Elfen-Tipp

Elfen haben Angst vor Metall. Metallophobie.

 

Meine Arme sind voller Blut, auch der Verband um meine Hand ist voller Blut, und meine Jeans sind voller Blut. Wahrscheinlich ist auch mein Gesicht voller Blut. Aber das ist mir egal. Sollen die Blutspuren doch antrocknen, festbacken und verrotten. Ich klettere wieder auf das Schneemobil und fahre zur Straße, wo Nicks Mini steht. Sein Schlüssel. Er ist immer in seiner Hosentasche.

»Oh Gott!« Ich schluchze das Wort in meine Hände, und es ist kein Fluch, sondern eine Bitte, eine echte, flehentliche Bitte, und dann flippe ich aus. Ich flippe einfach aus. Ich stelle den Motor aus und sitze schluchzend auf dem blöden Schneemobil. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass Nick tot ist. Wie mein Dad.

Ich bin allein.

Die Welt ist still. Kein Auto, kein Tier, kein Windgeräusch ist zu hören. Sogar die Bäume sind still und einsam. Ich rede leise mit mir selbst, beziehungsweise mit diesem Wesen, das ich bin, aber ohne Nick doch nicht bin.

Ohne Nick.

Ohne.

Nick.

Ich rede mit mir, mit Gott, mit Nick, und denke nicht, dass mich jemand hört.

»Ich kann das nicht«, wimmere ich und wische mir mit der gesunden Hand die Tränen aus dem Gesicht. »Ich kann es nicht … ich kann es nicht tun.«

»Natürlich kannst du es.«

Mein Kopf hebt sich, und ich bewege meinen Körper gerade so viel, dass ich ihn sehe. In dem aufwirbelnden Schnee steht er da. Seine Lederjacke ist nicht zerfetzt oder eingerissen. Seine Jeans sind nicht schmutzig. Keine Wunden sind zu sehen. Er war also nicht in dem Haus. Schneeflocken landen auf seinen Haaren und bleiben hängen, sodass sich das Blond in Weiß verwandelt. Er legt den Kopf schief, während wir einander ansehen, und streckt dann die Hand aus: »Zara.«

»Ich komme nicht zu dir.«

Er lässt seine Hand ausgestreckt. »Ich habe das nicht getan, Zara. Du hast es getan. Diese eingedämmte und eingesperrte Kraft. Sie musste explodieren.«

Er hat recht. Natürlich hat er recht, aber ich kann mich nicht überwinden, etwas zu ihm zu sagen. Wozu auch? Ich versuche nicht einmal, mein Schweigen bedeutungsvoll zu machen. Ich habe genug davon, einen Sinn zu suchen, genug davon, Angst davor zu haben, was mir zustoßen wird, denn das Schlimmste ist mir bereits zugestoßen. Die Menschen um mich herum sterben. Zuerst mein Stiefvater, jetzt …

Kein Hauch rührt sich. In weiter Ferne schreit etwas. Ich atme ein. Kalte Luft bahnt sich ihren Weg in meine Lungen. Ich atme noch einmal ein. Meine Hand bewegt sich nach oben und wischt über mein Gesicht. Die Tränen fühlen sich auf meinen Wangen eisig an. Ich atme aus.

Astley beobachtet all das. Seine Augen glitzern, weil sie den Schnee reflektieren. Seine Nasenlöcher sind geweitet.

»Ich rieche einen anderen König an dir, aber nicht deinen Vater.« Seine Worte klingen, als schwinge ein Gefühl mit. Sorge? Ja, ich glaube, das ist es.

»Er war da.« Ich schwanke. »Er hat meinen Vater verletzt. Er hat Nick g-g-getötet. Und dann hat diese blöde Walküre ihn mitgenommen.«

Ich verliere langsam das Gleichgewicht. Die Welt um mich herum dreht sich. Astley bewegt sich so schnell, dass ich es kaum wahrnehme, und fängt mich in seinen Armen auf. Das Leder drückt sich weich gegen mein Gesicht. Es hat keine Struktur. Es ist einfach glatt und riecht nach Kuh.

»Es geht dir nicht gut«, sagt er.

»Wie könnte es mir gut gehen?« Ich habe Schluckauf und wehre mich gegen ihn. »Ich kann allein stehen.«

Er ignoriert meine Worte und nimmt mich einfach auf den Arm. »Du solltest aufhören, dir etwas vorzulügen.«

Ich wehre mich noch eine Sekunde, dann gebe ich auf. Die Schneeflocken taumeln langsam zum Boden. Sie warten auf etwas, auf Erklärungen, auf Bedeutung. Eine nach der anderen landen sie, türmen sich auf und bedecken alles. Sie geben mir keine Antworten. Niemand gibt mir Antworten. Ich muss sie immer selbst suchen. »Was meinst du damit, dass ich mir was vorlüge?«

Astley atmet witternd die Luft ein. Er wirft den Kopf zurück und lauscht in den Wind und in den Wald hinein, genau wie Nick das früher getan hat. Seine Augen bewegen sich hin und her.

»Was ist los?«, frage ich. »Riechst du was?«

Er antwortet nicht, stattdessen legt sich sein Arm fester um mich.

»Sag es mir. Was ist es?«

»Tod«, antwortet er leise. Er zieht mich an seine Brust und sucht mit der Hand, die meine Beine festhält, einen besseren Griff. Seine Stimme klingt traurig. »Ach, Zara. Ich rieche seinen Tod. Das war ein Schock für dich, eine Tragödie. Komm. Lass uns irgendwohin gehen, wo es sicher ist.«

Ich antworte nicht. Ich kann nicht antworten. Dass jemand weiß, was mit Nick geschehen ist, macht alles noch viel wirklicher, und ich will nicht, dass es wirklich wird. Es schnürt mir die Kehle zu. Er lässt meine Beine runter, legt beide Hände um meine Taille und drückt mich an sich. Dann erheben wir uns in die Lüfte. Seine Worte dringen sanft in mein Ohr: »Hab keine Angst.«

Die Welt unter uns sieht ganz verschwommen aus. Die Bäume verschmelzen miteinander zu einer einzigen weißen Masse. Wir fliegen so schnell über die Wälder hinweg, dass der Wind mir gegen die Wangen peitscht und meine Augen von der Kälte tränen.

Endlich finde ich meine Stimme wieder. »Ich fliege nicht zum ersten Mal.«

»Mit deinem Vater?«

»Ja. Als er mich entführt hat. Er hat damals nach Pilzen gerochen. So wie du jetzt auch. Woran liegt das?«

»Das ist die Erde, die uns zurückruft. Dauert nicht lange«, sagt er. »Schließ ruhig die Augen.«

Ich lasse sie offen. Ich möchte etwas sehen. In der Ferne, auf der Route 3, meine ich die Blinklichter von Rettungsfahrzeugen zu erkennen. Gram ist dort. Das ist wahrscheinlich der Unfall. Ein großer Bus liegt umgekippt auf der Seite, aber bevor ich genauer hinschauen kann, sind wir schon vorbei.

Bilder von Nick und dem anderen Elf bahnen sich ihren Weg in meinen Kopf. Blut. Gebleckte Zähne. Aufreißende Haut. Die böse, leise Stimme des Elfs und sein Lächeln. Schaudernd frage ich Astley: »Bist du stärker als der andere?«

Die Muskeln an seinen Armen spannen sich an. »Ich hoffe es. Eines Tages werde ich stärker sein müssen. Ich kann es kaum fassen, dass er das Haus zuerst gefunden hat. Das verzeih ich mir nie. Ich war zu … abgelenkt.«

Ich schlucke. Ein Schluchzen droht in meiner Kehle aufzusteigen, aber ich dränge es zurück und sage: »Ich glaube, es ist auch meine Schuld.«

Eine Minute lang antwortet er nicht, dann sagt er: »Weißt du, das hab ich auch gedacht, als ich dich kennengelernt und von dem … von der ganzen Situation erfahren habe, aber jetzt … Du hattest eigentlich keine Wahl, oder? Wir haben nicht gut reagiert. Um deinen Vater hätten sich schon lange Seinesgleichen kümmern sollen.«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Trotz der beißenden Kälte lege ich den Kopf in den Nacken und suche den Himmel nach Nick ab, als wir langsam tiefer sinken. Wir sind beim Haus meiner Großmutter. In diesem Haus haben Nick und ich geschlafen, wir haben uns geküsst und wir haben zusammen Frühstück gemacht. Das ist gar nicht lange her, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

Astleys Hände bewegen sich. »Halt dich fest, wir landen. Und darin bin ich nicht gerade der Beste.«

Der Aufprall ist heftig, und Astley plumpst nach hinten auf den Po. Ich lande halb auf ihm. Er wird rot und lächelt dann.

»In der Tat.« Ich rolle mich von ihm herunter. »Das bist du wirklich nicht.«

»Wir alle haben unsere Schwächen«, erklärt er und kommt mit einem Satz auf die Füße. Ich betrachte das Haus. Es sieht so friedlich aus, so normal, als ob nichts geschehen wäre. Es sieht gut aus und schön und sicher, dabei ist überhaupt nichts gut und schön und sicher.

Langsam gehe ich die Stufen zur Veranda hinauf. Astley folgt mir zur Tür. Er legt den Arm um mich, ohne mich zu berühren, wahrscheinlich damit er mich auffangen kann, wenn ich falle. Ich fummle an dem Schloss herum.

»Komm, lass mich machen.« Er steckt meinen Schlüssel ins Schloss und dreht ihn. Ich trete ein. Er neigt den Kopf.

»Ich kann dich nicht reinlassen«, sage ich langsam.

Er schließt eine kurze Sekunde lang die Augen: »Du traust mir nicht.«

Ich antworte nicht. Ich bin zu müde, zu traurig, um zu antworten. Die Sonne späht hinter einer Wolke hervor, und der Schnee reflektiert glitzernd das Licht. Ich beschatte die Augen mit der Hand. Es ist zu hell. Nichts sollte hell sein. Dann gehe ich hinein.

Astleys Hand greift nach meinem Arm. »Ich kann dich nicht einfach allein lassen. Du bist ja kaum in der Lage, zu sprechen.«

»Dir wird nichts anderes übrig bleiben.«

Eine Sekunde lang rühren wir uns beide nicht. Eine Sekunde lang scheint die Welt stillzustehen. Seine Hand gleitet meinen Arm hinauf und hält mich an der Schulter fest. Mir fehlt die Energie, ihn abzuschütteln. »Lass niemanden rein. Das ist jetzt gefährlich.«

Das ist eine solche Untertreibung, dass ich fast lachen muss. Draußen sind die Reifenspuren des Mini bereits unter dem frisch gefallenen Schnee verschwunden. Er lässt meine Schulter los und zieht einen Zettel aus der Tasche. Nachdem er eine Nummer daraufgeschrieben hat, legt er ihn in meine Hand und schließt meine Finger um ihn herum.

»Mein Handy. Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagt er,

»Ich werde dich nicht brauchen«, sage ich zu ihm und betrachte den Zettel – eine Quittung von Holiday Inn. Dann gehe ich ins Haus. »Trotzdem danke.«

»Zara …« Seine Stimme lässt mich stehen bleiben. Ich drehe mich um. »Vielleicht doch.«

 

Ich mache die Tür hinter mir zu, aber ich schließe nicht ab, denn das hat ohnehin keinen Sinn. Nur ein einziger Elf kann hereinkommen, weil er schon einmal eingeladen worden ist, und das ist mein Vater. Das ist auch so eine verrückte Elfenregel, eine von vielen. Wahrscheinlich ziehen alle Elfen, nachdem sie jetzt endlich frei sind, auf der Suche nach Nahrung und Rache randalierend durch die Gegend. Die Begierde wird in ihren geschwächten Körpern pochen. Ich weiß, wie sich das anfühlt. In meinem Körper pocht es auch. Rache. Dieses Gefühl gehört eigentlich in einen Safe, weggeschlossen vom Rest der Welt, weg von Müttern, die ihre Babies knuddeln, weg von schaukelnden Kindern, weg von allem, was Mensch ist.

Ich lasse mich auf das Sofa fallen, drücke mein Gesicht an den roten Stoff und atme tief ein. Vielleicht kann ich irgendwo den Geruch von Nick einfangen, vielleicht ist etwas von vergangener Nacht übrig geblieben, aber ich rieche nichts. So gut ist meine Nase nicht. Auch in dem Kissen, das ich mir gegen das Gesicht presse: Nichts. Nick ist nicht da. Nicht auf dem Sofa, auf dem ich sitze, nicht in seinem Mini, der immer noch am Waldrand steht, nicht im Krankenhaus, wo er sonst arbeitet, nicht im Wald auf der Jagd. Einfach nirgendwo. Er ist nicht da, auch wenn ich meine Finger in seine dunklen Haare graben will, auch wenn ich seinen Duft einatmen will und ihn meinen Duft atmen lassen möchte, auch wenn ich möchte, dass er jetzt in diesem Augenblick bei mir ist, die ganze Zeit, für immer. Auch wenn er nicht da ist.

Ich setze mich auf und schreibe eine SMS an Issie: Du musst mich zurückrufen. Elfen sind entkommen.

Was mit Nick ist, kann ich ihr nicht schreiben. Nicht in einer SMS. Ich kann es einfach nicht. Ich schicke eine identische SMS an Betty. Mein Handy fällt mir aus der Hand auf das Sofa. Ich lasse es einfach liegen.

Ich warte.

Nichts geschieht.

Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist. Es gibt nichts, worauf ich mich freuen könnte. Elfen haben Nick getötet. Für uns wird es keine Blumenbeete und weiße Lattenzäune geben. Ich werde ihn nie wieder küssen. Nie wieder umarmen. Nie wieder werde ich seinen Duft riechen. Und das ist die Schuld der Elfen. Aber auch meine Schuld.

Irgendwie hebt sich mein Körper von dem Sofa, auf dem wir geschlafen haben. Irgendwie gehen meine Beine zur Küche und von dort zur Kellertür. Meine Finger legen sich um den Türknauf und drehen. Ich öffne die Tür und gehe die Treppe hinunter. Meine Füße erzeugen auf dem Holz einen hohlen Klang. Dort unten haben wir einen Waffenschrank, vollgestopft mit Dingen, die aus Eisen sind. Ich bin noch nie eine besonders gute Kämpferin gewesen. Nick sagt, mir fehlt der Wille, zu töten. Meine Hände ziehen die Tür des Metallschranks auf. Meine Finger packen ein Schwert. Ich stecke es in die Scheide und befestige sie an meinem Gürtel, der ein großes Friedenszeichen als Schnalle hat. Das Schwert liegt schwer an meinem Bein an.

Geräuschlos wie die Toten bewege ich mich durch das Haus. In meiner Entscheidung liegt Kraft. Meine Geschichte hat ihren männlichen Helden, ihren romantischen Hauptdarsteller verloren. Ich bin nur noch ein Gehäuse. Mein Tod wird kein großer Verlust sein, und ich werde so viele von diesen Bastarden mit mir nehmen, wie ich irgend kann, damit weniger übrig sind, die Gram und Issie und meiner Mom und Devyn etwas antun können. Das ist mein Plan. Ich werde ihn rächen und dabei sterben.

Ich verlasse das Haus und mache mich auf den Weg in den Wald.