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FREMDER
Es ist schwer, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen. Es könnte der Tag gewesen sein, als ich geboren wurde, oder der, als ich meinen ersten Zahn verlor. Vielleicht war es auch der Tag, als ich mir das Herz brach. (Wie dir vielleicht auffällt, suche ich die Schuld an diesem barbarischen Akt bei niemand anderem; ich war ganz allein dafür verantwortlich, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlen würde. Zu meiner Verblüffung wurde mir dabei klar, dass ich das Gefühl längst kannte und mein Herz schon Hunderte Male zuvor gebrochen worden war.) Vielleicht war es der Tag, als Daddy starb, oder der, als meine beste Freundin (die zugleich mein Kindermädchen war) starb. Vielleicht war es auch der Tag, als ich meine Jungfräulichkeit verlor, oder einer der wer weiß wie vielen anderen tausend möglichen Kandidaten. Jedenfalls war ich an jenem Tag, an dem diese Geschichte spielt, schon lange tot. Mein Körper war nichts als eine leere Hülle, während ich beobachtete, wie die Zehntausenden oder vielleicht sogar Millionen flackernden Lichter der Stadt ausgelöscht wurden und den Menschen die Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz vor Augen geführt wurde, während sie langsam begriffen, dass sie niemals die Welt verändern würden und sich selbst ihre größten Hoffnungen zerschlagen konnten, alles, wovon sie je geträumt, woran sie geglaubt hatten, zerquetscht wie ein unwillkommenes Insekt, weil das Leben in dieser Stadt keinen Wert hat. Das konnte es nicht, denn sonst wäre der Verlust einfach zu schmerzvoll gewesen und niemand mag Schmerz.
Und die Asche der Toten rieselte auf uns nieder wie Schnee. Der Tod bedeckte die Bürgersteige und Straßen, wallte mit der warmen Luft den Broadway hinauf und bettete sich auf die Fenstersimse in den Wohngebieten der Upper West Side, legte sich als dicke Staubschicht auf Autodächer und unser Haar, während wir ziellos durch die Straßen wanderten und als Zuschauer, Voyeure, einen Blick auf Zweifel und Unverständnis in den Gesichtern der Leute zu erhaschen versuchten, die uns begegneten.
Noch während ich diese Zeilen schreibe, wird mir die Sinnlosigkeit meines Tuns bewusst. Als könnte ich mir, indem ich dies zu Papier bringe, Erleichterung verschaffen oder eine Spur jener Menschlichkeit in mir finden, von der ich schon seit jeher bezweifle, dass ich sie überhaupt besitze. Diese Seiten bringen mir keine Erlösung, sie sind nur ein düsterer Bericht über einen seltsam aufschlussreichen Tag. Vielleicht haben wir an diesem Tag die Rechtfertigung dafür gefunden, dass wir so verkorkst sind, wie wir sind, nach der wir unser Leben (oder Nicht-Leben) lang gesucht haben. Jetzt hatten wir endlich eine Entschuldigung dafür. Von diesem Trauma würden wir uns nie erholen und das war völlig akzeptabel; die Wahrheit jedoch war viel finsterer, denn in Wahrheit hatten wir von Anfang an nicht vorgehabt, uns jemals davon zu erholen.
Am späten Nachmittag hielt ich es zu Hause nicht mehr aus und ging nach draußen, wo ich Fußspuren im Staub auf der Straße hinterließ. Ich lief ein Stück am Hudson entlang Richtung Norden, in der Hoffnung, dort eine Welt zu finden, wo das Leben weiterging, doch es gab kein Entrinnen vor den verstörten Gesichtern der Menschen, die über die Bürgersteige dieser Geisterstadt stolperten. Ich beneidete die Toten, die über meinen Kopf hinweggeweht wurden. Ich beschloss, zurück in die Innenstadt zu laufen und meine Neugier zu befriedigen. Zu nahe am Wasser fühlte ich mich ungeschützt, also ging ich weiter stadteinwärts und machte mich im Zickzack auf den Weg nach Osten.
Als ich den Tompkins Square Park erreichte, verwässerte die Dämmerung alle Farben und die Welt wurde matt. Nahe der Avenue B setzte ich mich auf eine Bank und starrte ins Nichts, bis mit großen Schritten ein Mann vorbeimarschiert kam. Er passte nicht so recht in dieses New York. Irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen, so als stammte er aus einer anderen Zeit. Normalerweise hätte ich mich gar nicht um ihn geschert (bloß ein weiterer Geist, der an mir vorüberglitt), denn ich war ja nur auf der Suche nach ein bisschen Ablenkung, doch als er auf gleicher Höhe war, hob er plötzlich den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Es wirkte, als sei er nur unterwegs, um sich von der Stelle zu bewegen. Ich hätte gern etwas zu ihm gesagt, ihm ein Zeichen meiner Verbundenheit gegeben, ein verständnisvolles Nicken, aber als ich schließlich genug Mut gesammelt hatte, um den Mund aufzumachen, war er längst an mir vorbeigegangen. Ich hätte ihm hinterherrufen müssen und er hätte im Dämmerlicht mein Gesicht nicht mehr erkennen können. Außerdem wusste ich sowieso nicht, was ich hätte sagen sollen. Also stand ich auf und folgte ihm in einigem Abstand.
Mittlerweile war es vollkommen dunkel geworden und der Boden im Schatten der Bäume war mit dem orangefarbenen Licht der Straßenlaternen gesprenkelt. Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf den abnehmenden Halbmond. Leicht schlurfend, um nicht zu stolpern oder von einer unerwarteten Stufe überrascht zu werden, ging ich weiter. Wir erreichten die Houston Street, überquerten sie, liefen weiter durch die Clinton Street, über die Delancey, und immer weiter nach Süden. Nach einer kleinen Abkürzung zwischen Bäumen und Gebäuden hindurch landeten wir schließlich auf dem East Broadway. Der Mann wurde nie langsamer und drehte sich kein einziges Mal um. Ich versuchte, meine Schritte möglichst wenig bedrohlich klingen zu lassen. Wir hielten geradewegs auf die Hochhaussiedlungen am East River zu, doch ich zögerte keine Sekunde (obwohl ich den Abstand zu ihm ein wenig verringerte, um mich sicherer zu fühlen). Mal bog er rechts ab, mal links, verschwand und kam wieder in Sicht, während ich ihm um jede einzelne Ecke folgte. Hin und wieder warf ich einen Blick über meine Schulter, um mich zu vergewissern, wo der Fluss war, und nicht die Orientierung zu verlieren. Er lief im Kreis. Ich bog um die Ecke eines der braunen Hochhaustürme und er war nicht mehr da. Verschwunden. Ich ließ mir nichts anmerken und wurde nicht langsamer, sondern marschierte schnurstracks weiter auf die Manhattan Bridge zu, die nun vor mir aufragte.
»Warum verfolgen Sie mich?«, flüsterte er und ich zuckte zusammen. Er stand kaum mehr als einen Meter von mir entfernt in einem Hauseingang und schaute mich ruhig und neugierig an.
»Was?«
»Sie verfolgen mich schon seit dem Tompkins Square. Was wollen Sie?«
»Nichts«, erwiderte ich und lief weiter auf die Brücke zu.
Einen Moment lang schien er verunsichert, so als fragte er sich, ob das vielleicht tatsächlich alles war. Im Weitergehen spürte ich seinen Blick im Rücken. Nach ungefähr fünfzehn Metern rief er: »Warten Sie«, und ich blieb stehen und drehte mich um, während er mit vorgetäuschter Ruhe zu mir aufschloss und in respektvollem Abstand vor mir stehen blieb.
»Warum laufen Sie ganz allein in dieser Gegend herum?«, wollte er wissen.
»Aus demselben Grund wie Sie«, entgegnete ich und er sah kurz auf, verwirrt, dass ich seine Gründe zu kennen meinte.
»Und wo wollen Sie jetzt hin?«
»Ich weiß noch nicht.«
Schweigen breitete sich zwischen uns aus und ich verspürte plötzlich ein Gefühl von Macht. Ich drehte mich um und ging ein paar Schritte, dann blieb ich wieder stehen und sah zu ihm zurück. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
»Kommen Sie nun oder nicht?«
Er lächelte, hüpfte regelrecht auf mich zu und wir liefen weiter, aber jetzt war ich diejenige, die den Weg bestimmte, und er derjenige, der an jeder Kreuzung stehen blieb, um zu sehen, für welche Richtung ich mich entschied, ohne jemals einen Vorschlag zu äußern.
Wir liefen bis zur City Hall und schlugen dann den Weg zur Brooklyn Bridge ein. Die Stadt im Rücken schlenderten wir nebeneinanderher wie ein Liebespaar bei einem romantischen Abendspaziergang. Keiner von uns sagte etwas oder wandte den Kopf, um zurück nach Manhattan zu sehen, bis wir in der Mitte zwischen den turmartigen Brückenpfeilern angekommen waren. Dort blieben wir stehen, lehnten uns an das Eisengeländer und starrten hinüber. Wir sahen die riesige Staubwolke, die langsam in den Himmel aufstieg. Die Brücke fühlte sich nicht sicher an; wahrscheinlich empfand das jeder so. Trotzdem huschten hin und wieder schweigende Gestalten an uns vorbei; ein paar blieben stehen, um zu beten, andere machten Fotos. Wir liefen bis zur Fulton Street Mall, doch Manhattan schien uns zu sich zu rufen und so beschrieben wir einen weiten Bogen, indem wir die Jay Street zur Manhattan Bridge mit ihrem vergitterten Fußgängerweg nahmen, und erreichten schließlich fast wieder die Straße mit dem Hauseingang, in dem der Mann auf mich gewartet hatte.
Ohne zu reden, wanderten wir durch die Straßen, bogen links und rechts ab, kamen an Betrunkenen vorbei und an einer Gruppe von Männern, in der gerade eine Prügelei geschlichtet wurde. So langsam taten mir die Füße weh. Ich war stundenlang ununterbrochen gelaufen. Irgendwann erreichten wir den Union Square. Hunderte von Leuten mit Kerzen in den Händen hatten sich dort versammelt.
»Lassen Sie uns hier weggehen«, sagte ich, als sich plötzlich Übelkeit in meinem Magen ausbreitete. Bringen Sie mich irgendwo anders hin, bedeutete ich ihm mit Gesten. Ich komme mit, wohin Sie wollen. Ich zählte nicht die Blocks, die wir hinter uns ließen, ich wusste nicht mal mehr, in welche Himmelsrichtung wir uns bewegten, als wir schließlich ein Gebäude betraten und uns stur geradeaus starrend in einem Aufzug wiederfanden. Er holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Wohnungstür. Das Apartment war weitläufig und die Einrichtung modern, bis ins Detail durchdacht, sehr ordentlich; eine typische Männerwohnung.
»Leben Sie allein?«
»Ja.« Er ging an einen Schrank und ließ sich dann mit einer Flasche Whisky und zwei Gläsern auf die Couch fallen.
»Kann ich mal ins Bad?«, fragte ich und er zeigte auf eine Tür, bevor er wieder auf den Tisch und den Whisky starrte.
Als ich zurückkam, stand er am Fenster und sah über die Dächer der benachbarten Gebäude zum East River hinüber. Er hatte sich ein großzügiges Glas eingeschenkt und auf dem Tisch stand ein weiteres, das ebenso gut gefüllt war. Ich nahm es und trat, nicht zu nah, neben ihn. Wir waren ziemlich weit oben.
»Als das zweite Flugzeug einschlug, stand ich zusammen mit den anderen Leuten aus meinem Gebäude auf dem Dach und wir haben zugesehen«, sagte ich, halb, um es mir von der Seele zu reden, und halb, um Small Talk zu machen. »Ich sah mich um und erkannte, dass die Menschen auf den anderen Dächern dasselbe machten. Um mich herum haben alle bloß immer wieder ›Mein Gott‹ geflüstert.«
Er ließ sich wieder aufs Sofa sinken. Ich blieb am Fenster stehen.
»Ich war mit meiner Exfrau im Nordturm verabredet. Sie wollte mir einen Auftrag bei einem ihrer Kunden vermitteln. Der Termin war für neun angesetzt, aber ich war ziemlich früh dran und habe sie angerufen, um ihr zu sagen, dass wir noch einen Kaffee trinken könnten. Und dann bin ich zehn Minuten um den Block gekurvt, um einen Parkplatz zu finden, bis ich es irgendwann aufgegeben habe und zu einem Parkhaus in der John Street gefahren bin. Als ich rauskam, heulten überall Sirenen und die Polizei hatte die Straßen abgesperrt. Ich habe noch versucht, sie zu erreichen, aber mein Handy hatte keinen Empfang. Ich stand da, bis der erste Turm einstürzte, und dann bin ich zusammen mit allen anderen bloß noch gerannt. Zurück zu meinem Auto konnte ich nicht und jetzt weiß ich nicht mal mehr, auf welcher Ebene ich geparkt habe.«
»Haben Sie inzwischen etwas von ihr gehört?«
»Sie ist wahrscheinlich tot.«
Es war wie eine Szene aus einem modernen Theaterstück. Er kam zurück zum Fenster und diesmal stellte er sich dichter neben mich. Ich wich nicht vor ihm zurück.
»Eben beim Herumlaufen ist es mir dann auf einmal schlagartig klar geworden.«
»Was?«, fragte ich.
»Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich immer all meine Energie dafür aufgewendet, mir ein Leben aufzubauen, mein Leben zu verändern, noch mal von vorne anzufangen, eine neue Seite aufzuschlagen. Ich habe die ganze Zeit auf ein einziges, unbestimmtes Ziel hingearbeitet. Versucht, meine Träume zu verwirklichen.«
»Ja.«
»Ich glaube nicht, dass ich damit jetzt noch weitermachen kann. Dazu fehlt mir einfach die Kraft.«
»Ich weiß, was Sie meinen. Heute erscheint einem irgendwie alles viel klarer.«
Er wollte so gern glauben, dass ich ihn verstand, und vielleicht war es ja auch so.
Keine Ahnung, wie wir zusammen im Bett landeten. Anders als bei einem Schachspiel kann ich mich nicht an die einzelnen Schritte erinnern, die dazu führten: Hand des Mannes auf Hüfte der Frau. Hand der Frau nimmt Hand des Mannes. Schach. Ich würde mir gern einreden, dass er es war, der die Initiative ergriff, aber ich habe es ihm wohl auch nicht besonders schwer gemacht, vielleicht ging das Ganze sogar doch von mir aus. Und plötzlich frage ich mich, ob das überhaupt wichtig ist. Damals hätte ich das vielleicht verneint, aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Es war keine besonders leidenschaftliche Angelegenheit. Lustlos – im wahrsten Sinne des Wortes – vom Körper geschälte Kleider. Keine großen Emotionen oder explosive Orgasmen, nur langsamer, rhythmischer Sex, nüchtern und der Situation vollkommen angemessen. Hinterher lagen wir da und starrten an die Decke. Dann sah ich ihn an. Schnippte vor seinen offenen Augen mit den Fingern und er blinzelte. Ich setzte mich auf und drehte mich zu ihm um, hockte mich auf die Fersen wie eine Geisha. Ich griff nach einem Kissen und er ließ mich nicht aus den Augen, doch seine Miene blieb ausdruckslos. Ich drückte ihm das Kissen aufs Gesicht, erst sanft, dann fester, presste ihm den Stoff mit ruhigen Händen auf Mund und Nase. Er rührte sich nicht, versuchte nicht einmal, sich zu wehren, er lag einfach reglos da und ließ zu, dass ich ihn erstickte. Ich lehnte mich auf ihn, bis mein gesamtes Gewicht auf dem Kissen über seinem Gesicht lastete. Minuten vergingen. Schwärze schoss durch meine Adern und hinter meinen Augenlidern explodierte herrliche Dunkelheit und erfüllte mich mit ihrer tröstlichen Wärme.
Dies ist das letzte Mal, dass ich so etwas tue, dachte ich bei mir. Jeder bekam, was er sich wünschte.
Er dachte daran, wie er als Kind Verstecken gespielt hatte. Er war noch klein genug gewesen, um in den Wäscheschrank im Haus seiner Großmutter zu passen. Er liebte den Geruch der trockenen Baumwolle und rollte sich darauf zusammen, wie die Katze es immer tat – manchmal lag sie den ganzen Tag dort, rundum zufrieden auf dem Stapel sauberer Laken und Handtücher. Wenn seine Großmutter dann den Schrank öffnete, hob das Tier bloß eine Augenbraue und huschte davon, bevor es jemand beim Nackenfell packen oder auch nur Kschh! sagen konnte. Ja, er war wie die Katze im Wäscheschrank. Es war ein gutes Versteck. Es roch so gut. Er schloss die Augen.