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TOMOMI ISHIKAWAS TEXTE

Ich betrachtete die Ordner Mein Gehirn, Meine Toten, Mein Paris, Mein Kram und Sachen, die ich mag. Wieder schaffte ich es, den verheißungsvolleren Titeln zu widerstehen, und klickte auf Mein Paris. Darin befanden sich ungefähr fünfzig Dateien. Ich öffnete die erste, die den Titel Alles hat seine Zeit trug.

Wenn es um Superlative geht, ist der Bahnhof Saint-Lazare fast ganz vorne mit dabei, aber eben nur fast. Er zählt zu den verkehrsreichsten Bahnhöfen Europas und zu den Stoßzeiten fährt alle dreißig Sekunden ein Zug ein oder ab. Mit hundert Millionen Reisenden pro Jahr ist er der zweitgrößte Bahnhof Frankreichs, außerdem ist er der älteste Bahnhof in Paris, nicht jedoch in ganz Frankreich.

Der Bahnhof wurde im Jahr 1837 als Endstation einer neuen Bahnlinie in Betrieb genommen, die die nahe gelegene Stadt Saint-Germain-en-Laye mit Paris verband. Sein heutiges Aussehen verlieh der Architekt Jules Lisch dem Gebäude 1889, pünktlich zur Weltausstellung in jenem Jahr.

Eine Zeit lang gehörte Claude Monet sozusagen zum Inventar des Bahnhofs. Er war fasziniert von all den Lichteffekten und Dampfwolken.

Vor dem Bahnhofsgebäude befinden sich zwei Plätze: der Cour de Rome und der Cour du Havre. Ersterer wird durch einen eindrucksvollen Metro-Eingang in Form einer gläsernen Muschel dominiert, entworfen von Arte Charpentier Architectes. Auf beiden Plätzen stehen Skulpturen von Armand Pierre Fernandez, der unter dem Pseudonym Arman gewirkt hat und zu den Unterzeichnern der Erklärung des Nouveau Réalisme im Jahr 1960 zählt. Bei Consigne à vie handelt es sich um einen Turm aus waghalsig aufeinandergestapelten Koffern aus Bronze, bei L’heure de tous um eine Ansammlung von Uhren, die alle eine unterschiedliche Zeit anzeigen.

Tomomi Ishikawa sah Paris als eine Reihe von Fakten, Daten und Architekten. Sie hatte ganz offensichtlich eine Menge Zeit damit verbracht, diese Dinge zu recherchieren. Die nächste Datei, die ich anklickte, trug den Titel Arkaden und sah folgendermaßen aus:

In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Paris etwa hundertfünfzig überdachte Straßen (passages couverts). Diese Nachkommen der großen arabischen Basare und Vorläufer moderner Einkaufszentren gibt es zwar nicht nur in Paris, die Pariser Versionen jedoch eint eine gespenstische Stille und das Gefühl von Verlassenheit, Geister einer finsteren Vergangenheit. Sie sind von kleinen Läden gesäumt und von gläsernen Dächern überspannt, doch anders als die späteren, prunkvolleren Arkaden in Mailand, Brüssel und Moskau sind sie meist eng und schlecht beleuchtet.

Es gibt noch etwa zwanzig solcher passages couverts, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind (der Rest wurde im Rahmen der Haussmannschen städtebaulichen Umgestaltung in den 1850erJahren abgerissen). Viele Versuche, ihnen neues Leben einzuhauchen, scheiterten, sodass einige dieser Arkaden heute aufgrund der jahrelangen Vernachlässigung einen ganz einzigartigen Charakter entwickelt haben. So beherbergt die Passage du Ponceau im 2. Arrondissement heute ausschließlich Süßwarenhändler, während in der Passage du Caire hauptsächlich Bekleidungsgroßhändler zu finden sind und in der Passage Brady im 10. indische, pakistanische und bangladeschische Restaurants. In Letzterer fühlt man sich durch den Duft der exotischen Gewürze regelrecht in ferne Länder versetzt.

Diese Texte waren alle schön und interessant, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie für mich bestimmt waren. Ich schloss den Mein Paris-Ordner und gönnte mir das Vergnügen, Meine Toten zu öffnen. Darin befanden sich sieben weitere Ordner mit den Namen: Tracy, Jay, Daddy, Guy Bastide, Komori, Fremder und Ben Constable.

Was hatte mein Name in einem Ordner mit dem Titel Meine Toten zu suchen? Ich dachte an die vielen Male, die ich aus Versehen einen Ordner in einen anderen verschoben und nicht mehr wiedergefunden hatte. So etwas kommt nicht jeden Tag vor, aber es kann passieren und dann ist es ziemlich frustrierend. Jedenfalls gehörte ich nicht zu den Toten, so viel war sicher.

In dem Ben Constable-Ordner fand ich eine Reihe von Dokumenten, die alle nach amerikanischer Art datiert waren – erst der Monat, dann der Tag. Es waren E-Mails von mir und an mich. Haufenweise. Diese hier hatte den Betreff Arbeit nach Plan:

Mr Constable,

treffen wir uns heute wie geplant?
Ich werde auf dich warten wie bei Samuel Beckett,
ohne Vorstellung von Tag oder Zeit.
Und wenn du kommst, dann warten wir zusammen.
Mir geht’s echt dreckig, Ben Constable,
aber nur, bis ich dich sehe.

ISHIKAWA

Warum hatte Butterfly mir ihren Laptop überlassen? Sie hatte gewusst, dass er mir gefiel, weil er so schön glänzte, aber ich besaß schließlich selbst einen Computer – auch wenn der schon ein bisschen mitgenommen war – und brauchte keine IT-Almosen. Sie hatte fast alles gelöscht und nur einen Haufen wirres Zeug zurückgelassen. Warum hatte sie gewollt, dass ich das alles bekomme? Was sollte ich mit dieser Fotosammlung von Gebäuden und Leuten, die ich nicht kannte? Mit ein paar E-Mails, die auch in meinem eigenen Account gespeichert waren? Mit Auszügen aus einem Paris-Reiseführer, den sie nie geschrieben hatte? Das sollte mein Erbe sein? Na schönen Dank, Butterfly. Irgendwo in all diesem Krempel musste doch etwas für mich sein.

Plötzlich hatte ich eine Idee und ging ins Internet. Vielleicht war ja ihr E-Mail-Passwort in ihrem Browser gespeichert. Butterfly hatte E-Mails geliebt. Ihr Konto öffnete sich direkt als Startseite. Ich sah siebenunddreißig ungelesene Mails. Kundenservice-Benachrichtigungen, Telefonrechnungen und Werbung. Dies hier war ihr offizieller Account, nicht der für ihre persönliche Korrespondenz. Doch die unterste der ungelesenen Mails in ihrem Posteingang (und damit die erste, die angekommen war) stammte von einer Adresse, die ich sofort wiedererkannte. Von diesem Absender hatte ich unzählige E-Mails bekommen. Es war Butterflys eigentlicher E-Mail-Account, über den sie mit Freunden kommunizierte und ihr Privatleben organisierte. Sie hatte sich selbst eine Mail geschickt.

Okay, Ben Constable, wenn du langsam den Verdacht bekommst, dass hinter all diesem Wahnsinn, den ich dir hinterlassen habe, irgendeine ziemlich verrückte Methode steckt, dann bist du genauso scharfsinnig, wie ich es von dir erwartet habe. Auch wenn du meinen ganzen Mist vielleicht noch nicht weit genug durchgesehen hast, um zu erkennen, was sich dahinter verbirgt. Das hier sind Teile eines Puzzles, einer Aufgabe. Ein Abenteuer wartet auf dich! Leider ist es nicht gerade brillant geplant, darum wirst du vielleicht selbst noch ein paar Kleinigkeiten hinzufügen müssen, hier und da eine Prise Salz, um die Unzulänglichkeiten meines schlecht durchdachten Konstrukts etwas genießbarer zu machen.

Ein Grund für den Aufwand, den ich hier betreibe, ist der Wunsch zu beichten, wie wir ihn ja alle insgeheim hegen, und so besteht der Gewinn dieses Spiels zum Teil darin, mich besser kennenzulernen (wenn auch nicht unbedingt von einer besseren Seite), denn ein Großteil dessen, was ich dir hinterlassen habe, ist nichts als Tinte, die aus meinem Stift geflossen ist und den dunkelsten Winkeln meines Bewusstseins Gestalt verleiht. Ein anderer Grund ist die Absicht, dich zu befreien, aus einer langen Winterstarre, die dich in die Sicherheit des Bekannten hüllt. Drum erhebe dich nun, edler Ritter, denn es ist Frühling und hehre Taten stehen dir bevor und ich werde dir als treuer Knappe zur Seite stehen (obwohl ich hoffe, dass deine Kämpfe sich auf Windmühlen und imaginäre Widersacher beschränken werden) und vielleicht wirst du am Ende gar die Hand der schönen Dulcinea gewinnen, denn der Lohn ist die Erfahrung, die Schätze sind Dinge, die man sehen, tun, schmecken, riechen kann und außerdem eine Menge Geschreibsel, das du – wer weiß? – vielleicht als Inspiration für einen Roman benutzen, als Andenken behalten oder an kalten Winterabenden im Kamin verbrennen kannst, um es warm zu haben, wenn du als armer Dichter in deiner Mansarde hockst und an Diphtherie stirbst, wie ich es dir mit Blick auf deine künstlerische Glaubhaftigkeit von ganzem Herzen wünsche. Du verdienst einen romantischen Tod, meinst du nicht auch?

Natürlich bist du in keinster Weise dazu verpflichtet, die beschwerlichen Aufgaben, die ich für dich ersonnen habe, zu Ende zu führen, falls du dich jedoch dafür entscheidest, findest du hier genug Stoff, der dich bei Laune halten wird. Und ich werde aus dem Himmel zu dir herabblicken (oder, was wahrscheinlicher ist, aus der Hölle herauf) und mit dir lachen, so wie vermutlich auch in jenem Moment, da du diese Zeilen liest. Scheiße, ich hoffe, der Gedanke, dass ich mit dir im selben Raum bin, macht dich nicht nervös. Steck das Ding weg, du ungezogener Junge – nein, nur ein Scherz, keine Sorge; lass es ruhig draußen – nein, sorry, war wirklich nur ein Scherz. Verdammt, jetzt habe ich es zu weit getrieben.

Und nun lies weiter die Sachen auf meinem Computer. Das sollte dich auf ein paar Ideen bringen, was du tun könntest – nicht, dass ich denke, du bräuchtest unbedingt etwas zu tun, aber das ist nun mal der Anfang.

Butterfly
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