Elfen-Tipp
Nachts sind Ellen stärker als tagsüber. Bleib im Haus. Die Nacht ist nicht die richtige Zeit, um auf Elfenjagd zu gehen.
»Das ist das Irrste, was ich je gesehen habe«, sagt Issie.
Wir sind bei mir zu Hause, und ich zeige ihnen das Buch mit den Notizen meines Vaters, das ich oben gefunden habe.
»AB ERLEGEN SKI WUT? GNADE WC REH ALLAH TAL WER HUF BIBER ECKE DU REUE OBST REIF? Das sind nicht gerade die besten Anhaltspunkte«, sagt Nick ausgelassen. »Tut mir leid, Baby.«
Ich pike ihn über der Gürtelschnalle in den Bauch und reiche das Buch an Devyn weiter. »Ich glaube, das sind Anagramme.«
Devyn nimmt das Buch. »Wahrscheinlich hast du recht. Lass mich nachdenken. Das einzige Anagramm, das ich aus dem Ärmel schütteln kann ist ›REGIERUNGSERKLAERUNG – GRR KNAUSERIGE LUEGNER‹.«
»Im Netz gibt es einen Anagramm-Generator«, sagt Issie und klappt Bettys Laptop auf. »Mal sehen, was wir finden.«
Sie lädt die Seite hoch und tippt: »Ab erlegen Ski Wut.« Wir bekommen 14683 Treffer. Wir drängen uns um den Rechner, während sie laut vorliest: »Ab Tilge Wen Es Kur. Kern Ab Geil Wuest. Nest Ab Igel Er Ukw. Kurt Geil Ab Wen Es. Selig Unke Ab Wert. Ab Gleis Tunke Wer. Tee Ab Lein WG Kurs …«
»Das geht so nicht«, knurrt Nick. Er will sich zurückziehen, aber ich berühre ihn sanft am Arm, und er atmet leise aus. Es ist fast so, als müsse ich ein Pferd beruhigen.
Devyn pflichtet ihm bei. »Das sind zu viele Ergebnisse. Außerdem werden gar nicht alle angezeigt, nur die ersten hundert. An die anderen kommen wir gar nicht dran.«
»Wir geben nicht einfach auf. Vielleicht steht es ja in gar keinem Zusammenhang zu irgendwas, aber vielleicht ist es auch von großer Bedeutung«, sage ich. »Ab Erlegen Ski Wut – das enthält alle Buchstaben des Wortes Walküre, nicht wahr? Issie, leg ein neues Dokument an.«
Sie macht es, und ich lasse sie schreiben:
Ab erlegen Ski Wut.
Dann streichen wir alle Buchstaben des Wortes »Walküren« durch
Ab erlegen-Ski Wut.
»Also bleibt noch … oh … ›es gibt‹«, sagt Devyn missmutig. »Walküren existieren. Das ist nicht besonders hilfreich.«
»Mist.« Meine Hoffnung verpufft.
Nick drückt meine Hand. »Nein. Da ist ja noch der andere Satz. Gebt nicht gleich auf.«
Wir geben nicht auf, aber wir kommen keinen Millimeter weiter. Schließlich verschwindet Devyn nach Hause, um dort weiterzurecherchieren und seinen Eltern meine Blutprobe zu bringen. Nick geht zusammen mit Issie auf Patrouille. Und ich schnappe mir keinen Spiegel und rolle mich nicht wie ein Embryo zusammen, sondern schreibe Briefe an den georgischen Begnadigungsausschuss, maile die Info weiter und wünsche mir, dass ich mehr für die Menschenrechte tun könnte. Doch ganz hinten in meinem Kopf entladen sich hartnäckig mit lautem Donnerhall sorgenvolle Gedanken: Was wird der Bluttest ergeben? Warum war der Elfentyp im Wald so nett zu mir? Wie wird Nick sich verhalten, wenn ich mich tatsächlich in einen Elf verwandle? Denn, machen wir uns nichts vor, Werwesen sind Elfen gegenüber sehr voreingenommen, und nach allem, was ich erlebt habe, kann ich ihnen das nicht verübeln.
»Denk nicht nach«, befehle ich mir selbst. »Du hast immer und immer wieder darüber nachgedacht. Du hast dich gehen lassen. Recherchiere lieber.«
Und das tue ich auch. Ich kaure über Grams Laptop und google »wie verwandelt man sich nicht in einen Elf«. Da stolziert meine Großmutter durch die Tür, noch von Kopf bis Fuß in Uniform, groß und mutig und furchtlos – das komplette Gegenteil von mir.
»Hallo«, ruft sie und stößt die Tür hinter sich zu. »Na, immer noch schlecht gelaunt … immer noch, wie heißt das nochmal? Emo?«
»Emo ist eine abwertende Bezeichnung.« Ich klappe den Laptop zu und streiche mit der Hand über die kalte, glatte Oberfläche.
»Warum?«, lacht sie. »Weil es eine Abkürzung für Emotion ist? Es spricht nichts dagegen, emotional zu sein und Gefühle zu zeigen. Weißt du, es gibt viele gute Gefühle hier draußen.«
Das Telefon klingelt. Gram nimmt ab: »Hallo?«
Ich warte. Bilder von Astley blitzen in meinem Kopf auf. Ich verdränge sie, indem ich an Charleston denke, an Delfine, die durch die Wasseroberfläche brechen, an warme Luft, Blumen.
»Nein, ich bin gerade nach Hause gekommen, Josie. Was ist los?«, fragt Gram.
Ich stecke das Netzkabel ein, um den Laptop wieder aufzuladen, und stelle dann fest, dass meine Großmutter, die in die Küche geschlendert ist, immer noch telefoniert.
»Ich geh duschen«, flüstere ich ihr zu. »Ich habe heute Abend eine Verabredung mit einem Werwolf, der Elfen hasst. Ich muss nach Mensch riechen.«
Sie tut so, als würde sie an mir schnuppern, und verzieht dann übertrieben angewidert das Gesicht.
»Das ist ja nett«, protestiere ich. »Was habe ich für eine nette Großmutter.«
Sie schickt mich mit einer Handbewegung die Treppe hinauf. Wegtreten.
Während ich unter der Dusche stehe, klingelt mein Handy, und da ich eine absolute Sklavin der Technik bin, nehme ich das Gespräch an.
»Zara?«
»Hallo, Nick.«
»Was machst du gerade?«
Von meinem gesunden Arm tropft Wasser auf den kleinen pinkfarbenen Teppich, der direkt vor der Toilette liegt. In den nassen Flecken ist die Farbe dunkler. »Ähm …«
»Duschst du?«
»Ja.«
Er sagt nichts. Und ich sage auch nichts. Sein Atem ist so laut, dass er das Rauschen des Wassers übertönt. Ich bin nackt. Er weiß, dass ich nackt bin. Ich könnte ausflippen. Ich beäuge die Handtücher und sage schließlich: »Ich bin nicht mehr blau.«
»Weil du jetzt rot bist?«
»Hä? Woher weißt du, dass ich rot bin?«
»Weil dir das jetzt unangenehm ist und du dich schämst.« Er lacht.
Die Dusche läuft immer noch. Er sagt nichts. Und ich sage auch nichts. Ich verschwende Wasser. Ist mir egal. Böse Zara. Böse Pseudo-Umweltschützerin, pseudo-menschliche Zara.
»Du stehst nicht wirklich mit dem Handy unter der Dusche, oder? Das ist nämlich gefährlich.« Er lacht.
Ich presse meine Lippen einen Augenblick lang aufeinander und mache dann die ganze Stimmung kaputt. »Du vertraust mir nicht, stimmt’s?«
»Doch«, antwortet er zu schnell.
»Ach ja, hmm. Okay.«
Obwohl die Dusche so viel Lärm macht, höre ich, wie er verärgert ausatmet.
Der Abfluss verschluckt das Wasser.
»Du weißt«, sagt er, »dass ich dich wirklich wahnsinnig liebe.«
»Du sagst die perfekten Boyfriend-Worte.« Ich steige aus der Dusche und schnappe mir ein Handtuch.
Er lacht. »Und was ich tue, ist etwas anderes? Ich meine, du regst dich doch dauernd über das ganze Macho-Alphatier-Gehabe auf.«
»Na ja, darüber und über deine heimliche Vorliebe für Frolic.«
»Du hast versprochen, das niemals zu erwähnen!«, sagt er und tut so, als würde er sich ärgern.
»Nein, ich habe versprochen, die Geschichte mit dem Hydranten niemals zu erwähnen.«
»Zara!« Er lacht sich fast kaputt.
»Oder das Verbellen des Staubsaugers.«
»Jetzt reicht es aber«, mahnt er, aber er lacht immer noch. »Obwohl du so gemein bist, sind wir heute Abend verabredet. Und du gehst mit mir zu dem Ball.«
Ich stelle mir vor, wie er sich beim Lachen den warmen Bauch hält. Ich schließe die Augen. »Glaubst du, du kannst Dev dazu bringen, dass er Issie einlädt?«
»Ich versuch’s.«
»Cool.«
Später am Abend holt Nick mich ab. Er klopft nicht, sondern kommt einfach herein, als würde er hier wohnen oder so, aber das tut er eigentlich auch.
»Ich entführe Ihre Enkeltochter«, ruft er Betty zu, die in der Küche das Geschirr vom Abendessen spült. Ich bin wegen meines verletzten Arms vom Spüldienst befreit. Eins zu null für mich!
»Gut. Behalt sie eine Weile. Sie hockt so verdammt oft an meinem Computer, dass sie ihre Finger gar nicht mehr strecken kann.« Sie kommt ins Wohnzimmer und trocknet sich lächelnd die Hände an einem hellgelben Geschirrtuch ab. »Viel Spaß, ihr zwei. Kommt nicht zu spät wieder.«
Ich stürze mich auf sie und küsse sie auf die Wange. Sie tätschelt mein Gesicht und sagt: »Du bist ein Goldschatz.«
Nick gibt ihr ebenfalls einen allerdings übertrieben lauten Schmatz auf die Wange. Dann nimmt er sie in seine starken Wolfsarme und schwenkt sie im Kreis herum.
»Und du bist einfach nur frech«, lacht sie und schlägt mit dem Handtuch nach ihm. »Jetzt aber ab mit euch!«
Wir machen, dass wir in Nicks Mini kommen, in dem es immer ein bisschen nach Hund riecht. Ich versuche, mich anzuschnallen, aber meine Hände sind so kalt, dass ich es nicht schaffe. Außerdem kommt das verletzte Handgelenk erschwerend hinzu. Nick greift herüber zu mir und hilft mir. Seine Finger berühren meine Finger, und in meinem Innern wirbeln alle Organe durcheinander und verschmelzen dann miteinander. Seine Lippen sind wunderschön. Ich kann den Blick nicht abwenden … ich kann den Blick nicht von seinen Lippen abwenden. Ich muss ihn küssen. Ich richte mich auf und beuge mich zu ihm. Seine Lippen öffnen sich ein bisschen. Die Welt verschwindet. Es gibt nur noch seinen Mund und meinen Mund. Seine Hand legt sich auf meinen Rücken. Stark liegt sie dort, zuverlässig. Ich drücke mich an ihn.
»Wo sind deine Handschuhe?«, murmelt er, und sein Atem streicht über meine Lippen.
»Vergessen«, murmle ich zurück.
»Soll ich sie holen?«
Ich schüttle den Kopf, aber er springt trotzdem aus dem Mini. »Eine Sekunde.«
»Nick!«
»Meine Freundin hat keine kalten Hände.«
Er grinst und rennt zum Haus, springt mit einem Satz die Treppe hinauf und ist verschwunden. Ich lehne mich an das kalte Sitzpolster und schließe einen Augenblick die Augen. Ein paar schwere Wochen liegen hinter mir. Ich habe meinen Vater entführt und versehentlich einen Elf gerettet. Mein Wagen ist in die Luft geflogen, und meine Haut hat sich verfärbt. Nicht zu reden davon, dass wir in Spanisch eine Klausur geschrieben haben, dass ich für Kunst eine Arbeit abgeben muss und für den immerhin halb offiziellen Ball außer ein paar T-Shirts nichts anzuziehen habe. Ich blase meine Finger an und schaudere, weil … ich etwas spüre? Das krabbelige Spinnengefühl? Es ist da. Als ob viele Hundert Spinnentiere auf mir herumkrabbeln würden.
Etwas schreit. Es ist kein Tier, aber auch kein Mensch. Es ist definitiv kein guter Laut. Es klingt nach einem Schmerzensschrei. Aber es ist nicht sehr nah. Ich greife nach dem Türgriff, umklammere das kalte Metall mit den Fingern und lausche … Nichts.
»Astley?«, flüstere ich in die Dunkelheit.
Keine Antwort. Die Haustür öffnet sich, und Nick stürmt zurück zu seinem Mini. Ich rechne fast damit, dass etwas aus der Dunkelheit hervorspringt und ihn beißt. Ich rechne mit Angst und Blut und Kampf.
Aber es geschieht nichts.
Er schlägt die Tür zu, lächelt mich an und reicht mir meine flauschigen babyblauen Lieblingshandschuhe. »Da. Viel besser so.«
Er beugt sich herüber und küsst mich auf die Nase. Dann lässt er das Auto an und dreht die Heizung auf. Da der Motor noch nicht warm ist, bläst die Heizung kalte Luft in den Innenraum. Es ist einfach wiederverwertete kalte Luft, die zwischen dem Motor und dem Fahrgastraum und draußen hin und her wandert … wandert …
»Zara? Alles in Ordnung mit dir?«, fragt er.
Ich ziehe die Handschuhe über, spüre die Wärme und versuche, normal zu wirken, nicht wie irgendein Mischwesen. »Ja.«
Er legt den Kopf ein bisschen schief und schaut mich an: »Sicher?«
»Ja, sicher.«
»Kein Spinnengefühl?«
»Ein bisschen vielleicht.« Ich greife mit meiner behandschuhten Hand nach seiner Hand. »Ich meine, ich hätte einen Schrei gehört.«
Er springt wieder mit einem Satz aus dem Auto hinaus. Diesmal hüpfe ich hinter ihm her. Mit schräg gelegtem Kopf lauscht er in die Nacht.
»Ich höre nichts«, sagt er schließlich.
Der Wald liegt so dunkel da. Nebel steigt auf und verbirgt alle Geheimnisse hinter einem Schleier. Ich ziehe an seinem Arm. »Wahrscheinlich hab ich es mir nur eingebildet. Lass uns wieder einsteigen.«
Zurück im Auto holen wir beide tief Luft. Nick beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, antworte ich, und das ist die wichtigste Wahrheit, die ich kenne.
Er lächelt breit: »Wirklich?«
»Ja, wirklich.«