. Es ist offensichtlich, dass jedes seiner Worte eine doppelte Bedeutung hat. Aber ich kann ihm auf keinen Fall die Wahrheit sagen, nicht wenn Cassidy dabei ist.
Also benutze ich das Codewort, das wir ausgemacht haben. »Ich bin absolut getinkert.«
»Was heißt denn das? Getinkert?«, fragt Cassidy und zieht an ihren Mantelärmeln.
Einen Augenblick lang schweigen wir alle. »Getinkert« ist unser Codewort für »Tinkerbell«, und das wiederum ist der Code für »überraschende Elfenbegegnung«.
»Müde. Fertig. Kaputt. Ein Zustand völliger Erschöpfung«, lügt Devyn zuverlässig mit seiner Professorenstimme.
Cassidy lächelt ihn an. »Ach so. Ich bin nach Mr Burns Klausuren immer vollkommen getinkert. Du auch, Zara? Der Typ ist grausam. Ich dachte, Bio soll Spaß machen.«
Ich nicke ein bisschen zu aggressiv, denn die Welt um mich herum verschwimmt wieder. Issie beugt sich vor. »Du siehst fast blau aus, Zara, und du bist viel blasser als sonst.«
»Ja«, presse ich hervor, »die Klausur hat mich fast umgebracht.«
Einen Augenblick lang schweigen alle unbehaglich. Cassidy bricht als Erste das Schweigen. Sie kratzt sich und sagt dann: »Okay, Devyn, bist du soweit?«
»Ich … äh.« Er fummelt an dem Ordner herum, der auf seinem Schoß liegt. Es ist das Buch, an dem wir arbeiten. »Ja. Cassidy fährt mich nach Hause.«
»Du meine Güte. Das klingt ja wie eine Entschuldigung.« Cassidy streckt ihre langen Arme über dem Kopf aus. Sie zieht ihren langen blauroten Schal zurecht und wirft Issie einen merkwürdig forschenden Blick zu. Dann kratzt sie sich an der Stelle, wo der Schal gerade ihre Haut berührt hat, und scherzt: »Ist es so schrecklich, mit mir heimzufahren?«
»Nein«, brummelt er. »Ich habe das nicht so … ich hab das überhaupt nicht so gemeint.«
Er schaut Issie nicht an. Ihr Gesicht sieht aus wie ein zerknautschter Ball. Einen Augenblick lang vergesse ich den Elfentypen. Issies Schmerz wischt alles andere weg.
»Ruf mich gegen später an, Zara«, ruft Devyn, während er sich von Cassidy zum Auto schieben lässt.
Issie lässt sich auf den Beifahrersitz meines Wagens fallen. »Kannst du fahren?«
»Jep.«
»Dann fahr«, befiehlt sie. »Und zwar so schnell wie es irgend erlaubt ist, damit wir von hier wegkommen.«
Ich lasse Yoko an, steure auf die Fahrspur des Parkplatzes und fahre über etwas, das mit einem schrecklichen Geräusch zusammengepresst wird, als der Reifen darüberrollt. Ich stoße die Tür auf und spähe hinaus – eine weggeworfene Cola-Dose, die jetzt ganz platt ist. Ich ziehe die Tür wieder zu, und sobald der Wagen richtig in der Spur ist, strecke ich den Arm aus und streiche Issie die Haare aus dem Gesicht.
»Is, willst du …?«, fange ich an.
»Nein, wir werden nicht darüber reden. Mein Liebeskummer – oder was auch immer – ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass du im Auto ohnmächtig warst. Also rede. Sofort.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust.
»Aber …«
»Im Ernst, Zara, erzähl mir einfach, was passiert ist.«
Und ich erzähle.
Kaum habe ich Issie zu Hause abgesetzt, ruft Devyn an und will wissen, was los ist.
»Das kann man am Telefon schlecht erklären«, sage ich ihm. »Kann ich kurz bei dir vorbeikommen?«
In diesem Augenblick dämmert es mir: Ich war noch nie bei Devyn zu Hause. Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt. Bleiernes Schweigen breitet sich in der Leitung aus, dann meint er: »Nein.«
Ich biege mit Yoko in unsere Einfahrt ein und schaue zu dem niedlichen, mit Holzschindeln verkleideten Haus hinauf, wo meine Großmutter Betty und ich leben. Es sieht so einladend aus, so normal, gar nicht wie ein Ort, an dem ein Elfenkönig sein Unwesen getrieben hat. Devyn war schon xmal hier und hat mit mir zusammen an unserem Elfenbuch gearbeitet, recherchiert oder einfach nur herumgehangen. In meinem Innern zieht sich etwas zusammen. Was ist los mit ihm? Er ist dauernd mit Cassidy zusammen, lässt Issie sitzen, lädt mich nicht zu sich nach Hause ein. Ich kann den rauen, unfreundlichen Ton in meiner Stimme nicht unterdrücken. »Warum? Ist Cassidy da?«
»Nein.«
Jetzt ist es an mir, zu schweigen. Ich schiebe den Ganghebel auf Parken, stelle aber den Motor noch nicht ab, damit die Heizung weiterläuft. Ein Teil von mir möchte ihn fragen, was da mit Cassidy läuft. Auf einmal ist sie dauernd mit ihm zusammen, als wenn sie eine wichtige Person in unserem Leben wäre. Ich möchte ihm die Hölle heiß machen, weil er und Issie zusammengehören, weil es Issie jedes Mal das Herz bricht, wenn sie ihn mit Cassidy sieht. Stattdessen sage ich: »Warum dann nicht?«
»Es passt gerade nicht besonders gut«, antwortet er. »Tut mir leid, Zara.«
Ich fühle mich abgewiesen. So schnell wie möglich erzähle ich ihm, was passiert ist. Als ich fertig bin, lege ich den Kopf auf das Lenkrad. Es riecht aus irgendeinem Grund nach Ketchup.
»Spannend.« Er hält inne. »Das spricht für eine Mythologie hinter Werwesen und Wandelwesen, verstehst du? Das heißt, dass ich mit diesen nordischen Mythen richtig liege.«
»Hm. Kannst du deine wahnsinnigen Recherchefähigkeiten nutzen und dich auf Walhalla und Walküren konzentrieren? Ich kann es nicht fassen, dass es diese andere Elfenart gibt, von der wir bislang keine Ahnung hatten, Devyn. Das macht mir Angst.« Ich hebe den Kopf vom Lenkrad. Draußen ist alles weiß und kalt und öde. Der Wind bewegt die Kronen der Bäume und lässt sie am Himmel kratzen. »Kannst du Nick Bescheid geben? Und ihm erzählen, was passiert ist?«
»Ja, Zara. Ich sage ihm, dass du einen Elf befreit hast.« Er seufzt so laut, dass ich es durchs Telefon höre.
»Danke.«
»Er weiß, dass du ein weiches Herz hast, Zara. Mach dir keine Sorgen. Er wird nicht lange wütend sein.«
»Meinst du?« Ich öffne die Autotür und schaue mich um, ob ich irgendwo ein Anzeichen dafür entdecken kann, dass Elfen in der Nähe sind..
»Ich weiß es. Ich kümmere mich darum. Wow. Walküren und Walhalla. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten könnte …« Murmelnd legt er auf, ohne sich zu verabschieden.
Ich schließe die Wagentür hinter mir und gehe mit raschen Schritten den Weg zur Veranda hinauf. Ich nehme zwei Stufen auf einmal und schiebe, ohne den Kopf zu wenden, den Schlüssel ins Schloss. Ich drehe mich niemals um. Meine Angst, was ich dort draußen entdecken könnte, welche Gefahren hinter den Baumstämmen lauern könnten, ist viel zu groß.
Nachdem ich eine Stunde lang Hausaufgaben gemacht habe, fange ich an, das Wort »Walküre« zu googeln. Einer der ersten Treffer ist eine Website über den Hitler-Film mit Tom Cruise. Ich finde noch mehr Hinweise auf den Film und einen auf eine Porzellan-Fabrik, dann entdecke ich den ersten Treffer für die nordische Mythologie. Ich weiß, dass Dev bei sich zu Hause gerade genau dasselbe tut, aber egal … Ich kann nicht anders. Eigentlich finde ich nur heraus, dass die Walküren getötete Krieger nach Walhalla bringen, eine Halle in der Burg Odins, dem Hauptgott der nordischen Mythologie. Ja, auch ich kann irre gut recherchieren. Aber ich kann nicht herausfinden, ob es sich bei Walhalla um einen Ort auf der Erde handelt, sagen wir irgendwo in Norwegen, oder eher um einen Ort im Himmel.
Die Haustür geht auf. Ich wende den Blick nicht vom Bildschirm. »Hallo, Betty!«
»Nein, nicht Betty«, sagt Nicks Stimme. Er schließt die Tür hinter sich und betritt das Wohnzimmer. Nachdem er seine Jacke abgestreift hat, hängt er sie über den Pfosten unten am Treppengeländer.
Ich stelle meinen Laptop neben ein paar alte Stephen-King-Bände, die mein Stiefvater früher gelesen hat, auf den Couchtisch, springe auf und laufe ihm entgegen: »Du darfst nicht böse sein, ja? Ich war mir nicht hundert Prozent sicher, ob er ein Elf ist. Er lag im Sterben. Und das konnte ich nicht zulassen, und als dann diese Walküre-Frau kam, habe ich einfach … ach, keine Ahnung. Ich konnte nicht zulassen, dass sie ihn mitnimmt.«
Nicks Hand legt sich an meinen Hinterkopf. Er riecht nach Wald. Seine Augen schauen mich direkt an. Ich blicke nach unten, und er sagt: »Ich bin nicht wütend auf dich, Zara.«
»Gut!«
»Ich bin nur enttäuscht. Ich hätte ihn nicht dortlassen sollen, aber ich hatte keine Zeit mehr. Jetzt ist er wieder frei, und das ist echt Scheiße. Aber du … ich weiß schon. Du lässt nicht einfach jemanden sterben.« Sein Mund kommt näher, und er flüstert. »Ich bin nicht böse. Das ist ja ein Grund, warum ich dich so sehr mag.«
Der strenge Zug um seinen Mund weicht, und seine Lippen werden weich. Ich lehne mich an ihn. Unsere Lippen berühren sich, er ist so sanft und zärtlich. Seine Hand fährt durch meine Haare. »Aber du bist nicht ganz einfach.«
Wir setzen uns auf das Sofa und küssen uns weiter. Ich seufze glücklich und kuschle mich an ihm. »Dann müssen wir ihn jetzt wohl suchen. Tut mir leid.«
»Ich weiß.« Er lümmelt sich hin und legt den Kopf auf meinen Schoß. Seine langen Beine hängen seitlich über die Armlehne. Er lächelt und schließt die Augen. Ich streiche mit den Fingern über seine Stirn und über die zarte Haut seiner Augenlider. Er nimmt meine Hand und küsst sie. Dann lässt er sie los.
»Du bist so gut zu mir«, murmelt er, und dann ist er eingeschlafen. Einfach so. Typisch Junge.
Vorsichtig angle ich mir meinen Laptop und stelle ihn neben mich auf das Sofa. Ich suche weitere Informationen über die Walküren, bis ich ein leises Klopfen am Fenster höre. Es ist ein Rotkehlchen mit einem Stück Papier im Schnabel. Es klopft noch einmal gegen das Fenster und lässt das Papier fallen, bevor es wegfliegt.
Ich stehle mich so vorsichtig wie möglich von Nick weg, durchquere auf Zehenspitzen den Raum und öffne die Haustür. Das klein zusammengerollte Stück Papier liegt auf der Bank auf der Veranda. Ich sehe mich um. Keine Spur von dem Rotkehlchen. Ich entrolle das Papier. Die Schrift ist winzig und fast kalligraphisch.
Dein Wolf ist in Gefahr. Wenn du wissen willst, warum, musst du mich freilassen. Du hast zwei Tage. Keine Werwesen.
Ich stecke den Zettel in die Tasche und schlurfe wieder hinein. Nick stöhnt im Schlaf. Ich berühre seine Augenlider. Wenn Nick in Gefahr ist, habe ich keine Wahl. Natürlich nicht. Ich habe überhaupt keine Wahl. Ein Elf hat mich mithilfe eines Vogels gerufen. Eines Vogels? Panik erfüllt mich. Wenn er mich mithilfe eines Vogels rufen kann, kann er dann auch jemand anders rufen? Vielleicht gerettet werden? »Das ist nicht gut«, murmle ich. »Das ist ganz und gar nicht gut.«