Elfen-Tipp
Elfenaugen stehen ein bisschen schräg.
Nick hat mich die ganze letzte Woche mit dem Auto zur Schule gefahren. Das ist sehr schön, denn wir verbringen auf diese Weise mehr Zeit miteinander, und ich kann sicherstellen, dass er nicht von einem bösartigen Elfenkönig ermordet wird. In Wahrheit sind wir jedoch beide eher Morgenmuffel und machen die ganze Fahrt über eigentlich nichts anderes, als vor uns hin zu brummen und zu gähnen.
Er parkt seinen Mini und schnappt meine Sachen. Manchmal hat ein verstauchtes Handgelenk durchaus auch seine Vorteile. Aber die Verletzung heilt gut. Die Schiene ist weg, und ich trage nur noch einen Verband.
»Musst du eigentlich jeden Abend alle Bücher mit nach Hause nehmen?«, fragt er und wirft sich meine neue Tasche – die alte starb einen feurigen Tod – über die Schulter.
»Jep.« Ich lächle ihn an.
Er beugt sich herab, damit er mir ins Ohr flüstern kann: »Du kannst von Glück sagen, dass du so süß bist, Baby.«
Ich winke Paul und Callie zu. Sie gehen miteinander und sind in unserem Kunstkurs. Sie tragen beide einen grün gefärbten Irokesenschnitt, was irgendwie retro ist, aber auch sehr süß. Jil und Stephanie halten Händchen und sehen deutlich nach Morgenmenschen aus. Sie sind bis über beide Ohren verliebt. Eigentlich sind wir von lauter Turteltäubchen umgeben, allerdings müssen sie nicht befürchten, dass ihre bessere Hälfte von Elfen ermordet wird, nur weil sie sind, wer sie sind … oder eben auch nicht.
Ich laufe dichter neben Nick und lege ihm meinen gesunden Arm um die Taille. Kurze Zeit später erreichen wir die Glastüren am Eingang der Highschool. Nick hält mir die Tür auf. Heizungswarme Luft und viel Lärm schlagen uns entgegen. Auch Paul und Callie sowie Jill und Stephanie lässt Nick noch durchgehen.
»Wir sind spät dran«, sagt Jill. Sie nickt anerkennend. »Deine Jeans gefallen mir. Toll.«
»Danke«, antworte ich, während ich zugleich Issie entdecke, die gerade die Rampe zum ersten Stock hinaufgeht, wo Devyn steht. Ihre dünne Bluse flattert.
»Issie! Devyn!«, rufe ich laut.
Devyn dreht sich um und winkt lächelnd. Er sitzt nicht im Rollstuhl, sondern stützt sich nur auf zwei Krücken. Cassidy steht neben ihm.
Nicks Hand schließt sich in einem Klammergriff um meinen Unterarm. »Der Rollstuhl ist weg! Zara, der Rollstuhl ist weg!«
Er lässt mich los und springt mit einem Satz über das Geländer. Er umarmt Devyn und er wirbelt ihn im Kreis herum. Die Leute weichen zurück. Eine Krücke fällt von Devyns Arm und landet auf der Rampe. Issie hüpft über sie hinweg und stürzt sich in die Gruppenumarmung. Sie schreit vor lauter Glück.
Wir wussten, dass es so kommen würde, aber es tatsächlich zu erleben … ihn tatsächlich ohne seinen Rollstuhl zu sehen. Da bleibt einem fast das Herz stehen, so gut ist das Gefühl. Ich stapfe die Rampe hinauf und hebe im Vorbeigehen die Krücke auf.
»Kein Wunder, dass du heute nicht mitfahren wolltest«, sagt Issie gerade, während sie ihm unablässig auf den Rücken klopft. »Kein Wunder! Bist du selbst gefahren?«
»Nö. Cassidy hat mich mitgenommen.«
»Genau!«, wirft Cassidy ein und nestelt an ihrer rosa Glitzerspange.
»Sie … sie hat dich mitgenommen?«, platzt es aus Issie heraus.
»Ja, Is. Ich wollte euch alle überraschen.« Devyn lächelt mich an. »Was sagst du dazu, Zara?«
Während ich ihm seine Krücke reiche, sage ich: »Ich glaube, das ist das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben je erlebt habe.«
Und so ist es.
»Jetzt kann ich endlich all die Dinge tun, die ich tun will.«
Das lässt mich aufhorchen. »Zum Beispiel?«
Devyn lächelt nur. Cassidy räuspert sich und nimmt ihn jetzt auch noch einmal in den Arm. »Ich freu mich so für dich, Dev.«
Issie ist zur Wand zurückgewichen und fasst sich an den Hals. Sie schaut weg.
»Danke«, sagt Devyn.
Sie lösen sich aus der Umarmung, und Cassidy fängt an, sich hinten am Nacken zu kratzen. »Ich wusste, dass es so kommen würde.«
Die Art und Weise, wie sie das sagt, lässt mich stutzen. Es klingt fast unheimlich, aber sie wirbelt davon, bevor ich etwas sagen kann.
»Wir sind alle spät dran«, sagt sie über die Schulter hinweg und kratzt sich immer noch. »Glückwunsch, Devyn! Lass es mich wissen, wenn ich dich nach Hause mitnehmen soll.«
Wir alle rennen in unsere erste Stunde. Einen kurzen Augenblick lang redet Nick nicht über Elfen und Schmerz oder darüber, dass er alle beschützen muss. Einen kurzen Augenblick lang hängen seine Schultern entspannt herab, und er lächelt. Und in diesem Augenblick wird mir klar, wie schwer dies alles für ihn ist.
Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich weiß nicht genau, warum. Wahrscheinlich will ich einfach nur, dass Devyn nie wieder verletzt wird. Ich will, dass keiner von uns jemals wieder verletzt wird.
Spanisch war früher meine meistgehasste Unterrichtsstunde. Nicht weil der ganze Raum nach dem Fliederparfüm unserer Lehrerin stinkt und meine Nase immer sofort zu ist, sondern wegen einem Mädchen, Megan. Sie saß schräg vor mir, drehte sich aber dauernd um und warf mir böse Blicke zu. Dann flüsterte sie ihrer Freundin Brittney etwas zu, und die beiden kicherten wie Hexen. Obwohl sie nicht mehr an unserer Schule ist, kommt es mir immer noch vor, als würde ich ihre Anwesenheit spüren.
Ich atme aus, kaue auf meinem Füller herum und stelle eine Liste zusammen:
ILLEGALE DINGE, DIE WIR GETAN HABEN,, UND WARUM
- Betty hat Ian getötet, weil er versucht hat, mich zu küssen und in einen Elf zu verwandeln.
- Megan ist verschwunden, deshalb hat Mrs Nix ihre Entlassungspapiere gefälscht. Das ist okay, denn Megan war nicht einfach nur ein hinterhältiges Luder, sondern ein Elf.
- Wir haben alle Elfen in ein Haus gesperrt, weil sie sonst weiter gemordet hätten.
Okay, die Liste ist nicht allzu lang, und das erleichtert mich ein bisschen, auch wenn sie Mord, Betrug und Freiheitsberaubung beinhaltet. Ich falte das Blatt zusammen und schiebe es hinten in meine Ausgabe von Das Geisterhaus. Dann übersetze ich weiter, aber eigentlich denke ich darüber nach, dass meine Großmutter getötet hat, dass ich die Elfen eingesperrt habe, und dass wir es hier mit einer ganzen Reihe von gewaltsamen Akten zu tun haben und dass ich keine Ahnung habe, wie ich damit umgehen soll. Ich bin bei Amnesty International. Die Menschenrechte sind mir keineswegs egal. Aber wie steht es mit den Rechten von Elfen? Sie sind in gewisser Weise Menschen. Und was tun, wenn die Welt keine Ahnung hat, dass es sie gibt?
Ich komme mit dem Buch überhaupt nicht voran, deshalb ziehe ich ein neues Blatt heraus und arbeite weiter an dem Elfenhandbuch. Den hingekritzelten Eintrag will ich später in Devyns oder Grandmas Laptop eingeben.
ZEHN REGELN IM UMGANG MIT ELFEN
10. Wenn du denkst, dass Elfen wie Tinker Bell sind, dann irrst du.
9.Elfen hängen nicht mit Peter Pan herum.
8. Elfen schlafen nicht in gläsernen Gefäßen und tragen auch keine Zauberstäbe bei sich.
7. Elfen hassen Eisen und Stahl.
6. Elfen rufen nach dir und führen dich im Wald in die Irre.
5. Elfen sind gute Kämpfer. Sie benutzen Klauen und Zähne.
4. Elfen können aussehen wie Menschen, aber sie sind keine Menschen.
3. Elfen können mit dir zur Schule gehen oder mit dir arbeiten, ohne dass du es merkst.
2. Elfen haben gewisse Begierden.
1. Lass dich niemals von einem Elf küssen. Niemals.
»¿Zara? ¿Atiende Usted?« Meine Spanischlehrerin mustert mich. Sie steht an meinem Tisch und lächelt süß. Ihre dunkelbraunen Haare sind zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hebt eine Augenbraue.
»Ja … ja. Ich meine, si«, korrigiere ich mich. Ich schlage mir mit der Hand gegen den Kopf, und das Buch klappt zu. Brittney kichert.
»Usted no traduce el Libero.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, tippt sie mit dem Finger auf meine halb leere Seite. »Usted esta mirando por la ventana.«
Ich habe nicht übersetzt. Ich habe aus dem Fenster geschaut. Schuldig im Sinne der Anklage. Ich überlege, was ich sagen soll, und außer einer Entschuldigung fällt mir nichts ein. »Lo siento. Lo siento.«
Es tut mir leid. Nur, dass es mir nicht nur leidtut, dass ich nicht aufgepasst habe. Es tut mir auch leid, dass es Elfen gibt und dass ich durch meine Existenz meine Freunde in Gefahr bringe. Alles tut mir leid.
Kaum ist der Unterricht zu Ende, da springen alle auf und fliehen in den Flur hinaus, wie eine Rinderherde im Wilden Westen, die von einem Pferch zum nächsten stürmt.
Wir schieben und drängeln, bis alle draußen sind und in die nächste Unterrichtsstunde gehen können. Jemand packt meinen gesunden Ellbogen. Ich ziehe ihn schreiend weg.
»Baby? Was ist los?« Nicks sorgenvolle Miene ist total süß.
»Schon gut. Tut mir leid. Ich bin nervös«, sage ich und versuche, mich wieder zu beruhigen.
»Hast du Angst vor …« Das letzte Wort spricht er nicht aus, weil zu viele Leute um uns herum sind. Er schiebt beide Hände in die Taschen seiner Cargohose. »Noch haben wir ihn nicht gefunden, aber ich werde ihn finden. Ich schwöre es.«
Es klingelt. »Wir sind spät dran«, sage ich und versuche wegzusehen, aber es gelingt mir nicht. Seine Augen sind so wunderbar braun. Ich wische ein paar Hundehaare von seinem dunkelblauen Hemd. Er trägt heute einen Mix aus Sportler- und Skaterlook. Gefällt mir.
Er zuckt mit den Achseln. »Mrs Nix gibt uns einen Schein.«
Dann nimmt er meine Hand und zieht mich ins Treppenhaus. Wir setzen uns auf den obersten Absatz. Callie schießt an uns vorbei. Sie lächelt. »Na, ihr verknallten Turteltäubchen.«
Wir lächeln zurück, während sie die Treppe hinunterflitzt. Ihr Irokese flattert in der überheizten Luft. Links von meinen Füßen ist eine große Pfütze mit Schneematsch.
»Hast du Angst vor dem Elf?«, fragt er noch einmal.
Ich zucke die Achseln, damit ich nicht antworten muss.
»Zara? Hast du Angst?«
»Ein bisschen«, sage ich leise.
Nick gibt eine Mischung aus Knurren und Seufzen von sich. »Was verschweigst du mir?«
»Nichts.«
. »Zara? Wir funktionieren besser, wenn wir im Team zusammenarbeiten.«
»Wir sind ein gutes Team.«
»Ja, klar.«
Einen Augenblick lang schweigen wir beide. Ich schließe die Augen vor dem flackernden Licht der Leuchtstofflampen und vor dem schalen Grau des Treppenhauses. Ich würde Nick so gerne Charleston zeigen, die Promenade, und mit ihm zusammen die Delfine beobachten, die im Hafen herumtollen, über die Touristen mit ihren Gürteltaschen lachen, die von den Kreuzfahrtschiffen kommen und so viel Körbe aus Sweetgrass kaufen, wie sie kriegen können.
Cassidy eilt immer zwei Stufen auf einmal nehmend vorbei. Als sie uns sieht, bleibt sie abrupt stehen. Mich beachtet sie gar nicht, sondern sieht nur Nick an, und ihr Mund klappt auf. Sie keucht, stolpert eine Stufe nach unten und muss nach dem Geländer greifen, um das Gleichgewicht zu halten.
Ich springe auf und stürze nach vorn, um sie aufzufangen. Direkt hinter mir schnellt Nick in die Höhe.
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
Sie schließt eine lange Sekunde die Augen. Als sie sie wieder aufschlägt, steht tiefe Trauer in ihnen. »Ja. Alles gut. Bin nur erschrocken. Ja.«
Weiter Satzfragmente vor sich hin murmelnd, hastet sie davon.
Ich setze mich hin und klopfe mit der flachen Hand auf die Stufe neben mir, damit Nick sich auch wieder setzt. »Das war komisch. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit ihr. Wie sie dich angestarrt hat.«
»Ich habe eben diese Wirkung auf Frauen«, sagt er großspurig. »Sie kommen ins Stolpern, und dann rennen sie weg.«
»Echt?« Ich blicke ihn an und versuche, die Augenbrauen hochzuziehen. Seine Fingerspitzen streichen an meinem Unterkiefer entlang von meinem Ohr zu meinem Kinn. Sehnsucht und Verlangen und all diese ganz normalen, menschlichen, hormongesteuerten Gefühle regen sich schmerzhaft in mir. Er lächelt, beugt sich nach vorn und küsst mich. Ich küsse ihn zurück, intensiv und lang und gut. Als er sich schließlich von mir löst, ist sein Blick ganz zärtlich und voller Leidenschaft. Seine tiefbraunen Augen sind noch dunkler als sonst.
»Du machst mich fertig«, sagt er.
Meine Hand liegt flach auf seiner Brust, und ich kann seinen Herzschlag spüren. Ein stetiger Rhythmus, der Leben bedeutet, und Trost.
»Ich möchte dich niemals verlieren«, bringe ich mühsam heraus und senke den Kopf.
Er hebt ihn vorsichtig wieder an, sodass ich ihm in die Augen schauen kann.
»Du wirst mich niemals verlieren.« Seine Stimme klingt belegt.
»Schwörst du es?«, flüstere ich, aber schon diese paar geflüsterten Worte drohen, mich in einen dunklen Abgrund aus Verlust und Verzweiflung zu reißen …
Nicks Finger streicheln meine Haut. »Ich schwöre es.«
Die Cafeteria unserer Schule hat die Form eines Achtecks. An drei Seiten befinden sich die Küche und die Essensausgabe, die Eingangs- und Ausgangstüren befinden sich auf einer vierten Seite. Die restlichen Wände haben Fenster und einen Notausgang. Das Neonlicht in Verbindung mit dem weißen Schnee draußen macht den Raum wahnsinnig hell, und das ist nicht besonders gut.
Is und ich holen uns an der Essensausgabe jede einen Bagel. Sie werden auf Papptellern mit Plastikmessern serviert.
»Nicht besonders umweltfreundlich«, kritisiert Issie und zieht ihre Karte durch die Maschine.
»Darüber beschwere ich mich schon ewig«, sagt Giselle Brown hinter mir.
Sie schüttelt ablehnend den Kopf, dass ihre Dreadlocks fliegen. Sie trägt ein altes gebatiktes Grateful-Dead-T-Shirt und ist eine der wenigen, die mittwochs regelmäßig zu meinen Amnesty-International-Treffen kommen. Aus diesem Grund mag ich sie, auch wenn sie die Diktatoren, denen sie schreibt, gelegentlich wüst beschimpft. Wir können nicht alle perfekt sein. Und wenn man schon jemanden beschimpfen muss, dann ist ein Diktator eine gute Wahl.
Giselle beugt sich zu Issie hinüber und sagt: »Was läuft da eigentlich zwischen Devyn und Cassidy?«
Issie erstarrt. »Was meinst du damit?«
»Sie ist die ganze Zeit um ihn herum. Ich dachte, ihr beide wärt zusammen«, erklärt Giselle.
Der Pappteller in Issies Hand zittert. »Nein, nein. Sind wir nicht. Wir sind nur Freunde.«
»Ach so. Dann brauche ich mich ja nicht wegen dir über sie aufregen.« Sie lächelt mich an und rümpft dann die Nase. »Hier stinkt’s nach Klo.«
Die Dame von der Essensausgabe schaut auf und blinzelt. »Das ist der Kohl.«
Giselle ist peinlich berührt. Sie lässt ihre Banane fallen, aber ich fange sie auf, bevor sie auf dem Boden landet. »Äh! Oh! Ich hab das nicht böse gemeint. Tut mir leid. Tut mir wirklich, wirklich …«
Die Frau zeigt mit ihrem weißen Kugelschreiber auf Giselle. Ihr Haarnetz ist ein bisschen nach links verrutscht. »Schon recht. Ich finde auch, dass es nach Klo riecht.«
Ich ziehe meine Karte durch und peile zusammen mit Issie einen Tisch an. Es ist ein kleiner Viersitzer mit einer schweinchenrosa Tischplatte. Nick und Dev futtern schon ihre Pizza. Ich rutsche auf den Platz neben Nick.
»Hallo, Baby«, sagt er und küsst mich. Sein Atem riecht nach Peperoni. »Was geht?«
»Nichts.« Mit einer Hand klappe ich meinen Bagel auf.
»Giselle hat der Frau an der Ausgabe gerade gesagt, dass es nach Klo riecht«, sagt Issie, als Giselle gerade hinter ihr vorbeiläuft.
»Ich hab es nicht böse gemeint«, beharrt sie und schüttelt den Kopf. Sie lässt sich neben Callie und ein paar anderen, die auf Kunst und Theater stehen, auf einem Stuhl nieder.
Nick streicht Frischkäse auf meinen Bagel, weil es schwer ist, das mit einer Hand zu machen. Man muss den Bagel festhalten und gleichzeitig schmieren.
»Du bist der netteste Freund, den es gibt«, sage ich und küsse ihn auf die Wange.
»Würg«, bemerkt Devyn.
»Du bist ja nur eifersüchtig«, zieht Nick ihn auf und zeigt mit seinem Plastikmesser auf Devyn. »Was absolut lächerlich ist, denn du bist jetzt der Star der Schule, nachdem du deinen Rollstuhl los bist. Alle reden nur über dich.«
»Star der Schule?«, fragt Devyn.
»Alle Mädels.« Nick zeigt auf die Mädchen, die hinter ihnen kichern. »Sie mögen Wunder. Wunder sind sexy. Erinnerst du dich, wie viel Aufmerksamkeit Jay Dahlberg bekommen hat, als er nach seiner Entführung wieder in die Schule gegangen ist?« Er sagt nicht, dass Jay von Elfen entführt wurde, denn an unserem Tisch wissen es alle.
»Echt?« Devyn zieht ein paarmal anzüglich die Augenbrauen hoch. Das kann er wirklich gut – er sieht aus wie ein schmieriger Lüstling.
Issie quiekt vor Lachen und lässt ihre Wasserflasche fallen. Da sie offen war, spritzt das Wasser über den ganzen Tisch und unsere Teller. »Ups! Ups! ’tschuldigung!«
Sie versucht das Wasser mit ihrem Ärmel aufzuwischen. Nick reicht ihr Servietten, während ich aufspringe und Nachschub hole. Das Wasser tropft vom Tisch auf den Fußboden.
»Ich bin so ein Trampel«, sagt Is und tupft hektisch mit den Servietten alles ab. »Es tut mir so leid …«
Devyn nimmt ihre Hand. »Issie, Liebes, alles okay.«
Sie erstarrt. Ihre Blicke treffen sich, und ihre Hände berühren sich immer noch. »Liebes?«, flüstert sie.
Es ist, als wären alle Luft und aller Lärm aus der Cafeteria entwichen. Nick und ich und all die anderen sind stumme Zeugen des Dramas mit dem Titel »Devyn und Issie«.
Nicks Mund verzieht sich zu einem riesengroßen Lächeln, und ich bin mir bewusst, dass ich wahrscheinlich genauso lächle. Issies Mund dagegen hat sich zu einem erstaunten O geöffnet. Devyn lässt ihre Hand los, streckt den Arm aus und schließt ihren Mund, indem er sanft von unten ihr Kinn berührt.
»Küss sie!«, kreischt Callie. »Küss sie!«
Ein paar Leute stimmen ein in den Chor.
»Küss sie! Küss sie! Küss sie! Küss sie!«
Issie wird tiefrot, steht auf und rennt so schnell aus der Cafeteria hinaus, dass ich einen Augenblick lang denke, sie ist diejenige mit dem Elfenblut.
Im Gegensatz zu Issies Gesicht hat Devyns jede Farbe verloren. Die Leute fangen an zu murmeln, auch einzelne Seufzer sind zu hören. Sie sind enttäuscht. Nick sammelt die durchweichten Servietten vom Tisch ein und sagt: »Du musst tätig werden, Mann. Sie ist total in dich verliebt.«
Devyn schüttelt den Kopf. Seine Augen sind hart. »Ich kann es nicht.«
Ich brauche einen Augenblick, bis ich antworten kann: »Du machst dich besser nicht an Cassidy ran, Devyn, sonst bring ich dich um, ehrlich.«
»Cassidy?« Seine Stimme klingt vollkommen ausdruckslos.
»Idiot. Alle reden darüber«, sagt Nick.
»Ich mach mich gar nicht an Cassidy heran«, sagt er.
»Dann hör auf, mit ihr zu flirten.« Ich stehe auf.
»Flirten?« Devyn schaut Nick Hilfe suchend an.
»Ja. Flirten. Du bist dauernd mit ihr zusammen. Sie nimmt dich mit zur Schule. Du redest dauernd mit ihr, simst ihr«, zähle ich vorwurfsvoll auf.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie man flirtet. Ich bin ein Nerd. Wir haben keine sozialen Fähigkeiten.«
Ich glaube ihm nicht: »Du flirtest, was das Zeug hält.«.
»Zara, schalt einen Gang zurück«, sagt Nick. »Du klingst total eifersüchtig.«
»Sag du mir nicht, dass ich einen Gang zurückschalten soll«, fauche ich, und wir funkeln uns wütend an. »Musst du mich immer bevormunden?«
Er schaut zuerst weg.
Devyn fährt sich durch die Haare und ignoriert uns einfach. »Ich versuche nur, aus Cassidy schlau zu werden.«
»Warum? Was ist so faszinierend an ihr? Sie kratzt sich dauernd«, sage ich. »Und du hast Issie. Sie ist hier und sie liebt dich. Du weißt, dass sie dich liebt. Ich kümmere mich jetzt um Issie«, verkünde ich. Dann zeige ich mit dem Finger auf Devyn. »Und du hörst lieber auf, dich wie ein Idiot zu benehmen, und küsst sie möglichst bald oder sagst ihr wenigstens, dass du sie liebst. Sonst, mein lieber Devyn, werde das nächste Mal ich dir das Rückgrat brechen und mit einem Pfeil auf dich schießen. Da kannst du Gift drauf nehmen.«
»Cassidy braucht mich …«, fängt er an.
Ich stolziere hinaus, aber höre noch, wie Nick laut loslacht und Devyn völlig verwirrt sagt: »Ich dachte, sie wäre Pazifistin?«
»Nicht, wenn es um ihre Freunde geht. Bist du jetzt in diese Cassidy verliebt oder nicht?«, fragt Nick. Mehr höre ich nicht, denn ich bin zu beschäftigt damit, durch die Cafeteriatür hinauszustürmen.
Ich finde Issie in der Mädchen-Toilette. Lautes Schniefen dringt aus der Kabine, auf deren Tür die Worte 2KOOL4S-KOOL eingeritzt und dann – wohl mit einem schwarzen Marker- nachgezeichnet sind. Das ist ja wohl das lächerlichste Graffiti, das ich je gesehen habe.
Ich hole tief Luft und klopfe an die Kabinentür.
»Is?«
Sie schnieft.
»Issie?«
Einen Augenblick später ertönt ein kleinlautes, müdes »Ich bin nicht da«.
»Oh.« Ich trete einen Schritt zurück, damit ich unter der Tür hindurchschauen kann. Keine Füße. »Dann muss ich mir wohl Sorgen machen, weil die Toilette mit mir spricht, oder was? Hat Zara heute vielleicht ein paar Schmerzpillen zu viel eingeworfen?«
»Nein …« Ihre Stimme quetscht sich schmollend durch die Risse zwischen der Tür und dem Metallrahmen. Dann hüpft sie zu Boden.
»Hast du auf der Toilette gestanden?«, frage ich.
Sie öffnet langsam die Tür, und zum Vorschein kommt ein sehr trauriges, sehr fleckiges Issie-hat-geweint-Gesicht.
Ich ziehe sie in meine Umarmung. »Ach, Süße.«
»Er wollte mich nicht küssen«, schluchzt sie.
»Issie!« Ich lasse meine Hand auf ihrer Schulter liegen, trete aber einen Schritt von ihr weg, damit ich in ihr tränennasses Gesicht schauen kann. »Möchtest du deinen ersten Kuss mitten in einer Highschool-Cafeteria vor hundert geilen, geifernden Mitschülern bekommen, die dir johlend zuschauen?«
»Geifernd?«
»Das heißt sabbernd.«
Sie reibt sich mit dem Handrücken die Nase. »Ich möchte einfach … ich möchte einfach endlich überhaupt einen ersten Kuss bekommen, verstehst du?«
Ich nicke heftig, denn ich erinnere mich gut an die Zeit vor meinem ersten Kuss. Dabei war Nick nicht einmal mein erster Kuss. Arme Is. »Ich versteh dich gut.«
»Ich glaube, mir ist es völlig egal, ob es ein Publikum gibt, denn es würde bedeuten, dass er mich mag und dass ich eines Kusses würdig bin.« Sie schaut zu mir auf. Ihre Nase läuft, und ihre Augen sind rot. »Bin ich nicht küssenswert? Ich bin es nicht, oder? Ist Cassidy küssenswerter als ich?«
»Issie, du bist total küssenswert. Wenn ich ein Junge wäre oder lesbisch oder bi oder so, würde ich dich auf jeden Fall küssen wollen.«
Sie schnieft. »Wirklich?«
»Ehrenwort.« Ich nehme ein braunes Papierhandtuch und falte es ein paarmal. Dann halte ich es unter das kalte Wasser und tupfe Issies fleckiges Gesicht damit ab.
Einen Augenblick lang ist sie ruhig, dann fährt sie fort: »Warum mag er mich dann nicht?«
»Issie!« Ich unterdrücke den Impuls, sie zu schütteln. »Das weißt du doch gar nicht.«
»Er mag mich nicht.« Sie stolpert zum Spiegel. »Oh Mann … schau mich an. Katastrophe. Schau dir meine Lippen an!« Sie drückt mit dem Finger auf ihre Lippen. »Sie sind zu schmal. Sie zählen gar nicht als richtige Lippen. Cassidy hat viel bessere Lippen, und er mag mich nicht, Zara. Erinnerst du dich, wie du mich direkt vor dem Unfall angerufen hast?«
Ich erinnere mich. Sie hatte geklungen, als würde sie weinen. Ich habe sie nie gefragt. Mensch, was ist los mit mir? Wie kann ich nur eine so schreckliche Freundin sein?
»Ich habe geweint«, fährt sie schniefend fort, »weil ich Devyn gerade gesagt hatte, dass ich ihn mag. Und weißt du, was er darauf geantwortet hat?« Sie gibt mir keine Chance, etwas zu sagen. »Er hat gesagt, dass er ›derzeit nicht weiß, was er mit dieser Information anfangen soll‹. Ich habe ihm endlich gesagt, dass ich ihn mag, und er hat mich einfach abblitzen lassen wie ein Nichts.«
Ich versuche das zu verarbeiten. Aber ich verstehe es nicht. »Hat er dir gesagt, warum?«
»Nein. Weil du angerufen hast und ich … ich … wir haben einfach nicht mehr darüber gesprochen.«
»Das ergibt keinen Sinn. Entweder spielt er den Macho, oder er ist größenwahnsinnig oder ein Ober-Nerd oder sonst was.« Ich schnappe mir noch ein Papierhandtuch und versuche die Tränen von ihren Wangen zu wischen. »Er hat dich Liebes genannt, Issie. Kein Typ sagt Liebes zu einem Mädchen, das er nicht mag.«
Mit großer Überredungskunst gelingt es mir schließlich, Is zurück an den Tisch zu lotsen. Den ganzen Weg durch die Cafeteria hält sie den Kopf gesenkt und huscht geradezu auf ihren Stuhl.
»Hey.« Ihre Stimme ist kaum zu erkennen, so leise und flüstersanft ist sie.
»Hey«, antwortet Devyn mit ähnlich leiser Stimme.
»Also …« Nick sucht nach etwas, das er sagen könnte. »Glaubt ihr, dass es in allen Highschool-Cafeterien Bagels gibt.«
»Na klar«, erwidere ich schnell. »Sie sind total praktisch: Sie enthalten Kohlehydrate und machen satt, sind schnell zubereitet, und wenn man sie nicht auftaut, gehen sie locker als tödliche Waffen durch.«
»Das muss ich mir merken«, sagt Nick. »Wenn ich das nächste Mal keine Zeit habe, einen Elf zur Villa zu bringen, binde ich ihn nicht an einem Baum fest, sondern schlage ihn mit einem gefrorenen Bagel k.o.«
»Ja, genau«, falle ich ein. »Statt mit Bogen, Schwert und Messer zu trainieren, sollten wir zu Bagels und Stiefeln greifen.«
Wir werfen uns verzweifelte Blicke zu. Issie und Devyn sehen einfach nur unglücklich aus. Der blonde Elfentyp kommt mir auf einmal in den Sinn, und ich muss daran denken, wie er mich festgehalten hat, als Yoko explodiert ist. Fluchend schiebe ich den Gedanken beiseite.
Nach weiteren schrecklichen Minuten gekünstelter Unterhaltung schalten Nick und Dev in den »Wir-sind-Männer-und-beschützen-unsere-Frauen« -Modus. Das ist zwar hoffnungslos altmodisch und machomäßig, aber irgendwie auch ein bisschen süß, wie sie so dahocken – Ellbogen auf dem Tisch, Rücken gerundet und Schultern leicht hochgezogen, die Hände zu Fäusten geballt – und mit erhobenem Zeigefinger ihren Ängsten und Sorgen Luft machen.
»Ich habe heute Morgen das Haus gecheckt«, sagt Devyn. »Da war nichts. Kein Körnchen Elfenstaub weit und breit.«
»Es gab auch keine Anzeichen für irgendwelche neuen Elfen«, ergänzt Nick.
»Vielleicht kommen keine mehr nach«, mutmaße ich.
»Oder sie werden schlauer.« Nick lässt seine Gelenke knacken.
Ich zupfe eine Rosine aus meinem Bagel. »Na, vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen.«
»Du kannst dir nicht auf Dauer vormachen, dass du in Sicherheit bist«, sagt Nick. »Das ist nicht gut für dich, Baby. Letzte Woche bist du fast gestorben.«
»Nein, bin ich nicht. Ich wurde nur verletzt, und nicht einmal schwer«, entgegne ich ihm. »Und was ist mit dir? Du bist da draußen dauernd allein auf der Jagd. Das ist auch nicht sicher.«
Issie tritt mir unter dem Tisch gegen das Schienbein. Ich stehe auf.
»Alles o.k., Zara«, versucht Issie mich zu beruhigen. Sie legt die Hände auf den hässlichen Cafeteria-Tisch. Ihre blassen, zartgliedrigen Finger sind gespreizt. Ich starre sie einen Augenblick lang an. Weiß heben sie sich neben Papptellern mit halb gegessenen Bagels, Plastikmessern, der Wasserflasche und leeren Frischkäsedöschen gegen die schweinchenrosa Tischplatte ab. Ich starre und starre und starre, und auf einmal überkommt mich dieses merkwürdige Gefühl, fast das krabbelige Spinnengefühl, das sich einstellt, wenn Elfen in der Nähe sind, aber da ist noch etwas anderes. Ich bekomme wackelige Knie.
»Ich habe das Gefühl … das Gefühl … äh …« Ich bringe die Worte nicht heraus.
Jemand packt mich um die Taille und zieht mich zurück auf den Stuhl. Große Hände. Zuverlässige Hände. Nicks Hände. »Zara? Was ist? Was ist los, Baby?«
»Etw … äh … etw …«, presse ich hervor. »Krabbelig. Ich habe das krabbelige Spinnengefühl.«
Ich hebe den Kopf und schaue durch das große Fenster auf das Feld hinaus, das sich bis zum Waldrand erstreckt. Durch dasselbe Fenster habe ich damals gesehen, wie mein Elfenvater auf mich zeigte, lange bevor ich wusste, dass er mein Vater ist. Die Welt schwankt. Jetzt ist dort nichts zu sehen.
Ich sitze seitlich auf dem Stuhl, und Nick ist vor mir in die Hocke gegangen. Seine Hände liegen auf meinen Knien, und er schaut mir in die Augen. Er hat seine besorgte Miene aufgesetzt, sanft und fürsorglich. Dann wechselt er in den Befehlsmodus. »Devyn«, bellt er. »Riechst du was?«
Devyn atmet tief ein. »Nein. Hier drin gibt es zu viele Gerüche. Ich kann sie nicht trennen.«
Aus Nicks Kehle dringt ein leises Knurren: »Ich auch nicht.«
Er steht auf und lässt den Blick durch die Cafeteria schweifen. Sein Körper zittert. Seine Hand greift nach meiner. »Ich sehe ihn nicht.«
»Nick?«
Sein Körper zittert wieder. Die Leute um uns herum merken es und fangen an zu glotzen.
»Oh, Scheiße«, sagt Devyn, was so gar nicht zu ihm passt. »Er verwandelt sich.«
Ich stehe auf und zerre Nick hinter mir her in Richtung Toiletten. »Verwandle. Dich. Nicht«, beschwöre ich ihn. »Du darfst dich hier nicht verwandeln. Niemand ist in Gefahr. Verwandle. Dich. Nicht.«
Issie springt von ihrem Stuhl auf, und Devyn stürzt hinter uns her, aber ich bin so schnell, dass er uns nicht einholt.
Sobald wir die Cafeteria hinter uns gelassen haben, bleibt Nick stehen, lehnt sich gegen eine Wand und zittert. Der Klang seiner Stimme spiegelt seinen flehentlichen Blick: »Zara …«
Ich nehme seinen Kopf zwischen meine Hände. »Du wirst dich nicht verwandeln. Es ist alles in Ordnung. Niemand ist in Gefahr. Es sind keine Elfen da. Glaub mir, Süßer. Wirklich: Mir. Geht. Es. Gut.«
Issie und Devyn holen uns ein. Nick zittert zwar immer noch, als ob er friert, versucht aber, sich unter Kontrolle zu halten. Ich lasse meine Hände an seinem Gesicht und sage: »Ich glaube, er hat es im Griff.«
Eine jüngere Schülerin mit einer riesigen pinkfarbenen Schultertasche geht vorbei und schaut mich an: »Ist er okay? Soll ich den Sanitäter holen?«
Issie versichert der süßen Kleinen, dass alles in Ordnung ist, und schiebt sie weg, während Devyn und ich versuchen, Nick zu beruhigen.
»Das gibt’s nicht«, sagt Devyn. »Es muss einen Grund geben.«
»Er verwandelt sich, wenn jemand in Gefahr ist. Also«, ich spreche das Offensichtliche aus, »war jemand in Gefahr. Das ist der Grund.«
»Ja, aber worin bestand die Gefahr?«, fragt Devyn.
Nick schluckt und bewegt die Lippen. Es sieht aus, als würde er vor Durst fast umkommen, aber er sagt: »Dieser blonde Elf. Er war hier. Er war in der Cafeteria. Ich weiß es.«
»Aber du hast ihn nicht gesehen«, beharrt Issie.
Nicks Hände berühren meine Hände. Er schaut mich an, nicht Issie, und sagt: »Ich muss ihn nicht sehen. Ich weiß es.«