Elfen-Tipp

Elfen gibt es nicht nur in England. Das ist eine große Lüge. Sie sind überall.

 

Ich rufe meine Mutter an, um sie zu warnen. Machen wir uns nichts vor: Mein biologischer Vater ist hungrig und voller Begierde, und in diesem Zustand will er meine sehr menschliche, sehr verletzliche Mutter, die Frau, die seine Königin sein soll.

Wie durch ein Wunder komme ich durch, denn sie ist auf den Outer Banks, und der Empfang dort ist katastrophal. Wie hier gibt es dort auch nicht genügend Funkmasten. Ich hasse es.

Ich erzähle ihr, was passiert ist, lasse aber den Teil über Nick und meinen Plan aus. Ich habe genug damit zu tun, dass Devyn und Issie dagegen sind. Stattdessen quetsche ich sie über den Busunfall aus, weil ich wissen möchte, warum so etwas passiert.

Sie räuspert sich. Das macht sie immer. »Wenn der Elfenkönig hungrig ist, sucht er sich einen jungen Mann und saugt sein Blut. Du hast das bei Jay Dahlberg gesehen.«

»Okay. Dann erklär mir, was es mit diesem Überfall auf sich hat.«

»Vermutlich passiert so etwas, wenn der König schwach ist oder sich nicht kümmert und die Elfen außer Rand und Band geraten. Du kannst über deinen Vater sagen, was du willst, Zara, aber er hatte eine gewisse Kontrolle über sich selbst, und er hatte die Elfen gut im Griff, über die er herrschte.«

»Du redest, als würdest du ihn mögen.«

Sie seufzt. »Tu ich nicht. Es ist nur … Er bemüht sich sehr darum, anständig und lieb zu sein, obwohl das nicht gerade seiner Natur entspricht. Ich muss es ihm hoch anrechnen, dass er sich bemüht.«

»Ja. Das ist so ähnlich, als würdest du es einem Serienmörder hoch anrechnen, wenn er nur jeden zweiten Monat jemanden umbringt.«

»Zara, das ist nicht dasselbe.«

»Nicht?«

Ich kenne sie so gut, dass ich vorhersagen kann, was sie tut. In diesem Augenblick kreuzt sie die Beine unten bei den Knöcheln und fährt sich mit ihrer schmalen Hand durch die Haare. »Du bist wie Daddy.«

Sie meint meinen Stiefvater, derjenige, der mich aufgezogen hat, derjenige, der gestorben ist. »Das will ich hoffen.«

»Warum?«

»Weil er ein Held war.« Ich warte, bis das bei ihr angekommen ist, und drücke währenddessen die Hand auf meinen rebellierenden Magen. Der wird nicht so schnell zur Ruhe kommen. Ich möchte ihr erzählen, was ich vorhabe, aber ich kann es nicht.

»Bist du dort oben im Norden in Sicherheit?«, fragt sie. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich … ich mache mir auch Sorgen um dich, Liebes.«

»Mir geht’s gut.« Was bin ich für ein lügnerisches Lügenmaul. Das würde Issie sagen. Ich suche quer durch den Raum ihren Blick. Sie ist in der Küche und lässt Wasser in den Teekessel laufen. Ihr Gesicht ist rot und verquollen vom Weinen. Devyn hat Schürhaken und eiserne Schwerter auf dem Küchentisch ausgebreitet. Er sieht aus, als würde er unter Schock stehen, und er bewegt sich ganz mechanisch. Ihm werden diese Waffen nichts nützen, wenn er als Adler kämpft, aber vielleicht Issie und mir. Aber im Ernst? Noch vor einer Weile war ich nicht so scharf aufs Kämpfen, oder? Devyn hebt ein Schwert hoch und wiegt es in der Hand. Seine Augen sind so anders als die des Devyn, den ich kenne. Sie sind durchdringend und wütend und leer zugleich.

Er wendet sich an Issie. »Wir lassen sie büßen.«

Sie sagt nichts.

»Ich lasse sie büßen, Issie, für das, was du mitansehen musstest … für Nick.«

Sie antwortet mit einem Zitat: »›Die Menschen schlafen nachts nur deshalb friedlich in ihren Betten, weil harte Männer bereitstehen, um für sie Gewalt auszuüben.‹ George Orwell, der Typ, der Die Farm der Tiere geschrieben hat, hat das mal gesagt.«

»Zara?« Die Stimme meiner Mutter lenkt meine Aufmerksamkeit wieder zum Telefon.

»’tschuldigung, ich war abgelenkt«, sage ich. »Wir müssen überlegen, wie wir dafür sorgen, dass dir nichts passiert, Mom. Okay?«

Sie bemüht sich sehr, ihre Stimme fest klingen zu lassen: »Du kümmerst dich um dich. Und ich schaue nach mir. Wie geht es Nick?«

»Nick geht’s gut.« Ich würge die Lüge heraus, als Issie den Teekessel auf den Herd stellt. Sie gibt einen schluchzenden Laut von sich. Ich verlasse die Küche und gehe zurück ins Wohnzimmer, damit meine Mom nichts hört. Ich denke an Astley und daran, dass ich ihm trauen muss. »Glaubst du, dass alle Elfen böse sind?«

»Ja, Zara«, sagt meine Mom. »Ja, das glaube ich. Und ich glaube es nicht nur, sondern ich weiß es.«

»Und du würdest niemals einem vertrauen?«

»Nein, Liebes, niemals. Ich habe deinem Vater vertraut, und was hat er getan? Kaum ist dein Stiefvater gestorben, kam er, um mich zu holen, und er hat das nicht auf die feine Art gemacht. Er hat dich entführt.« Jetzt wird ihre Stimme fest. Sie muss mir nichts mehr vormachen. Es ist wirklich so. »Du kannst einem Elf nicht trauen, niemals.«

Aber ich muss einem Elf vertrauen. Ich habe keine Wahl. Wenn ich es nicht tue, dann gebe ich Nick auf, und das kann ich nicht tun, niemals.

Nachdem ich aufgelegt habe, rufen wir Mrs Nix an und erzählen ihr, was passiert ist. Vor lauter Aufregung schnattert sie los und ruft schließlich: »Wir müssen die Reihen schließen!« Dann verändert sich ihre Stimme zu einem bärenartigen Knurren: »Ich bin gleich da.«

Ich schalte das Handy ab und verkünde: »Mrs Nix ist auf dem Weg.«

»Gut!« Issie klingt fast munter, allerdings nur fast. Sie versenkt die Teebeutel in den Tassen. »Das ist gut.«

»Betty hat angerufen, dass sie im Krankenhaus bald fertig ist und dann gleich nach Hause kommt. Und meine Mom bleibt in ihrem Versteck.«

Devyn lehnt gegen den Küchenblock. Sein Gesicht erscheint mir sehr viel blasser als sonst. Wahrscheinlich strengt es ihn sehr an, sich ohne Krücken zu bewegen. Grams Laptop steht hinter ihm. Er hat recherchiert. »Hast du ihnen von Nick erzählt? Oder was du vorhast?«

»Nein.« Meine Stimme bricht. »Ich kann es ihnen nicht erzählen, denn dann …«

Er schaut mich mit seinem Adlerblick an. Ich schaue zurück und versuche, meine Kräfte zusammenzunehmen. Eine Sekunde lang schienen sie mich verlassen zu haben. Ich presse die Lippen aufeinander und versuche, die Schultern zu straffen.

Seine Stimme klingt nach Lehrer oder strengem Vater: »Bist du dir deiner Sache sicher?«

»Nein.«

»Ach, Zara.« Issie hört auf, die Teebeutel in das heiße Wasser zu tunken, kommt herüber und nimmt meine Hände. »Du musst kein Elf werden. Vielleicht gibt es auch eine andere Möglichkeit.«

»Ich könnte gehen«, meint Devyn.

»Nein«, lehne ich ab. »Sonst behalten sie dich.«

»Warum sollten sie mich behalten, und dich nicht?«

»Weil du ein Kämpfer bist.«

»Ein verwundeter Kämpfer«, spottet er.

»Mach dich nicht lächerlich.« Issie lässt mich los und wendet sich ihm zu. »Natürlich würden sie dich behalten.« Als ihr klar wird, was das bedeutet, wird sie ganz blass. »Du gehst nicht!«

»Ich werde gehen«, sage ich so ruhig wie möglich. »Ich bin die schlechteste Kämpferin. Ich bin hier keine große Hilfe.«

»Eigentlich bin ich ja die schlechteste Kämpferin«, meint Issie.

Ich erzähle ihr nicht, dass ich gerade getötet habe. Stattdessen lüge ich: »Okay, wir beide sind die schlechtesten Kämpfer, aber mein biologischer Vater ist ein Elf. Ich werde die Verwandlung besser überstehen, und Nick ist mein Freund.«

Devyn nickt, als ob er seine Meinung zu meinem Plan langsam ändern würde.

Ich schnappe mir den Becher mit dem Pferdebild, nehme den Teebeutel heraus und lege ihn auf ein Papiertuch. Die braune Feuchtigkeit breitet sich wie eine Seuche über das weiße, saugfähige Material aus.

»Aber gut … Nehmen wir an, dass er wirklich dort ist. Was, wenn es ihm dort gefällt?«, frage ich. »Was, wenn er wütend auf mich ist, weil ich ihn zurückhole?«

»Oh … wie in Buffy? Als Willow sie nach ihrem Tod aus der anderen Dimension zurückholte und Buffy dann traurig und innerlich ganz leer war, weil sie gar nicht in der Hölle gewesen war, sondern im Himmel? So ähnlich?« Is hält einen Augenblick inne. »Willow hat mir damals echt leidgetan … wirklich. Sie hat ja mit den Mächten des Universums gespielt und so, aber sich vorzustellen, dass man seinen besten Freund aus einer netten, glücklichen Paradiesdimension herausreißt. Ich würde das auch für euch tun. Auf jeden Fall. Etwas anderes wollte ich damit nicht sagen.«

Ich zupfe an dem Papiertuch herum. »Is, ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«

»Eine Fernsehserie«, erklärt Devyn. »Klassische Kultserie. Aus den Neunzigern.«

»Ach so.«

»Aber du verstehst, was ich meine? Dass du Angst hast, dass du ihn aus dem Paradies zurückholst?«, fragt Is.

Ich wische mir die Hände an der Hose ab. »Ja.«

Devyns und mein Blick begegnen sich. »Zara, ich habe recherchiert, und alles, was der Elf«, er spuckt das Wort aus wie ein Schimpfwort, »dir erzählt hat, scheint zu stimmen. Wenn Walhalla tatsächlich existiert, dann nur weil Odin und Thor Kämpfer sammeln für die Schlacht aller Schlachten. Ich glaube nicht, dass sie Nick einfach gehen lassen würden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du den Weg dorthin finden kannst.«

»Warum nicht?«

»Also, ich finde im Netz nur, dass die Walküren die Krieger dorthinbringen, sonst nichts.«

»Es muss noch einen Weg geben«, antworte ich.

»Es gibt immer noch einen anderen Weg.« Auf einmal steht Mrs Nix bei uns in der Küche. »Ich bin einfach reingekommen. Aber sag mir, warum du überhaupt nach Walhalla willst?« Sie schaut sich in der Küche um und zählt im Kopf durch: »Wo ist Nick?«

Niemand antwortet.

Mrs Nix schiebt sich die Brille die Nase hoch und wiederholt ihre Frage: »Wo ist Nick?«

Diesmal klingt ihre Stimme schon ein bisschen brummiger.

»Wissen Sie etwas über Walhalla?«, weiche ich aus. »Existiert es wirklich? Warum haben Sie uns noch nie davon erzählt?«

»Ich weiß nur von Walhalla, weil meine Mutter mir davon erzählt hat, aber als sie es tat …« Sie hält inne, und ihre Hände fahren in die Luft, als versuche sie die richtigen Wörter zu erhaschen. »Es war eher wie ein Märchen. Ich haben euch nichts davon erzählt, weil es keine Veranlassung dazu gab, und du, Zara White, versuchst, das Thema zu wechseln. Wo ist Nick?«

Draußen schreit etwas. Schrill und laut. Issie springt Mrs Nix in die Arme. Devyn geht beschützend zu ihr hin. Ich stürze zum Fenster, reiße den Vorhang beiseite und schaue in den Vorgarten hinaus.

»Was ist?«, fragt Mrs Nix alarmiert.

»Elfen«, antworte ich. »Viele Elfen. Sie haben Sie knapp verpasst.«

Die Elfen wirbeln wie in einem bizarren Tanz im Kreis herum. Ihre Füße drehen sich in raffinierten, wilden Schritten durch den Schnee. Ihre Arme recken sich zum Himmel hinauf. Die kreiselnden Gestalten tanzen in der nahenden Dunkelheit um etwas herum.

»Und wenn sie versuchen hier einzudringen?«, fragt Issie.

Ich versuche zu erkennen, was draußen vor sich geht. »Hereinkommen kann nur mein Vater.«

»Und wenn er es tut?«, fragt Devyn.

»Dann bringe ich ihn um« antworte ich, ohne zu zögern. Als ich ihn zwischen den tanzenden Gestalten suche, sehe ich es auf einmal. Warum habe ich das nicht gleich bemerkt? Ich springe vom Fenster weg. »Gebt mir eine Waffe.«

»Was?«

»Gebt mir eine Waffe«, verlange ich und strecke meine gesunde Hand aus. »Einen Schürhaken oder nein, lieber ein Schwert.«

Mrs Nix wirft den Griff in meine Hand. Ich eile zur Haustür. »Ihr bleibt hier. Außer Mrs Nix. Sie könnten sich verwandeln.«

»Oh, oh. Sie ist im Kommando-Modus. Zara? Warum bist du im Kommando-Modus?«, fragt Issie Hände ringend, aber ich habe keine Zeit mehr zum Reden.

Devyn geht zum Fenster. »Heilige …«

»Was ist?«, kreischt Issie, aber ich bin schon an der Tür, reiße sie auf und stürze nach draußen.

»Betty«, antwortet Devyn. »Sie haben sie in einen Hinterhalt gelockt. Sie ist umzingelt.«