Elfen-Tipp
Elfen sind nicht gut. Sie sind böse. Nicht »schlechten-Tag-erwischt«-böse, sondern »Horrorfilm-der-dich-noch-abends-im-Bett-panisch-macht« -böse. Wobei – nein, viel schlimmer.
Der heftige Wind bläst schrecklich. Sekunden dehnen sich zu zwei oder drei Minuten. Ich muss etwas Intelligentes tun, etwas, das nicht nur darin besteht, auf einen Typen hinunterzustarren, der bewusstlos im Schnee liegt. Er ist noch jung, wahrscheinlich nur ein paar Jahre älter als ich – wenn Elfen überhaupt altern wie wir, keine Ahnung. Er hat keine Winterjacke an, nur einen dunklen Pullover mit Norwegermuster und Jeans. Wahrscheinlich ist ihm schrecklich kalt.
Ich schaue in den weißen Himmel hinauf und suche die Frau. Schneeflocken fallen mir in die Augen und schmelzen augenblicklich. Sie ist verschwunden. Während ich das Wasser wegblinzle, untersuche ich den Typen auf größere, womöglich blutende Verletzungen. Und ich finde ein Riesending: eine tiefe Bisswunde am Bauch. Das Fleisch ist in Fetzen herausgerissen. Blut von kräftiger blauroter Farbe sickert heraus. Vielleicht liegt das an den dunkelblauen Fasern seines Pullovers, die sich mit dem Blut mischen, oder Elfenblut hat eben so eine Farbe. Was weiß ich.
Noch eine Sekunde klickt vorbei, da fangen seine Lider an zu flattern, und er öffnet die Augen.
Ich habe nur meine Jacke, um die Wunde zu verbinden, also streife ich sie ab und wickle sie ihm um den Bauch. Die Ärmel verknote ich, damit ein bisschen Druck auf die Wunde kommt. Das Blut riecht metallisch, nach Kupfer.
Ich klappe mein Handy auf und tippe die Mobilnummer meiner Großmutter ein. Sie kennt sich gut aus mit großen Wunden, denn sie ist nicht nur Rettungssanitäterin, sondern auch ein Wertiger, so wie Nick ein Werwolf ist. Klingt verrückt, ich weiß. Es klingelt einmal. Seine Hand legt sich über meine, und die Verbindung bricht ab.
»Was machst du da?«, sage ich und Zorn durchströmt mich. »Ich hole nur Hilfe.«
»Nein. Keine Hilfe.« Seine Lippen sind ganz trocken. »Muss mich verstecken. Bis ich gesund bin.«
»Du sprichst nicht in ganzen Sätzen«, erkläre ich, »und das bedeutet, dass du nicht in der Lage bist, diese Entscheidung zu treffen.«
Er schüttelt den Kopf. »Bitte. Niemand darf wissen, dass ich hier bin. Töten mich, solange ich schwach bin.«
Das Telefon klingelt. Gram ruft zurück. Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare, nicht bedenkend, dass sie ganz blutig ist. »Das halte ich nicht für eine gute Idee.«
»Bitte.«
»Ich kann dich nicht sterben lassen.«
Er stößt ein bitteres Lachen aus. »Wenn ich sterben sollte, hätte Thruth mich mitgenommen.«
»Thruth?«
»Die Walküre.«
Mein Handy klingelt nicht mehr.
»Ach so.« Ich muss schlucken. »Keine Ahnung, was eine Walküre ist.«
Er hebt eine Augenbraue und zieht schnuppernd die Luft ein. »Du bist ein Elf, oder?«
»Nein …«, fange ich an und drücke meine Hand auf seine Wunde. Er stöhnt, schafft es aber, mir einen durchdringenden Blick zuzuwerfen. »Okay. Zur Hälfte. Tut das weh?«
»Ein bisschen.« Allerdings krümmt er sich, als würde es sehr wehtun. »Du bist ein halber Elf. Es stimmt also …«
Der Satz endet in einem Stöhnen, und ich bedaure ihn auf einmal sehr. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich möchte nicht gemein zu dir sein. So bin ich eigentlich nicht. Aber wir müssen dich hier wegbringen. Du bist verletzt. Ich muss dich zusammenflicken lassen. Ich muss dich in ein Krankenhaus bringen oder so.«
Er ächzt. »Nein. Nicht ins Krankenhaus. In mein Zimmer.«
»Du solltest aber in ein Krankenhaus«, beharre ich.
»Sie können mich nicht behandeln.« Er zieht sich hoch, sodass er steht. Seine dunklen Jeans sind schneebedeckt. »Ich brauche dich, damit ich das Gleichgewicht halten kann. Ist das in Ordnung?«
»Ja, gut«, sage ich, als er den Arm um meine Schulter legt. Ich schlinge meinen Arm um seine Taille. Er ist viel leichter als Nick, und das ist ein großer Vorteil. So schleppen wir uns durch den Wald … Er hustet bellend wie ein Seehund und stolpert ein bisschen. Mir bricht es fast das Herz. »Keine Sorge. Bis zu meinem Auto ist es nicht allzu weit.«
Er nickt und murmelt etwas. Auf seiner Stirn stehen Schweißtropfen. Der Wind frischt ein bisschen auf. Der Schnee rieselt weiter auf uns herab, bedeckt uns, bleibt in unseren Haaren hängen und macht unsere Spuren unsichtbar. Es ist ein langes Stück Weg, aber ich ziehe ihn bis zum Parkplatz mit mir mit. Zum Glück stehen nur noch wenige Autos dort. Inzwischen scheint er wieder ein bisschen besser bei Kräften zu sein.
»Ich muss dich in ein Krankenhaus bringen«, beharre ich.
»Das bringt mich um.«
Ich taumle zurück. »Ich weiß, dass du kein Mensch bist. Bist du eigentlich ein normaler Elf oder ein König?«
Er schüttelt den Kopf. »Bitte keine Fragen mehr.«
»Bist du ein König?«, frage ich noch einmal.
»Ich hab doch gesagt …«
»Ich weiß, was du gesagt hast, aber das heißt nicht, dass ich tun muss, was du sagst.« Ich schlucke hörbar. »Wir haben einen Ort, wohin wir Elfen bringen.«
Sein Kopf schnellt herum, und er schaut mich an. »An dem Gerücht ist also was dran?«
»Was für ein Gerücht?«
»Dass uns jemand einsperrt.«
Ich antworte nicht. Kälte strömt in meine Nase und kristallisiert. Ich drücke auf den Schlüssel, und die Zentralverriegelung meines Subaru öffnet sich mit einem Klicken.
»Das ist barbarisch«, knurrt er.
Ich kann ihm nicht widersprechen. Wir humpeln näher zu meinem Auto, Yoko, das neben einem großen schwarzen Pick-up steht, dem Standardtransportmittel der männlichen Highschool-Bevölkerung in Bedford. Ich versuche zu erklären: »Sie haben Menschen getötet. Sie haben Jungen gefoltert.«
»Weil ihr König schwach war.« Er schüttelt den Kopf. »Wenn ich nicht verletzt wäre, würde ich dich zwingen, mich zu ihnen zu bringen.«
»Aber du bist verletzt«, konstatiere ich das Offensichtliche.
Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, und seine Pupillen richten sich einen Augenblick lang auf mich. Dann mustert er mein Gesicht. »Deine Haut ist ganz blau.«
»Es ist kalt«, stoße ich hastig hervor.
Er grinst, und ich widerstehe dem Drang, laut zu schreien. Keine Ahnung, was ich jetzt mit ihm machen soll. Er ist verletzt, aber er ist ein Elf. Ein verletzter Elf, möglicherweise sogar ein König. Das ist nicht so gut. Das ist sogar schlechter als schlecht. »Ich bringe dich dorthin, in das Haus«, bricht es aus mir heraus.
»Das darfst du nicht tun.« Seine Stimme überschlägt sich fast vor lauter Panik, und sein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz. Er versucht, sich ins Gleichgewicht zu bringen. Seine Hand umklammert mein Handgelenk: »In diesem Zustand darf ich auf keinen Fall dorthin.«
Ich entziehe mich seinem Griff und öffne die Tür auf der Beifahrerseite. »Ich kann nicht zulassen, dass du Menschen tötest.«
Er packt meinen Arm, diesmal ein bisschen weiter oben. »Ich töte keine Menschen. Nur Feinde. Ich habe mich unter Kontrolle. Ehrenwort. Nicht alle Elfen, nicht alle von uns, sind so wie die Elfen hier. Du kannst nicht von deiner Erfahrung mit eine paar Elfen auf uns alle schließen. Das ist unfair.«
Das sitzt. Wieder überfällt mich dieses komische Gefühl. Die Welt verschwimmt. Wahrscheinlich bekomme ich die Grippe. Ich zwinge mich dazu, mich zu konzentrieren. »Wer hat dich gebissen?«
»Was?« Seine Augen mustern mich mit suchendem Blick.
»Wer. Hat. Dich. Gebissen?«
Um seinen Mund herum erscheint ein harter Zug. »Ein Wolf.«
Ich hatte es gewusst, aber deshalb fühle ich mich noch lange nicht weniger schlecht. Der Elfentyp beobachtet mich genau und sucht in meinem Gesicht nach einer Reaktion. Ich bemühe mich sehr, mir durch meine Mimik nichts anmerken zu lassen. »Also ein Wolf?«
»Du kennst ihn.« Das ist eine Aussage, keine Frage. Sein Griff um meinen Arm wird fester. Trotz seiner Verletzung ist er ganz schön stark.
»Ja, klar kenne ich einen Wolf. Wir hängen miteinander rum, bestellen uns Pizza und ich bürste sein Fell. Natürlich kenne ich keinen Wolf«, gifte ich. »Steig ein.«
Beim Einsteigen zuckt er zusammen. Ich bin mir nicht sicher, ob vor Schmerz oder weil das Auto aus Stahl und Eisen besteht. Elfen vertragen die Berührung mit Stahl und Eisen nicht gut. Einen Augenblick lang überlege ich, ob er sich anschnallen soll. Der Gurt würde direkt auf seiner Wunde liegen. Ich verwerfe den Gedanken und mache die Tür zu. »Pass auf deine Füße auf.«
Nachdem ich seine Tür geschlossen habe, gehe ich um Yoko herum auf die andere Seite. Ich schaue auf die Uhr. Ich könnte es schaffen, ihn zum Elfenhaus zu bringen und zurück zu sein, bevor Issie mit Französisch fertig ist, aber irgendetwas in mir hält mich zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob er es verdient, dort zu sein. Keine Ahnung, ob er jemals etwas Böses getan hat. Worin besteht denn eigentlich sein Verbrechen? Ich weiß nur, dass er als Elf geboren wurde. Verdamme ich eine ganze Rasse nur wegen der furchtbaren Dinge, die hier passiert sind? Sind sie tatsächlich nicht alle durch und durch böse?
Ich öffne die Fahrertür.
Nick hätte keine Zweifel. Offensichtlich nicht. Die Wunden am Bauch des Typen wären nicht da, wenn Nick irgendwelche Zweifel gehabt hätte. Nick denkt ziemlich schwarzweiß, wenn es um gut und böse geht. Und ich? Ich hab’s mehr mit den Grautönen.
Während ich mich hinters Steuer setze und anschnalle, werfe ich einen Blick auf den Elf neben mir. Er hat sich in den Sitz zurückgelehnt. Sein Mund steht ein bisschen offen. Seine Augen sind geschlossen. Wahrscheinlich hat er starke Schmerzen.
»Es tut mir so leid, dass du verletzt bist«, fange ich an. Vermutlich habe ich zu wenig getrunken, denn mir ist ein bisschen schwindelig. Ich stecke den Schlüssel ins Zündschloss, um Yoko zu starten, dann drehe ich mich und schaue über die rechte Schulter, damit ich rückwärts aus der Parklücke hinausfahren kann. »Ich meine, wenn du wirklich …«
Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich eine Bewegung wahr, und eine Hand schließt sich um meine Schulter. Dann wird die Welt auf einmal schwarz.