Definition

Von Elfen geführt: verirrt, verwirrt, irregeleitet.

 

Yoko gerät außer Kontrolle. Sie rutscht nach links, schleudert dann nach rechts und rast auf einen Baum zu. Der massive Stamm ist dicker als mein Auto. Wenn ich dagegenknalle? Das wäre nicht gut. Das wäre schlecht, sehr schlecht. Ich werde dagegenknallen.

»Nein!« Meine Stimme schreit das Wort, aber ich höre es eigentlich gar nicht. Ich trete noch heftiger auf das Pedal. Auch die Bremsen kreischen.

»Nick!« Ich rufe seinen Namen, ohne nachzudenken. Das Auto kracht in etwas Großes und Hartes. Den Baum? Mein Kopf wird nach vorn und nach hinten oder nach hinten und nach vorn geschleudert. Ich weiß es nicht. Der Airbag schlägt mir ins Gesicht und gegen die Brust. Ich sehe nichts mehr. Ich kann nicht atmen. Die Welt besteht aus Plastik und Schmerz. Kabel brennen. Der Geruch nach Säure steigt mir in die Nase. Ich drücke gegen den Airbag. Meine ganze Brust schmerzt.

»Komm raus! Komm raus!«, schreit mich eine männliche Stimme an.

Die Tür wird aufgerissen. Kalte Luft strömt herein. Es riecht jetzt noch schlechter. Noch verbrannter. Hände strecken sich nach mir aus, während ich schreiend um mich schlage. Ich stecke fest. »Nick?«

»Ich will dir helfen«, sagt der Mann. Er ist nicht Nick. Natürlich nicht. Natürlich ist er nicht Nick. Konzentration. Ich muss mich konzentrieren.

Ich atme tief ein. »Ich kann mich nicht bewegen.«

»Dein Gurt.«

Gurt? Was für ein Gurt? Mein Gehirn kann das nicht richtig verarbeiten.

»Löse ihn.«

Lösen? Gurt? Ja. Hände greifen über meine Taille. Finger fummeln an meinem Gurt herum. Seine Finger. Der Typ von der Straße. Nicht Nick. Der Elf. Der junge Elf, den ich befreit habe.

»Ich krieg ihn nicht«, sagt er. »Verdammt, ich hasse Eisen. Ich hätte meine Tabletten nehmen sollen.«

Ich versuche die Hand auszustrecken und mich selbst zu befreien, aber ich kann meinen Arm nicht richtig bewegen. Denselben Arm hat mir der Elf Ian schon einmal gebrochen, als er mich entführt und dann versucht hat, mich zu verwandeln. Jedenfalls fühlt er sich gemessen an dem Schmerz, der bis in meine Schulter hinaufschießt, an, als sei er gebrochen oder wenigstens verstaucht.

Die Stimme des Elfs wird dringlicher und schriller: »Feuer!«

»Yoko? Yoko brennt?«

»Das Auto brennt. Bitte halt still, damit ich dir helfen kann.«

Ich rühre mich nicht, auch wenn alles in mir schreit »Raus! Raus! Lauf weg!«. Etwas reißt. Der Gurt? Kann er den Sicherheitsgurt zerreißen? Hände zerren mich aus dem Auto heraus in die Kälte. Aber was sich an meinen Rücken drückt, ist heiß. Der Schmerz verlagert sich von meinem Arm in meine Schulter. Meine Nase brennt von dem Geruch nach heißem Metall und versengtem Gummi und Plastik.

Er stöhnt und fällt nach hinten in den Schnee. Vom Auto kommen sirrende Geräusche. Es gelingt mir, den Kopf so weit zu drehen, dass ich hinschauen kann, aber mein Hals ist ganz steif und lässt sich nur wahnsinnig langsam bewegen. Yoko besteht nur noch aus einem wirren Haufen Stahl. Die Tür steht offen. Aus der Kühlerhaube schlagen Flammen. Der dicke Rauch ist ganz dunkel und giftig und sieht aus, als wäre er nicht von dieser Welt. Glas zerbirst und fällt auf die Straße.

»Der Wagen könnte explodieren«, sage ich und klinge, als würde ich schlafen oder hätte vierzig IQ-Punkte eingebüßt oder so. »Autos können explodieren.«

Er nickt und steht auf. »Kannst du gehen?«

»Ich, ich weiß nicht. Gute Frage.«

Er beugt sich nach vorn und zieht mich hoch. Dann legt er mich über seine Schulter und geht rasch an der Schneewehe entlang. Seine Füße berühren kaum den Boden.

»Du bist verletzt«, keuche ich. »Dein Bauch. Du wirst dich noch mehr verletzen.«

Noch mehr Glas birst.

»Machst du dir auf einmal Sorgen um einen Elf?« Er lacht. Sein Lachen klingt schrecklich rau und ist voller Schmerz. Ich weiß nicht, ob der Schmerz psychisch oder physisch ist, ich wünsche nur, ich könnte ihn vertreiben oder wenigstens lindern. Er grinst. »Was wird dein Freund dazu sagen?«

Er geht in die Hocke, und ich gleite hustend von seiner Schulter. Meine Hüfte landet auf dem harten, festgetretenen Schnee. Wir sind ungefähr ein Fußballfeld weit entfernt von Yoko. Das Auto ist in einen riesigen Baum gekracht. Die Kühlerhaube ist eingedellt und hat sich um den Stamm gewickelt. Ich rapple mich zum Sitzen auf. Mein Hals fühlt sich nicht an, als wolle er meinen Kopf noch länger tragen. »Wir müssen das Feuer löschen. Mein Auto …«

Da explodiert es schon. Der Knall zerreißt mir die Ohren. Bevor ich michs versehe, packt der Elf mich und zieht mich an sich. Seine Hände legen sich um meinen Kopf, und er dreht sich, sodass sein Rücken zum Auto zeigt. Es ist, als würde er uns vor der Druckwelle schützen wollen, was wirklich nett von ihm ist, aber ich weiß nicht, warum er sich um mich kümmert, warum …

»Oh Mann. Oh …« Ich kann nicht einmal anfangen zu atmen. Ich habe seine Jacke im Mund. Sie schmeckt nach Wolle, bitter und eklig. Ich bemühe mich, ein bisschen mehr Freiraum zu haben, damit ich etwas sehe. Orangefarbene und schwarze Flammen schlagen aus Yokos Körper. Woran ich als Erstes denke? An mein Handy. Mein Handy ist da drin. Und mein iPod. Und meine Hausaufgaben. Und mein Laptop. In meinem Kopf pocht es. Ist das normal? Ist es normal, zu denken?

»Deshalb hasse ich Technik!« sagt er halb murmelnd halb schreiend. »Sie ist wahnsinnig gefährlich.«

Auf einmal ist mein Kopf ganz klar, und ich bin fuchsteufelswütend. »Was? Das ist doch nicht die Schuld der Technik. Das ist deine Schuld«, schreie ich ihn an. »Du hast mitten auf der Straße gestanden. Wegen dir bin ich überhaupt nur ausgewichen. Wegen dir bin ich gegen den Baum gefahren.«

Er gibt einen verächtlichen Laut von sich. Seine Nase zuckt.

»Warum hast du mitten auf der Straße gestanden?«, will ich wissen und versuche, meinen Arm ruhig zu halten. »Wolltest du mich umbringen?«

Er antwortet nicht. Ein bisschen Blut sickert durch das graue T-Shirt, das er unter seiner offenen Jacke trägt.

Ich krabble ein Stück zurück und zucke vor Schmerz zusammen. Dann bleibe ich still sitzen und versuche, meinen Zorn zu unterdrücken. »Du hast mich schon einmal k.o. geschlagen, in meinem Auto. Dann bist du geflohen …«

Er nimmt ein Stück abgerissenen Sicherheitsgurt von seinem Bein. Ich habe keine Ahnung, wie der dorthinkam.

»Du bist ohnmächtig geworden. Ich habe die Gelegenheit genutzt und bin gegangen.« Er lächelt. Es ist ein krasses Lächeln. Freundlich und doch nicht freundlich. Schön, aber gefährlich. Fast raubtierhaft. Ich verstehe, warum Nick ihn fast umgebracht hat. Nick … Ich habe die Warnung meines Vaters im Ohr. Dennoch muss ich jemanden anrufen, wenigstens die Feuerwehr.

»Hast du ein Handy?«, frage ich.

Er berührt sanft meine Wange. Sanft? »Hab ich, aber du kannst es nicht benutzen. Sonst haben sie meine Nummer.«

Ich versuche, nicht zurückzuschrecken. »Bitte, ich bin verletzt …«

Er scheint darüber nachzudenken, dann nickt er. Er drückt ein paar Tasten seines Handys. »Jetzt ist die Nummer unterdrückt. Ich wähle den Notruf.« Dann spricht er in das Handy. »Es hat einen Unfall gegeben. Mit einem Auto. Auf der Route 3 ungefähr eine Meile hinter dem Supermarkt von Bedford. Das Auto brennt. Eine Person ist verletzt, aber nicht lebensbedrohlich.«

»So. Fertig.« Er klappt das Telefon zu und schaut mich an. »Du bist immer noch ganz blass. Kannst du dich aufsetzen?«

»Danke.« Ich falle wieder in den Schnee, als er gerade den Arm um mich legen und mich unterstützen will. Sein Arm wird unter meinem Körper eingeklemmt, wie peinlich. »’tschuldigung.«

»Ich entschuldige mich«, sagt er gleichzeitig. Ich wusste nicht, dass Elfen sich entschuldigen können. Er zieht den Arm vorsichtig unter meinem Körper hervor, sodass es mir nicht allzu wehtut.

Er scheint in den Wald hineinzuhorchen. »Ich werde gleich aufbrechen müssen, Kleines. Kommst du auch allein klar?«

»Kleines?« Zorn wallt wieder in mir auf.

»Ich weiß nicht, wie du heißt.« Er schielt zu mir herab. Seine Augen haben eine wunderbare sattgrüne Farbe wie die Wipfel von Kiefern, aber das ist ein Zauber. In Wirklichkeit sind sie silberfarben wie bei allen Elfen. Nur wegen des Zaubers sieht er aus wie ein Mensch. »Ich sollte deinen Namen wissen, nachdem wir uns gegenseitig gerettet haben.«

Ich sage ihm nicht, wie ich heiße. Ich will nicht, dass er wie mein Vater meinen Namen flüstert, wenn ich im Wald bin, um mich in die Irre zu leiten. Stattdessen frage ich ihn noch einmal: »Warum hast du mitten auf der Straße gestanden?«

»Ich habe auf dich gewartet.«

Ich nicke, als ob das für mich einen Sinn ergeben würde. Tut es aber nicht. »Ich fühle mich nicht gut.«

»Du stehst unter Schock.« Er drückt seine Finger leicht gegen meinen Arm. »Du bist verletzt. Außerdem bist du ein bisschen blau geworden.«

»Es ist kalt.«

Er hebt eine Augenbraue und rutscht in eine andere Position. Als er sich bewegt, zuckt er zusammen. »Ich glaube nicht, dass das der Grund ist.«

»Bist du verletzt?«, frage ich. »Dein Bauch …«

»Die Wunde heilt schon. Ich bin noch nicht ganz gesund, aber ich bin dankbar, dass du fragst, und danke dir, dass du mich gerettet hast.«

Ich mustere ihn. Er sieht so normal aus. Ich versuche, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, seine vom Wind verstrubbelten blonden Haare, seine Augen. Ich versuche, hinter dem guten Aussehen den Elf zu erkennen. »Warum hast du auf der Straße auf mich gewartet?«

»Ich möchte, dass du mich zu ihnen führst.«

»Zu wem? Zu den anderen Elfen?«

»Ja.«

»Da kannst du lange warten«, sage ich. Ich atme tief ein, und ein stechender Schmerz fährt mir in die Rippen.

Er legt die Hand hinten an meinen Kopf. »Atme flach. Ich glaube, du hast dir die Rippen geprellt.«

Wir sind uns so nahe. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter entfernt. Ich muss schlucken. »Du musst versprechen, meinen Freunden nichts zu tun. Wenn es sein muss, dann tu mir was, aber lass meine Freunde in Ruhe.«

»Ich werde dir niemals etwas antun.« Seine Augen schauen mich einen Augenblick lang direkt an. »Ich lasse dich nur ungern allein, aber du wirst klarkommen.«

Er klingt so ernst, als wolle er tatsächlich helfen. »Erzähl mir von der Walküre«, dränge ich. Meine Brust brennt.

»Ja, irgendwann.«

»Nein. Jetzt.«

Er zieht seine Hand hinter meinem Kopf hervor, steht auf und tätschelt meine Schulter, wie eine Mutter es tun würde. Dann sagt er: »Dein Wolf ist gleich da.«

Ich huste und stoße dann hervor: »Mein Wolf? Woher weißt du das?«

»Sein Geruch umgibt dich.« Er weicht zurück, als wenn der Geruch schlecht wäre wie gekochter Brokkoli oder so. Einen Augenblick lang kommt er mir ganz jung vor, fast niedlich, als könnte ich den kleinen Jungen sehen, der er einmal war. Das weckt in mir den Wunsch, ihn zu trösten … fast.

Ich rutsche mühsam näher zu ihm. Mit einer Hand greife ich stützend nach hinten in den beißend kalten Schnee. »Was meinst du mit ›meinem Wolf‹?« Mein Vater hatte mich davor gewarnt. »Er gehört nicht mir. Ich besitze ihn nicht. Menschen besitzen einander nicht.«

Aber er ist schon fort, der Idiot, einfach mit dem Nebel verschmolzen. Ich hocke allein auf der Schneewehe. Yoko ist nur noch ein brennender Haufen Schrott. In der Ferne höre ich Martinshörner.

Er hat sich alles schon zusammengereimt, da könnte ich wetten. Elfen sind so: durchtrieben und schlau. Sie sind nicht absolut böse, nur gerade böse genug. Klar.

 

»Zara!« Nicks Stimme holt mich in die Wirklichkeit zurück. Es ist ein Kampf. Meine Augen öffnen sich. Er steht über mir und verdeckt mir die Sicht. »Ach … Baby.«

»Alles in Ordnung«, bringe ich heraus. Ich strecke den gesunden Arm aus, um ihn zu berühren. Er sieht so warm aus. Ich sehne mich nach seiner Wärme. »Ich habe Yoko umgebracht.«

»Ist dir kalt? Du bist ein bisschen blau.« Er richtet mich auf und drückt mich an sein Sweatshirt. Ich schreie vor Schmerz auf, und er lockert sofort seinen Griff. »Baby?«

»Mein Arm«, keuche ich. »Und meine Rippen.«

»Es tut mir leid. Es tut mir so leid, dass ich dir wehgetan habe.« Auf seinem Gesicht zeichnen sich Angst und Sorge ab. Ein bisschen Elfenstaub ist auch darauf. »Ich wollte dich nur in den Arm nehmen.«

»Konntest du ja nicht wissen.«

Er lässt mich vorsichtig wieder auf den Boden gleiten. Dann streift er seine Jacke ab, stopft sie unter meine Beine und legt sich dann selbst in den Schnee, damit er mich wärmen kann. Die Martinshörner kommen näher. Die Bäume schwanken im Wind. Er riecht nach Wärme, nach dem Aftershave Old Spice und ein bisschen auch nach dem Desinfektionsmittel aus dem Krankenhaus.

»Es tut mir so leid, Baby.« Er schaukelt langsam hin und her. »Was ist passiert? Bist du auf eine Eisplatte gekommen?«

»Da war ein Elf. Derselbe … derselbe, den ich befreit habe.«

Er erstarrt. »Was ist passiert? Was hat er dir getan?« Seine Stimme wird geradezu eisig. »Hat er dich geküsst?«

»Nichts. Er war … er stand mitten auf der Straße. Ich habe eine Vollbremsung gemacht und bin geschleudert. Dann war da dieser Baum.« Ich versuche mich aufzusetzen, »ich kann mich schon hinsetzen. Es tut nur ein bisschen weh.«

»Bleib.« Nick untersucht mich. »Kann ich deine Jacke aufmachen?«

»Ja.«

Er dreht mich herum, sodass ich fast auf seinem Schoß liege. Er öffnet den Reißverschluss meiner Jacke und zieht mein Laufshirt und die Unterwäsche an meinem Hals ein Stückchen nach unten. »Du hast Prellungen«, sagt er. »Kommen die Martinshörner zu dir? Hast du 911 angerufen?«

»Er hat angerufen. Mein Handy ist da drin.« Ich zeige auf Yoko. »Genau wie mein Laptop und mein iPod und …«

»Er hat angerufen? Der Elf?«, unterbricht Nick mich.

»Er hat mich gerettet. Er hat mich aus dem Wagen gezogen, bevor er in Flammen aufging.«

Nick knurrt. Sein Rücken wird ganz steif, und sein Kopf fliegt nach oben. »Er hat dich nicht gerettet. Er hat deinen Unfall verursacht. Er hat dich wahrscheinlich nur deshalb in Ruhe gelassen, weil du so verletzt bist, dass er dich nicht küssen und verwandeln konnte.«

»Das stimmt nicht. Er möchte wissen, wo die anderen Elfen sind. Ich glaube, er will sie befreien.«

Nick stöhnt. »Das ist alles meine Schuld.«

Ich rücke dichter an ihn heran und lege meinen gesunden Arm um seinen Hals, obwohl er vor Zorn zittert. Die Wut pulsiert in ihm. Ich möchte nicht streiten. Ich bin zu müde, um zu streiten. »Es ist nicht deine Schuld. Es ist alles in Ordnung.«

Nick atmet in kurzen, abgehackten Zügen ein, und ich merke, dass ein kleines bisschen der Spannung von ihm abfällt. Seine große Hand liegt auf meinem Hals, und er fängt an, mein Gesicht mit kurzen, leichten Küssen zu bedecken. Gleichzeitig streichelt er meine Wangen. Es fühlt sich so gut an. Auf einmal fühle ich mich so sicher. Aber das kann nicht so bleiben, oder? Natürlich kann es nicht so bleiben.

Ein Feuerwehrauto hält neben meinem Auto. Ich bemerke, dass es nicht rutscht. Ich bin diejenige, die immer in die verschiedensten Richtungen rutscht, weil ich auch diejenige bin, die sich leichtsinnig verhält und es dann nicht zugibt. Feuerwehrleute springen aus dem Wagen und ziehen Schläuche hinter sich her. Einer von ihnen kommt die Straße hinunter auf uns zu.

»Nick, obwohl das alles nur passiert ist, weil ich ihn freigelassen habe«, beginne ich zu erklären, »bedaure ich nicht, dass ich es getan habe. Er wäre sonst gestorben.«

»Und das wäre schlimm gewesen?«, blafft Nick. Er legt den Kopf einen Augenblick zurück und schließt die Augen. Dann beginnt er wieder zu sprechen, und seine Stimme ist jetzt viel sanfter: »Du darfst nicht so nett sein, in deinem eigenen Interesse nicht, Zara. Du musst lernen, weniger nett zu sein.« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, um seinen Worten den Stachel zu nehmen. »Besonders zu Elfen. Abgemacht?«

Ich nicke, aber ich kann ihm das nicht versprechen. Ich kann nicht sagen: »Abgemacht.« Stattdessen sage ich: »Ich höre auf, nett zu sein, wenn du aufhörst, Risiken einzugehen.«

Er schüttelt den Kopf, aber wir wissen beide, dass ich es so meine, und wir wissen beide, dass keiner von uns einlenken wird, zumindest nicht in nächster Zeit.

 

Grandma Betty steigt aus dem Krankenwagen, knallt die Tür zu und marschiert mit kraftvollen Schritten über den Schnee, während sie in ihr Funkgerät spricht und ihre Notfalltasche schultert. Nur ein kurzes Flattern ihres Blicks verrät ihre Gefühle. Sie ist im Dienst. Keine Umarmungen jetzt. Sie beugt sich über mich, schwebt über meinem Gesicht und kontrolliert meine Augen. »Die Pupillen sehen gut aus.«

Ich öffne den Mund, um zu sprechen.

Sie legt einen Finger auf dem Mund und bedeutet mir zu schweigen. Die Falten in ihren Augenwinkeln graben sich noch tiefer ein. »Sag mir, wie du heißt.«

»Zara.«

»Wo bist du?«

»In Maine. Oder bei Bewusstsein?«

»Sehr lustig. Netter Sarkasmus, Fräulein. Aber ich weiß schon, von wem du den hast.« Sie fängt an zu lächeln, wird dann aber gleich wieder ganz professionell. »Bist du herausgeschleudert worden?«

Ich verstehe nicht.

»Ich meine, aus dem Auto«, erklärt sie. »Bist du herausgeschleudert worden.«

»Nein.«

Ihre Augen verengen sich, wie immer, wenn sie versucht, sich über etwas klarzuwerden. Der Wind zerzaust ihr graues Haar. »Wie bist du dann hierhergekommen?«

»Ich … ich …«

Ich brauche offenbar zu lange, denn sie unterbricht mich. »Hast du sie hergebracht, Nick?«

Nick schüttelt vorsichtig den Kopf, vermutlich weil er mir nicht zu sehr wehtun möchte. »Ich war nicht da, als es passiert ist. Sie ist getinkert worden.«

Betty nickt rasch und ändert die Gangart. »Was tut weh?«

»Mein Arm. Der, den ich mal gebrochen habe. Mein Brustkorb. Mein Kopf und mein Nacken. Aber es ist nicht so schlimm«, erkläre ich, während Betty den anderen Sanitäter, einen großen Mann namens Keith, anweist, der die Frisur eines Filmstars hat und ein sehr merkwürdiges Kinn. Sie holen eine Trage aus dem Krankenwagen.

»Wir müssen sie tragen«, sagt Betty zu Nick.

»Entschuldigung, ich bin nicht ›sie‹. Ich bin direkt hier. Und ich kann gehen«, beschwere ich mich und versuche aufzustehen.

»Nein.« Betty legt mir eine große, hässliche Halskrause an.

»Ich hab mir nicht den Hals gebrochen«, beharre ich, als sie mich hochheben.

»Ich will kein Risiko eingehen«, erklärt sie. Ihre Stiefel treten hart und unnachgiebig in den Schnee.

Nick wirft mir einen mitfühlenden Blick zu. Er sieht fast aus, als würde er gleich lachen. Ich rümpfe die Nase in seine Richtung, und er muss lächeln.

»Kann ich im Krankenwagen mitfahren?«, fragt er.

Betty denkt einen Augenblick nach.

»Ich kann laufen«, sage ich noch einmal. »Die Leute schauen mich schon an.«

»Feuerwehrmänner sind keine Leute. Sie sind Profis, und es ist ihre Aufgabe, zu schauen. Ja, du kannst mitfahren, Nick«, sagt Betty, und genau in diesem Augenblick halten Issie und Devyn neben uns an. Issie springt aus dem Auto und eilt zu uns.

»Mensch, Zara! Haben die Elfen das getan?«, platzt sie heraus.

Keiths Kopf fliegt herum und sein Mund klappt auf. Er schaut sie erstaunt an: »Elfen?«

»Die Band«, eilt Betty zu Hilfe. »Zara hört immer viel zu laut Musik im Auto. Die Elfen sind eine dieser alternativen Gruppen aus den Achtzigern.«

»Sehr retro«, sagt Is und versucht ihren Fehler wiedergutzumachen. »Old School. Aber hip. Ja. Zara ist ganz schön hip. Zara, hast du dir die Hüfte gebrochen?«

Nicks Hand legt sich auf Issies Schulter. »Hol mal Luft, Is.«

»Luft holen?«

»Einatmen und wieder ausatmen«, sagt Nick ruhig, Die Feuerwehrleute rufen sich laute Kommandos zu. Von Yokos Überresten her erklingt ein heftiges Klopfgeräusch, dann das Scheppern von Metall gegen Metall und das Gurgeln von Wasser in Schläuchen. Nick verlagert sein Gewicht von einem Bein auf das andere und redet weiter mit Issie, als würde nichts anderes passieren. »Und geh vielleicht einen Schritt zurück, damit sie Zara in den Krankenwagen bringen können.«

»Sie kommt in den Krankenwagen?!«, ruft Issie aus. Sie streckt den Arm aus und ergreift meine Hand. »Wir fahren hinterher. Den ganzen Weg. Wir bleiben direkt hinter dir. Mach dir keine Sorgen. Okay? Keine Sorgen.«

»Hol Luft, Issie. Ich bin okay.« Ich lächle und drücke kurz ihre Hand, bevor ich sie wieder loslasse. »Keine gebrochene Hüfte. Keine heftige Gehirnerschütterung.«

»Ich danke Gott für ein kleines Wunder«, murmelt Betty, als sie mich in den Krankenwagen heben. Sie quetscht sich neben mich. Es ist sehr eng hier, voller Instrumente, Schubkästen mit Medikamenten und Nadeln, alles was man braucht, um die Menschen zu stabilisieren und am Leben zu halten, bis sie im Krankenhaus sind. Auch Nick klettert herein. Er muss den Kopf einziehen.

Als Keith sich auf den Fahrersitz schwingt, murmelt Betty leise, sodass nur ich sie hören kann: »Du wirst mir noch genau erzählen, was passiert ist, verstanden?«

Ich versuche zu nicken, aber das ist schwierig mit der blöden Halskrause. »Es tut mir leid wegen des Autos, Gram.«

»Das Auto, Zara, ist meine geringste Sorge«, sagt sie. Dann macht sie etwas für sie ganz Untypisches. Sie beugt sich herab und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ihre Lippen sind trocken und weich. »Du bringst mich noch ins Grab.«

Sie kichert. Ich liege auf dem Rücken und schaue in ihre Gesichter hinauf. Das Neonlicht ist so hell, dass ich jede einzelne Pore erkennen kann und die einzelnen Haare in Nicks Augenbrauen. So viele Menschen sind in diesem Krankenwagen schon gestorben. Einige konnte Betty retten. Sie ist ein Held. Wie Nick, der schon so viele Elfen ganz allein besiegt hat und sich niemals beklagt, sondern nur versucht, alle zu beschützen. Jeder kann ein Held sein, aber ich habe zwei direkt neben mir, und beide lieben mich. Tränen rinnen mir aus den Augen.

Nick beugt sich herab und küsst meine Lider. »Dich zu lieben, Zara, ist ein Fulltime-Job. Es ist eine großartige Aufgabe, versteh mich nicht falsch. Der beste Job im Universum. Aber er ist nicht leicht, denn du tendierst dazu …«

»Dich zu verletzen?«, schlägt Betty vor. »In Schwierigkeiten zu geraten? Ohnmächtig zu werden? Dir die Arme zu brechen?«

»Alles, was aufgezählt wurde.« Nick lacht.

Meine Hand findet Nicks Handgelenk, und ich packe zu. »Vergiss nicht, dass ich hier der Patient bin. Wo sind deine Krankenbett-Manieren? Wo ist dein Mitgefühl?«

»Zara, Mitgefühl ist einfach nur eine gute Ausrede dafür, Grußkarten zu kaufen und betrübt zu schauen und insgeheim zu triumphieren, dass man nicht selbst derjenige ist, dessen Eingeweide raushängen, sodass die ganze Welt sie sehen kann«, sagt Betty.

 

Die Untersuchung im Krankenhaus ergibt

 

  • ein verstauchtes Handgelenk
  • ein paar geprellte, aber nicht gebrochene Rippen und
  • ein leichtes Schleudertrauma, das keine Halskrause erfordert.

 

Gram zieht sich im Krankenhaus um und fährt uns dann in ihrem Pick-up nach Hause. Ich sitze in der Mitte und lehne mich an Nick.

Meinen Oberschenkel presse ich fest gegen seinen. »Gott sei Dank.«

»Gott sei Dank was?«, fragt er. Seine Hand reibt langsam über meine Schulter. Die Berührung lässt mich wohlig schaudern.

»Dass ich keine Halskrause bekommen habe. Ist nicht so einfach, sich mit einer Halskrause zu bewegen, vor allem wenn wir noch zu dem Ball gehen wollen.«

Er lehnt sich zu mir und küsst mich auf die Nasenspitze. »Wenn es jemand kann, dann du.«

Ich neige den Kopf, sodass sich unsere Lippen berühren.

»Hallo, ihr Turteltäubchen, ich bin auch noch da. Ich. Die alte Dame, auch bekannt als deine Großmutter«, sagt Betty.

»’tschuldigung. Er ist einfach unwiderstehlich«, antworte ich und kuschle mich an ihn.

»Na, dann versuch mal, dem Unwiderstehlichen zu widerstehen«, meint Betty vielsagend, als der Pick-up über ein Schlagloch rumpelt. »Entschuldigung. Ich wollte euch nicht absichtlich durchrütteln.«

»Moment mal«, sagt Nick. »Was sollte das heißen?«

»Sie meint, dass ich dem Unwiderstehlichen widerstehen sollte«, erkläre ich.

»Aber damit bin ich gemeint.«

Betty fängt wieder an zu lachen:- »Du hast eine hohe Meinung von dir selbst, Mr Colt, nicht wahr?«

Er fängt an zu stottern. »Aber Zara hat gesagt, und dann … und Sie haben … gesagt …«

»Ich habe nicht nur dich gemeint, Nick«, sagt sie, und ihre Stimme wird einen Augenblick lang ganz weich. Dann klingt sie wieder härter, und ich weiß schon, was kommt. Wir haben ihr von dem Elf erzählt, den ich befreit habe. Die Veränderung ihrer Stimme bedeutet, dass es jetzt Zeit ist für die Offizielle Großmutter-Standpauke. »Zara kann nicht nur dir nicht widerstehen, sondern auch der Gerechtigkeit nicht. Sie muss einfach immer einen edlen Charakter an den Tag legen. Märtyrer sein. Den Schmerz anderer beenden. Und darüber vergisst sie sich selbst und das große Ganze.«

»Das ist zu hart, Betty«, verteidigt Nick mich.

»Hart? Ich sage dir, was hart ist. Mit ihrem ganzen Gutmenschentum hat sie einen Elf befreit, wahrscheinlich einen König, gemessen daran, wie schnell er genesen ist, und dann ist sie deshalb fast zu Tode gekommen.« Sie biegt um eine Kurve, und obwohl sie wütend auf mich ist, fährt sie langsam, damit ich nicht zu sehr durchgerüttelt werde. »Hast du das verstanden, Zara? Du hättest heute sterben können.«

Meine geprellten Rippen machen mir unmissverständlich klar, was sie meint. Wir biegen in unsere Einfahrt ein. Alle Fenster im Haus sind dunkel. Der Himmel ist dunkel. Alles ist dunkel. Der Wald besteht nur aus bruchstückhaften Schatten. Man sieht nicht, was dort hinten ist. Man sieht nicht, wer dort vielleicht steht und zuschaut.