EIN BRIEF AN TOMOMI ISHIKAWA
NOVEMBER 2008

Paris, 27. November 2008

Liebe Tomomi Ishikawa,

manchmal zieht unsere Geschichte mich so tief in ihren Bann, dass ich nicht mehr weiß, was wahr ist und was nicht. Ich habe gar keine richtigen Erinnerungen mehr an dich; nur Erinnerungen an Erinnerungen. Du scheinst zu einem Teil meiner Fantasie geworden zu sein und ich weiß nicht mehr, wie du aussiehst oder wie deine Stimme klingt. Haben wir wirklich immer um fünf Uhr morgens zusammen in einer kleinen Kopfsteinpflasterstraße in Ménilmontant gesessen und geraucht? So oft haben wir das bestimmt gar nicht gemacht. Vielleicht hatten wir alles in allem ja gar keine so tolle Freundschaft, aber eine Zeit lang kam es mir so vor.

Ich habe das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, für das Buch und dafür, dass ich dich gesucht habe, als du nicht gefunden werden wolltest, und dafür, dass ich dich umgebracht habe. Aber es ist ja nur eine Geschichte und du bist nicht tot und ich habe dich nicht gefunden (und werde es auch nie), außerdem bin ich zufrieden mit meinem Buch und schäme mich nicht dafür. Du solltest auch zufrieden sein. Es steckt voller Liebe und guter Laune.

Es hat über ein Jahr gedauert, bis ich den Mut gefunden habe, zu Papier und Stift zu greifen. Fast hätte ich die ganze Sache auf sich beruhen lassen. Doch die Geschichte ging mir immer wieder im Kopf herum, sie hat sich entwickelt und wurde komplexer, und dann bin ich eines Tages aufgewacht und wusste, dass ich sie schreiben wollte, mit oder ohne Hilfe deinerseits.

Nachdem ich mich einmal dazu aufgerafft hatte, ging das Ganze ziemlich schnell. Den ersten Entwurf habe ich innerhalb eines Monats geschrieben (letzten Juni). Ich bin nach Wales gefahren und habe in einer kleinen Holzhütte mitten in einem Gärtchen voller Blumen gewohnt, von wo aus man einen wunderbaren Blick über ein grünes Tal mit einem Fluss hat, und hin und wieder fuhr ein Zug mit nur einem einzigen Waggon vorbei. Seitdem habe ich jeden Tag ein bisschen daran gearbeitet. Und nun, in ein paar Minuten, wird das Buch fertig sein und ich bin deiner Gesellschaft abermals beraubt. Genau wie dein fiktionales Gegenstück würde ich den Punkt gern hinauszögern. Noch einen Augenblick länger verweilen.

Hey, ich habe übrigens heute Nacht von dir geträumt (um ehrlich zu sein, tue ich das sogar ziemlich oft; wenn ich mit der Geschichte nicht weiterkomme, gehe ich meistens schlafen, und dann kommen Cat und du und ihr veranstaltet die eigenartigsten Sachen, um mir voranzuhelfen). Bevor ich ins Bett gegangen bin, habe ich über diesen Brief nachgedacht und darüber, was ich eigentlich schreiben will. In meinem Traum warst du das Sandmännchen (in Frankreich streut es den Kindern Sand über die Augen, damit sie schön träumen, aber in der Version, die ich kenne, stiehlt es unartigen Kindern, die nicht schlafen wollen, die Augäpfel und schenkt sie seinen eigenen Kindern, die im Mond leben), doch du hast keine Augen gestohlen, sondern die Seelen von Menschen, die auf der Schwelle zum Tod standen. Du hast an den Seelen gezerrt und sie haben sich gedehnt wie unsichtbare Gummibänder, immer weiter und weiter, bis sie abrissen und der Mensch starb, und dann hast du die Seelen weggeworfen, weil du keine Verwendung dafür hattest. Das Problem war nur, dass ich das Ganze aus meiner eigenen Perspektive erlebt habe. Das warst überhaupt nicht du. Sondern ich. (Ich hätte es wissen müssen. All diese sinnlosen Morde sind meiner kranken Fantasie entsprungen, nicht deiner.)

Ich finde nicht unbedingt, dass du die Ehre verdient hast. Ich habe Tomomi Ishikawa zu einer besseren Freundin gemacht, als du es je warst. Und doch lesen sich Teile dieses Buch wohl unweigerlich wie eine Lobeshymne. Du hast mich gut unterhalten, wir haben zusammen gelacht, einander überrascht und schockiert, wir haben düstere Orte erkundet und unaussprechliche Dinge gesagt, du hast meine Fantasie gefangen genommen und beflügelt. Dies ist eine Hommage an unsere eigenartige Freundschaft und, ob es mir gefällt oder nicht, diese Geschichte ist dir gewidmet.

Leb wohl.
Ben. X X X