Elfen-Tipp

Elfen sehen nicht aus wie Tinker Bell, auch wenn sie gelegentlich Tutus tragen. Aber ehrlich gesagt, wer tut das nicht?

 

Statt uns in der Cafeteria ein richtiges Mittagessen zu holen, schnappen Devyn und ich uns nur ein paar Bagels und stürzen in die Bibliothek, um zu recherchieren. Ich winke der Bibliothekarin zu, deren Name ich immer vergesse, was total bescheuert von mir ist, weil ich sie supernett finde. Dann stellen wir unsere Laptops auf einen der glänzenden Holztische. Das helle Holz ist fast gelb. Devyn stößt sich den Kopf, als er das Netzkabel seines Computers in die Steckdose stecken will.

»Autsch!« Er lässt das Kabel fallen.

Ich greife danach. »Komm, lass mich machen.«

Ein paar Funken fliegen, und Devyn sagt: »Danke.«

»Kein Problem.«

Die Bibliothek ist recht gut besucht. Niemand flüstert, aber schreien ist verboten. Eine Gruppe von Mädchen hockt kichernd um einen Computer herum. Der Computer klickt. Wahrscheinlich machen sie Fotos. Ein dunkel gekleideter Junge sitzt über seinen Bildschirm gebeugt da. Zwei andere Jungen tippen wie wild auf ihren Schirmen herum, aber ich weiß nicht, ob sie arbeiten oder spielen. Dev und ich wollen für unser Elfenbuch recherchieren. Das ist ganz schön schwierig. Im Netz geht es fast immer nur um Feen wie Tinker Bell oder um Gestalten in Computerspielen.

»Warum habe ich nur Treffer zu Feen und Computerspielen?«, murre ich.

»Nur Geduld.«

Ich versuche es mit einer anderen Site und überfliege sie. »Okay, meine Geduld hat mich auf diese Seite geführt, in der es um eine Frau geht, die gerade promoviert und sich in Schottland zur Ruhe setzen will und ein Faible für Karikaturen von arbeitenden Frauen in kurzen Röcken hat.«

Devyns Augen leuchten auf. »Zeig mal. Vielleicht ist sie ein Elf.«

»Glaub ich nicht.«

»Man kann nie wissen.« Er streckt den Kopf hinter seinem Bildschirm hervor und reißt einen Bagel auseinander.

In den letzten Monaten haben wir ungefähr zwanzig Blogs überprüft, die mit Elfen zu tun hatten. In keinem sind wir auf echte Elfen gestoßen. Meist waren es Fantasy-Fans, was ja in Ordnung ist, aber nicht das, was wir suchen. »Ich hab darauf keinen Bock mehr. Ich will was tun.«

Er hält inne, bevor er den Bagel in den Mund steckt. »Du tust etwas, wenn du recherchierst.«

Ich schnaube. Unwillkürlich. »Wenn ich patrouilliere auch.«

Mein Handy vibriert. Ich lächle. Ebenfalls unwillkürlich.

»Nick?«, fragt Devyn. »Wie lange habt ihr euch nicht gesehen? Fünf Minuten?«

»Fünf Minuten«, verkünde ich, während ich die Meldung abrufe, »ist eine sehr lange Zeit.«

»Und«, er verdreht die Augen, »was schreibt er? ›Ich liebe dich, Baby‹?«

»Klappe. Er schreibt: ›Komm mal zum Lyrik-Regal‹.« Ich springe auf und schaue mich suchend in der Bibliothek um. »Er ist hier.«

Devyn fängt an zu lachen. »Du lässt mich im Stich, was?«

»Jep«, antworte ich und versuche mich zu erinnern, wo die Gedichtbände stehen. »Du kannst sowieso besser recherchieren als ich.«

»Das stimmt nicht.«

Ich mache mich auf den Weg in den hinteren Teil der Bibliothek, husche aber wieder zurück, beuge mich über den Tisch und flüstere: »Such nach Elfeninvasion. Im Augenblick sind es einfach zu viele. Das ist nicht mehr normal.«

»Gute Idee.«

Ich gehe schnell an der Ausleihtheke vorbei, wo die Bibliothekarin darüber doziert, wie man Quellen zitiert, und tauche in den Gang Belletristik Ca-Cz ein. Dann wende ich mich nach rechts. Die Bibliotheksregale reichen bis zur Decke. Um an manche Bücher zu kommen, braucht man einen Tritthocker. Für eine normale Highschool ist das eigentlich eine erstaunliche Bibliothek. Ich glaube, die Gedichtbände stehen ganz hinten links, aber ich bin mir nicht sicher.

Mein Handy vibriert wieder. Ich lese die Nachricht:

Wo bleibst du?

Ich antworte: Sei nicht so ungeduldig.

In der Bibliothek riecht es nach alten und neuen Büchern, nach Kaffee und nach Bagels. Durch einige Fenster, die alle denselben Abstand voneinander haben, fällt dieses perfekte goldene Licht herein, das alles so erscheinen lässt, als würde es vor Glück erstrahlen. Ich biege um die Ecke.

Nick lächelt mich an. Er lehnt an einem großen grauen Heizkörper. Sein dicker schwarzer Pullover scheuert an der Wand. Einen Augenblick lang möchte ich die Wand sein. Okay, mehr als einen Augenblick lang.

»Hallo«, sagt er.

»Hallo.« Ich erwidere sein Lächeln. »Ich dachte, du schwänzt das Mittagessen, um mit Issie zusammen auf Patrouille zu gehen.«

»Ich habe gelogen.« Er geht in die Hocke und hebt einen kleinen schwarzen Rucksack auf, den ich nicht kenne. Dann zieht er ein Strandtuch heraus und breitet es auf dem Boden aus.

»Komm, ich helf dir.« Ich schnappe mir zwei Ecken des leuchtend blauen Handtuchs mit Wellenmuster. Unsere Finger berühren sich. Wir bekommen einen Schlag, aber keiner von uns zuckt zurück.

»Statische Elektrizität«, murmelt er. Sein Mund bewegt sich, während er das sagt. Er bewegt sich, als würde er mich küssen. Ich beuge mich nach vorn. Er hebt einen Finger. »Einen Augenblick. Setz dich auf das Handtuch, Baby.«

»Kommandier mich nicht rum«, sage ich, aber ich setze mich dennoch hin.

»Du kommandierst mich auch rum.«

»Stimmt«, räume ich ein.

Er lacht und zieh einen Gefrierbeutel mit etwas Großem, Rundem darin hervor. Kekse!

Ich werfe mich nach vorn. »Sind das …?«

»Schokoladenkekse mit Erdnussbutterchips«, führt er meinen Satz zu Ende.

Ich starre immer noch auf seine Lippen, aber öffne zugleich den Beutel. »Meine Lieblingssorte. Meine Mum hat sie immer gebacken.«

»Ich weiß.«

»Und woher?«

»Du hast es mir mal erzählt.«

Er setzt sich zu mir, und bevor ich zu heftiges Herzflattern bekomme, zieht er einen Keks heraus, hält ihn mir vor den Mund und neckt mich: »Willst du ihn?«

Ich öffne den Mund, und er schiebt den Keks ein kleines Stück weit hinein. Ich beiße ab. Der Keks schmilzt mir auf der Zunge. »Das ist soooo gut.«

Er lacht und lehnt sich zurück. Dann flüstert er: »Du weißt schon, dass wir hier nicht essen dürfen.«

Ich schlucke. »Wir benehmen uns total daneben.«

»Und wie.« Er beißt in meinen Keks. »In zwei Wochen ist dieser Ball.«

»Ja, der Winterball«, unterbreche ich ihn. »Die Plakate hängen schon überall.«

»Willst du hin?«

Ich denke kurz nach. »Ziehst du dich schick an?«

Er nickt.

Ich rutsche ein Stück vor, sodass mein Gesicht viel näher an seinem ist. Etwas in meiner Brust wird warm, wie ein angenehmes Sodbrennen, und ich sage: »Und wir tanzen auch? Langsam?«

Er nickt wieder. Eine Sekunde lang kaut er auf seiner Unterlippe, dann kommt sie wieder zum Vorschein.

Während ich den Rücken strecke, sodass meine Lippen seinen Mund fast berühren, sage ich: »Und du drückst dich an mich, und wir bewegen uns ganz eng aneinandergeschmiegt, und dann streckst du die Hand aus und legst sie hinten auf meinen Kopf, und deine Hände vergraben sich in meinen Haaren und …«

Statt zu nicken, neigt er den Kopf und fährt mit den Fingern durch meine Haare. Seine Lippen, weich und hart zugleich, verschmelzen mit meinen zu einem unendlich langen Kuss. Sein Atem mischt sich mit meinem Atem. Es gibt nur noch ihn und mich und Bücher und Kekse.

»Ist es das, was du willst?«, fragt er, als wir uns endlich voneinander lösen.

Ich atme tief ein und hebe meinen Mund zu seinem Ohr. »Genau das will ich.«

»Und wenn ich verspreche, dass du es bekommst, gehst du dann mit mir zu dem Ball?«

Ich lasse mich zurück auf die Fersen sinken. »Ja, aber du musst versprechen, dass du nicht mehr allein auf Patrouille gehst.«

Einen Augenblick lang erstarrt er, dann lächelt er und kreuzt die Arme vor der Brust. »Du bist echt nervig, saumäßig nervig sogar.«

»Aber deshalb liebst du mich doch, oder?«

Er wirft mir noch einen Keks zu. »Deswegen und weil du mir eine Ausrede dafür lieferst, dass ich Kekse backe.«

Ich fange den Keks mit der linken Hand auf. »Guter Grund. Willst du wissen, warum ich dich liebe?«

»Weil ich ein fantastischer Keksbäcker bin?« Er bricht seinen Keks in der Mitte durch und steckt sich eine Hälfte in den Mund.

»Auch«, gebe ich zu und knabbere an meinem eigenen Keks. Ich schlucke. »Aber das ist nicht der ganze Grund.«

Ein Krümel fällt auf seine Hose. Ich wische ihn weg, während er sagt: »Du lässt mich zappeln, was?«

»Gut. Ich will dich nicht auf die Folter spannen.« Ich kreuze die Beine und lächle ihn an. »Ich liebe dich dafür, wie du dich um andere Menschen kümmerst, dafür, wie dickköpfig du bist und wie sehr du Issie und Devyn magst.«

Er beugt sich herab, küsst mich auf die Stirn und dann auf beide Augenlider. Sie sind sehr zärtlich, diese Küsse. Sachte und ehrlich. »Ich liebe dich auch, Zara.«

»Ich bin so froh darüber«, seufze ich. Und ich bin es wirklich.

 

Der Rest des Tages verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Nick arbeitet nach der Schule im Krankenhaus. Issie und Devyn sind in der Französisch-AG, deshalb gehe ich alleine joggen. Seit keine Jungen mehr verschwinden, dürfen wir wieder draußen laufen. Die Schule hatte das Training für Querfeldeinläufe untersagt, nachdem Jay Dahlberg und Brian Beardsley von Elfen entführt worden waren. Allerdings wusste niemand, dass es Elfen waren. Man wusste nur, dass im Wald Jungen verschwanden. Auch heute wissen nur einige wenige, was wirklich passiert ist. Alle anderen denken, ein Serienmörder sei am Werk gewesen.

Jedes Mal wenn mein Fuß den Boden berührt, höre ich das Lachen meines Stiefvaters. Allerdings ist es lange nicht so cool, auf Schnee zu laufen, auch nicht auf dem von Schneemobilen fest zusammengepressten Maine-Schnee, wie durch Straßen in meiner Heimatstadt Charleston zu joggen, wo es warm ist und sogar im Winter nach Blumen duftet.

Bedford ist nichts im Vergleich zu Charleston. Meine Mum hat mich hierhergeschickt, weil ich mit dem Tod meines Stiefvaters nicht klargekommen bin. Es ist mir schwergefallen, mich hier einzugewöhnen. Ungefähr sechstausend Menschen leben hier das Jahr über, und das Meer an der Küste der Halbinsel ist kalt und stürmisch. Es gibt hier nur Bäume und Erde und Kälte, zumindest im Winter. Den Frühling kenne ich noch nicht. Jetzt gerade sehen die kahlen Äste der Bäume aus wie die Arme von Ertrinkenden, die nach Rettung flehen. Ich starre unverwandt auf die Rinde und sehe die Umrisse von Geistern. Die dunklen Knubbel, wo früher einmal Äste waren, erinnern mich an schreiende Münder.

Dennoch renne ich an den Bäumen vorbei, die den Weg säumen, biege hinter dem Bauhof den Hügel hinauf ab und folge dem Weg. Ich denke darüber nach, dass Devyn lieber nicht in Cassidy verliebt sein sollte, weil er und Issie einfach für einander bestimmt sind. Und ich denke darüber nach, dass ungefähr jeder in diesem Universum das zu wissen scheint, außer Devyn. Und in diesem Augenblick höre ich es. Das Geräusch ist gedämpft, aber es kommt definitiv von einem Menschen.

Mmrph …

Ein krabbeliges Spinnengefühl breitet sich über meine Haut aus.

»Mist.«

Ich bleibe stehen. Ich lausche. Ich ziehe mein Handy heraus und tippe 911, aber ich drücke nicht auf Verbinden. Denn im Ernst, was sollte ich sagen?

Hallo. Hier ist Zara. Ich bin bei den Gleisen direkt hinter dem Bauhof, und ich meine, etwas zu hören. Außerdem habe ich dieses krabbelige Gefühl auf der Haut. Es ist wie … äh … ich glaube, das bedeutet, dass der Elfenkönig in der Nähe ist.

Aber das kann nicht sein. Denn der Elfenkönig ist in einem Haus auf der anderen Seite der Stadt eingesperrt, und das bedeutet …

»Ich halluziniere«, verkünde ich.

Mmrph …

Das Geräusch kommt von links. Mein Kopf fliegt in die Richtung. Ich suche den Waldboden nach Spuren ab. Da sind keine Spuren. Zumindest keine Fußspuren, aber etwas erregt meine Aufmerksamkeit. Ich hocke mich hin und berühre den Schnee. Dort liegt Staub, allerdings nur ein winziges bisschen, und er glitzert.

Okay. Ich halluziniere nicht.

Elfenkönige hinterlassen Glitzerstaub. Normale Elfen? Eigentlich nicht.

Der Wind pfeift durch die kahlen Äste. Einer ächzt, als ob der Druck zu groß wäre und er am liebsten einfach abbrechen und zu Boden krachen würde. Ich kenne dieses Gefühl.

Mmrph …

Das Geräusch klingt dringend, und ich weiß, was es ist. Es ist eine Stimme. Es ist eine gedämpfte Stimme, und das bedeutet höchstwahrscheinlich, dass da jemand Schwierigkeiten hat. Ich drücke die Kurzwahl für Nick. Er ist bei der Arbeit, deshalb nimmt er nicht ab. Handys sind im Krankenhaus verboten. Klar! Wie blöd von mir. Sein Anrufbeantworter geht ran.

»Hallo, Nick. Ich bin’s«, flüstere ich und drehe mich langsam, um nach Verfolgern Ausschau zu halten, »Ich bin bei den Gleisen in der Nähe vom Bauhof. Beim Joggen. Ich glaube, ich höre was. Okay. Ja. Ich werde nachsehen. Wenn ich nicht wieder anrufe, bin ich tot oder so. Ja, gut. Also, tschüss dann.«

Mmrph.

Ich schleiche über den knirschenden weißen Untergrund und spähe vorsichtig hinauf in die Baumkronen, um sicherzustellen, dass dort oben nichts darauf lauert, herabzuspringen und mich anzugreifen. Das ist paranoid, ich weiß, aber ein Mangel an Paranoia kann sehr gesundheitsschädlich sein. Ich denke über Phobien nach. Das ist mein Ding! Ich sage sie zur Beruhigung vor mich hin.

Albuminurophobie – die Angst vor einer Nierenerkrankung.

Philemaphobie oder Philematophobie – die Angst vor dem Küssen.

Genuphobie – die Angst vor Knien.

Es hilft nicht. Ich bin noch keine zehn Meter im Wald, da entdecke ich die Geräuschquelle. Ein junger Mann. Er ist an eine dicke Kiefer gefesselt. Er ist blond. Sein Mund ist mit Klebeband verklebt, und um seinen Körper ist Stacheldraht gewickelt. Das Einzige, was ihn aufrecht hält, ist der Draht und, wie ich vermute, das, was von seinem Willen noch übrig ist. Die Elfen haben ihn fast getötet.

Wenn nicht er der Elf ist. Vielleicht ist er derjenige, mit dem Nick seinen Zusammenstoß hatte. Aber Nick hätte ihn doch nicht einfach gefesselt und hier zurückgelassen, oder?

Die Antwort lautet: Vielleicht doch.

Mein Magen krampft sich zusammen. Die Augen des Typen schauen mich flehentlich an. Er sieht aus, als würde er gleich sterben. Elf hin oder her. Ich renne zu ihm und streife meine Handschuhe ab. Sie fallen neben seinen Füßen auf den Boden, wo sich neben seinen Lederschuhen eine dunkle Pfütze gebildet hat. Es fängt an zu schneien, dicke, schwere, wassergefüllte Flocken fallen auf uns herab, die so groß sind wie mein Daumen. Ich zerre an dem Stacheldraht, aber er ist so kalt, dass er auf meiner Haut brennt. Ich weiche zurück. Meine Finger ballen sich zu Fäusten, um sich zu schützen.

»Mmrph … Mrr …« Seine Stimme klingt verzweifelt und passt zu dem Ausdruck in seinen grünen Augen. Irgendwie weiß ich, was er von mir will.

Ich strecke die Hand aus und greife nach oben: »Das könnte wehtun.«

Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, das Klebeband abzureißen, aber ich mache es. Ich schiebe einen Fingernagel unter eine Ecke und reiße daran. Mit lautem Ratsch geht es in einem klebrigen Stück ab.

»Zieh deine Handschuhe an und binde mich los.« Seine Stimme ist leise, und er spricht mit einem leichten Akzent, den ich nicht erkenne. Fast irisch, dann aber auch wieder nicht. »Bitte. Sie kommt …«

»Waren es Elfen? Haben sie dir das angetan? Ich habe den Staub gesehen. Oder bist du der Elf? Ich muss es wissen.« Ich spüre, wie sich mein Gewissen regt. Ich weiß, dass sie böse sind, aber wenn jemand so schwer verwundet ist … Wenn er überhaupt einer ist … okay, wahrscheinlich ist er einer, aber das macht nichts. »Ich muss wissen, ob du noch in Gefahr bist.«

Jedes Wort, das er sagt, scheint ihn unglaubliche Mühe zu kosten. Seine Lippen bewegen sich nur ganz langsam. »Was? Sie ist … Ich will noch nicht sterben.«

»Du wirst nicht sterben.« Ich hebe meine Handschuhe auf und ziehe sie wieder an. Er ist ein Elf, ich weiß es, aber ich kann ihn nicht einfach sterben lassen. Etwas in meinem Herzen fühlt sich von ihm angezogen. Wie schrecklich, hier an einen Baum gebunden zu sein und darauf zu warten, dass man stirbt. »Wenn du versprichst, dass du mir nichts tust, dann verspreche ich, dass ich dich nicht sterben lasse.«

»Ich bemühe mich, es nicht zu tun, aber wenn sie kommt, dann …«

Ich reiße an dem Draht, als seine Stimme abbricht.

»Pass auf«, kann er gerade noch rufen.

Ich wirble herum. Ein Handschuh fällt zu Boden. Den anderen habe ich nicht einmal halb angezogen. Eine Frau steht vor mir. Sie ist sehr klein, aber wunderschön, mit langen, fließenden schwarzen Haaren und einem dunklen Teint. Ich glaube, ich stehe mit offenem Mund da.

»Bitte lass nicht zu, dass sie mich mitnimmt«, flüstert er, während ich zurückweiche.

»Das werde ich nicht.« Aber ich weiß nicht genau, wie ich dieses Versprechen halten soll. Die Frau hat etwas Bedrohliches an sich. Vielleicht liegt das an dem Brustpanzerding, das sie über ihrem dunkelgrünen Samtkleid trägt, vielleicht aber auch an dem furchterregend intensiven Ausdruck ihrer Augen.

»Du weißt, dass ich dich mit mir nehmen muss, Krieger.« Ihre Stimme klingt fest, und ihre Augen funkeln. Sie tritt einen Schritt vor. Ihre Hände sind schlank und grazil, aber sie sehen absolut todbringend aus.

Ich hebe meine eigenen irgendwie kümmerlichen Arme. »Einen Augenblick. Time-out! Okay?«

Sie feixt. »Du willst mich aufhalten, Kleine?«

»Entschuldigung? Haben Sie mich gerade Kleine genannt? Und wie groß sind Sie? Einen Meter zwanzig?«, frage ich. Mein Temperament geht mit mir durch, und meine Stimme klingt ein bisschen schrill.

Der Typ hinter mir keucht. »Hör auf.«

Die Frau lächelt nur und macht noch einen Schritt nach vorn. »Es ist meine heilige Pflicht, die gefallenen Kämpfer mitzunehmen.«

»Wohin mitnehmen?« Ich schnappe mir den Handschuh vom Boden und trete ein Stück zurück, damit ich wieder an dem Draht arbeiten kann. Ich tue so, als wäre ich ganz locker und lässig, als würde mein Herz nicht achthundertmal in der Minute schlagen oder so, als würden aus dem Mund dieser Frau nicht kleine, spitze Eckzähne ragen.

»Nach Walhalla.«

Ich krame in meinem Gedächtnis. Devyn hat mir von Mythen erzählt. Und ich glaube, dabei hat er auch dieses Wort erwähnt. Aber was ich im Kopf habe, ergibt keinen rechten Sinn, deshalb frage ich: »Walhalla? Wie in der nordischen Mythologie, richtig? Der Gott Odin? So heißt er doch?«

Sie stürzt auf mich zu. Klauen entstehen, wo Finger sein sollten. Eine berührt meine Wange und ritzt mir die Haut auf. Ihre kalten, harten Augen starren mich an. Schneeflocken landen auf ihren Wimpern.

»Du wagst es, seinen Namen auszusprechen, Mensch?«, sagt sie voller Selbstvertrauen und Bosheit. »Was bist du kümmerlich und hilflos gegen einen wie ihn.«

Die Wunde, die sie mir mit ihrer Klaue zugefügt hat, scheint durch meinen ganzen Körper zu gehen. Es fühlt sich an, als hätte sich etwas ganz Wesentliches in mir verschoben. Schwindel kündigt sich an, aber ich kämpfe ihn nieder, wende den Blick von ihr ab und starre stattdessen den gefangenen Typen an. Dann mache ich mit dem Draht weiter. Ein Knoten. Aber ich bin gut mit Knoten. Ich weiche mit meiner Backe nicht aus. Ich werde keine Angst zeigen. »Wessen Name? Odins?«

Endlich löst sich der Knoten. Ich reiße an dem Draht, und der Elfentyp fällt nach vorn. Ich mache einen Satz und fange ihn auf. Mühsam hält er sich aufrecht, indem er sich an meine Seite lehnt. Ich umfasse seinen Oberkörper mit meinen Armen. Der Schnee unter unseren Füßen knirscht, und die Bäume um uns herum schwanken im Wind.

Die Frau faucht und schnüffelt dann witternd umher. Die Welt ist kalt und grau und ohne Farbe. Sie schaut mich anklagend an. »Du bist kein Mensch.«

Ich bemühe mich, den Typen aufrecht zu halten. »Natürlich bin ich ein Mensch.«

Ihre Augen verengen sich ein bisschen. »Nein … nicht ganz.« Ihre Gesichtszüge verziehen sich zu einer Fratze des Ekels. »Du bist ein Mischling.«

Der Typ erstarrt kurz und fängt an zu zittern. Unsere Füße tappen im Schnee hin und her, während ich versuche, ihn in der Senkrechten zu halten. Ich lehne ihn ein bisschen an die harte, unebene Borke des Baumes.

»Wie auch immer.« Ich hole tief Luft, versuche die Klauen und die Eckzähne zu ignorieren und denke an das Messer, das in meinem Socken steckt. Wenn ich es herausziehen will, muss ich den Kerl loslassen. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, um auf eine Idee zu kommen, wie ich das beiläufig tun könnte. Währenddessen rede ich weiter. »Mir geht es darum, dass du ihn nicht mitnehmen kannst.«

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Und warum nicht?«

Ein Kiefernzapfen kullert durch den Schnee. Seine raue braune Oberfläche passt gar nicht zu all dem langweiligen Weiß. Ich versuche, mir eine Antwort einfallen zu lassen.

Da fängt der Typ an zu reden: »Weil ich nicht gefallen bin. Ich lebe noch.«

»Aber nicht mehr lange.« Ein böses Lächeln kriecht über ihr Gesicht. Ihre Zunge schnellt hervor, um eine Schneeflocke aufzufangen. Der Wind pfeift durch die Baumkronen. Wir sind so allein hier draußen.

»Natürlich noch lange.« Ich funkle sie böse an. »Ich werde ihn medizinisch versorgen lassen, und dann geht es ihm bald wieder gut.«

»Medizinische Versorgung?« Sie schnaubt, »Du weißt doch, was er ist, Mischling? Schau ihn an.«

»Nenn mich nicht Mischling.«

»Du hast keine Kraft.« Mit ihrem Gesichtsausdruck könnte sie es mit einem arroganten Supermodel aufnehmen, das gerade einen Fünf-Millionen-Dollar-Vertrag abgeschlossen hat. »Du kannst ihn ja kaum halten.«

Sie hat recht. Die Welt wartet schweigend. Ein unerträgliches Weiß hüllt uns ein, während der Schnee von einem wolkenverhangenen Himmel fällt. Ich schniefe. Die Nase läuft mir. Der Elfentyp stöhnt leise. Es klingt so traurig, so schmerzerfüllt, so verzweifelt. Er ist so verletzlich. Elf hin oder her, er braucht mich.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. »Ich werde ihn nicht aufgeben.«

Sie hebt eine Augenbraue, als ob sie darüber nachdenken würde, was zum Teufel hier vorgeht. Ich würde auch gern darüber nachdenken, was zum Teufel hier vorgeht, aber ich bin vollauf damit beschäftigt, aufrecht stehen zu bleiben. Die Kälte frisst sich in meine Füße, in meine Knochen.

»Vielleicht kann er überleben«, sagt sie, »weil du eingegriffen hast.«

Ich warte.

»Was wir ihm bieten, ist eine Belohnung, nicht eine Strafe«, meint sie beschwichtigend. »Das gelobe ich. Nach seinem Tod wird er an Odins Seite in der größten aller Schlachten kämpfen.«

»Ich bin nicht bereit zu sterben. Ich habe hier noch etwas zu tun. Ich. Darf. Nicht. Sterben«, presst er hart und grimmig zwischen den Zähnen hervor.

Noch ein Kiefernzapfen löst sich von einem Baum und fällt herab. Er trifft mich an der Schulter und purzelt dann weiter zu Boden. Kleine Splitter brechen ab und bleiben auf dem Schnee liegen. Der Wind bläst uns alle heftig an. Mir fällt es schwer, uns beide gerade zu halten, aber die Frau schwankt nicht.

»Ich verstehe.« Federn sprießen aus ihrem Rücken, und vor lauter Bosheit werden ihre Augen ganz rot. Der Wind fährt in ihre Haare und wirbelt sie auf, aber das sieht nicht schön aus, sondern furchterregend.

Ich weiche ein wenig zurück. Der Arm des Typen legt sich um meine Taille, und obwohl er sich kaum aufrecht halten kann, ist es ziemlich offensichtlich, dass er mich vor ihr beschützen möchte. Der Wind zerzaust seine blonden Haare.

»Ich werde dem kleinen Mischling nichts tun«, sagt sie. In diesem Augenblick erkenne ich, dass die Federn auf ihrem Rücken Schwingen sind, elegant und glänzend wie die eines Schwans, aber rabenschwarz.

Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Ich stehe einfach da und zittere vor Kälte oder vor Angst oder vor beidem.

»Dein Mund steht offen«, sagt sie und lächelt fast dabei. »Ich werde dir diesen hier lassen, denn er wird wahrscheinlich überleben, weil du da bist. Du wirst entscheiden müssen, ob das gut oder schlecht ist, Mischling.«

Ich will protestieren.

Aber sie streckt die Hand aus. »Außerdem wird es bald andere Krieger geben. Der Tod ist nah. Er liegt in der Luft. Spürst du ihn?«

So wie sie es sagt, habe ich den Eindruck, dass ich ihn tatsächlich spüre. Eine leise Bedrohung, ein lauernder Sturm. Der Schnee wirbelt um uns herum. Sie nickt mir zu und hebt ab. Ihre Schwanenschwingen breiten sich aus, und sie steigt in die Lüfte hinauf, um dort eins zu werden mit dem Weiß des Himmels.

Ich stolpere zur Seite und falle. Der Typ landet auf mir. Er fängt an zu lachen. Es ist ein leises, irres, erschöpftes Lachen. »Tut mir leid. Tut mir wirklich leid. Mann … Mann … das war knapp. Ich dachte schon …« Er unterbricht sich und fängt wieder an zu lachen. Die Bewegung lässt ihn zusammenzucken und dann aufstöhnen.

Ich krabble unter ihm hervor, voller Angst, dass er völlig übergeschnappt ist. »Wirst du wieder ganz gesund werden?«

Er schüttelt den Kopf. Dann nickt er. Eine zerkratzte, kantige Hand hebt sich zitternd und reibt die Stelle, an der seine Haare die Stirn berühren. Unsere Blicke treffen sich. Sein Mund bewegt sich: »Danke.«

Dann verliert er das Bewusstsein.

Großartig.