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FRAGEN ÜBER FRAGEN
Wo eine Geschichte endet, liegt im Ermessen des Erzählers. Das erscheint mir wie ein Mantra, das ich schon seit Jahren immer wieder aufsage. Aber ab einem gewissen Punkt muss man einfach loslassen und sagen: »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit.« Und als ich zurück nach Paris kam, hatte ich genau das vor. Ich verbrachte meine Abende beim Essen mit Freunden, mit Gesprächen und Wein, und überlegte, was als Nächstes mein Interesse wecken würde, so als wählte ich ein neues Buch zum Lesen aus. Doch die Leute stellten mir immer dieselben Fragen, dieselben Fragen, die auch an mir nagten und mich um den Schlaf brachten. Wo war Butterfly? Warum hatte sie mir geschrieben, sie sei tot? Hatte sie wirklich all diese Menschen ermordet? Ich schrieb die Fragen in mein Notizbuch und klappte es zu, in der Hoffnung, die Angelegenheit sei damit erledigt.
Das Arbeitsleben hatte mich zurück. In den ersten paar Tagen kam ich meinen Aufgaben wie mechanisch nach; ich wusste, es würde eine Weile dauern, bis ich mich wieder eingewöhnt hatte, und war fest überzeugt, dass die quälenden Fragen irgendwann von selbst verstummen würden, solange ich nur mein Notizbuch geschlossen hielt.
Beatrice und ich schrieben uns ein paar E-Mails und verabredeten uns für die darauffolgende Woche, wenn sie in Paris sein würde. Von Butterfly oder Charles Streetny kamen keine Mails mehr und das war auch gut so.
Begierig, mich in einer neuen Geschichte zu verlieren, durchstöberte ich mein Bücherregal, doch das einzige Buch, das ich noch nicht gelesen hatte, war Dantes Göttliche Komödie, die schon seit geraumer Zeit dort herumstand und ignoriert wurde. Schon nach wenigen Seiten döste ich ein und die Verse sickerten in meine Träume. Ob es mir nun gefiel oder nicht, ich hatte mit Butterfly noch nicht abgeschlossen. Und ich wusste, wo sie war.
Cat kam und sprang auf meine Brust. Er patschte mir mit dem rauen Ballen seiner Pfote ins Gesicht.
»Verdammte Scheiße, Cat, was willst du denn?« Es war Donnerstagabend und ich war früh ins Bett gegangen, um mich ordentlich auszuschlafen, damit ich am nächsten Tag ordentlich arbeiten und einen ordentlichen Freitagabend in einem Restaurant und danach in einer Bar verbringen konnte, wo ich mich nett unterhalten und Spaß haben würde. Aber Cat ließ einfach nicht von mir ab, also stand ich um halb zwölf am Donnerstagabend wieder auf, zog mich an, fuhr mit dem Aufzug nach unten und ging zur Metro. An der Station Jaurès ging ich die Treppen hinunter und wanderte durch die Gänge bis zum Bahnsteig der Linie 7bis. Bei Buttes-Chaumont stieg ich aus und wartete auf die Durchsage, die mich darüber informierte, dass für heute keine Züge mehr verkehrten, und marschierte dann, ohne mich umzusehen, ohne Cat zu rufen, ohne mir auch nur die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, an dem gelben Schild am Ende des Bahnsteigs vorbei, demzufolge ich mich in Lebensgefahr begab, und stieg die schmale kleine Treppe hinunter. Ich lief ein Stück geradeaus und hielt mich dabei dicht an der Tunnelwand. Niemand rief mir etwas nach, niemand folgte mir und meine Hand streifte die Pflanze, die einzige Pflanze in der Pariser Metro. Butterflys Kreideschrift und die Pfeile waren nicht mehr zu sehen, aber ich wusste auch so, wo ich hinmusste. Auf der linken Seite fand ich schließlich den Durchgang mit der Treppe, die dahinter in der Dunkelheit verschwand, und ich tastete mit dem Fuß nach jeder Stufe, bevor ich mein Gewicht darauf verlagerte.
Wo eine Geschichte endet, liegt im Ermessen des Erzählers. Heute weiß ich, ich hätte sie in New York enden lassen und glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit sein sollen. Aber das tat ich nicht; stattdessen schrieb ich sie weiter, jedes Wort, jede Stufe abwärts kostete mich quälende Sekunden und selbst nach ein paar Minuten konnte ich hinter mir noch immer das Licht am oberen Ende der Treppe sehen. Schließlich erreichte ich ebenen Boden und links von mir zweigte ein Gang ab. Es war stockdunkel hier unten und meinen Augen blieb nichts, worauf sie sich hätten einstellen können. Ich versuchte weiterzugehen, doch mein Körper weigerte sich. Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Notizbuch, riss eine Seite heraus, rollte sie zusammen und zündete ein Ende an. Ich befand mich in einem Tunnel, etwa einen Meter breit und zwei Meter hoch, die Wände aus Stein, nicht gemauert, sondern aus blankem, bleichem Fels. Ich kam ganze zehn Schritte weit, bevor ich eine neue Fackel brauchte, und riss ein Blatt nach dem anderen aus meinem Notizbuch. Ich hatte mit den leeren Seiten ganz hinten angefangen, gelangte jedoch schon bald zu meinen Aufzeichnungen über New York; Sachen, die ich in Cafés notiert hatte, Straßennamen, Plätze, drei Fragen über Butterfly. Würde ich mich ohne meine Notizen daran erinnern können? Würde all das überhaupt noch existieren, wenn es diese Seiten nicht mehr gab?
Ich lief jetzt Richtung Osten, oder vielleicht Südosten, und kam nur langsam voran. Nachdem ich mein Notizbuch verfeuert hatte (inklusive des Einbands), nahm ich mir die Göttliche Komödie vor. Was ziemlich schade war, ich hatte gerade mal den ersten Gesang gelesen. Dante verbrannte schneller als meine hingekritzelten Gedanken und ich versuchte anhand der verbrauchten Seiten auszurechnen, wie lange ich schon unterwegs war, aber das war gar nicht so einfach. Solange ich um vier Uhr wieder zu Hause war, war alles in Ordnung. Ich würde einfach nicht mehr als die Hälfte der Göttlichen Komödie verbrennen, damit ich noch genug Seiten übrig hatte, um den Weg zurück zu den Metrogleisen zu finden, und könnte vor der Arbeit sogar noch ein paar Stunden schlafen. Plötzlich teilte sich der Gang. Okay, diese Gabelung würde ich mir merken können. Ich musste mich für eine Richtung entscheiden und wandte mich nach links.
Ich hatte das Gefühl, dass der Tunnel in einem leichten Bogen verlief, obwohl das schwer zu sagen war; wahrscheinlich bewegte ich mich nun Richtung Osten, oder vielleicht Nordosten, da kam ich an eine T-Kreuzung. Ich ging nach rechts, wo ich Süden vermutete. Wieder landete ich an einer Kreuzung. Wie viele davon würde ich mir noch merken können? Ein einziger Fehler, und ich wäre verloren. Ich dachte an Theseus und den Minotaurus – ich brauchte eine Garnrolle. Ich zupfte an meiner Jacke und versuchte, einen Faden loszufriemeln, den ich irgendwo befestigen konnte, sodass sie sich, wie in einem Cartoon, aufribbeln und immer kürzer und kürzer werden würde, je weiter ich lief; dann würden meine Ärmel einer nach dem anderen verschwinden, bis ich irgendwann nur noch zwei Taschen, einen Kragen und den Reißverschluss am Leib hätte, dafür aber einen Faden in der Hand, der mich aus diesem Labyrinth herausbringen würde. Doch so einfach ließ sich der Stoff nicht aufdröseln (um nicht zu sagen: überhaupt nicht). Also entschied ich mich, geradeaus zu gehen. Der Tunnel war eine Sackgasse und am Ende zugemauert. Zurück an der Kreuzung war geradeaus die Richtung, aus der ich gekommen war. Ich wandte mich nach rechts und damit wieder nach Osten.
Ich hatte bereits gut hundert Seiten der Göttlichen Komödie verfeuert, die wie lang war? Vielleicht siebenhundert Seiten? Es musste so gegen zwei Uhr sein. Das war okay. Solange ich bis sechs zu Hause war. Der Weg gabelte sich abermals, doch diesmal hatte ich keine Wahl, denn der rechte Gang wurde von einer Stahltür mit einem Schloss davor blockiert. Ich versuchte, meine bisherige Route zu rekapitulieren, und sagte mir die Stellen, an denen ich abgebogen war, immer wieder wie einen Merkvers auf: Links an der ersten, rechts an der nächsten, links an der großen Kreuzung, links an der nächsten … Dann stieß ich auf eine Wendeltreppe. Ich zählte die Stufen. Dreißig. Jede davon beschrieb eine Windung von, sagen wir, dreißig Grad, also bildeten zwölf Stufen eine volle Umdrehung. Als ich unten ankam, musste mein Gesicht also in die entgegengesetzte Richtung zeigen als am Anfang der Treppe. Vielleicht. Links an der ersten, rechts an der nächsten, links an der großen Kreuzung, links an der nächsten, dann die Treppe runter. Wenn ich allerdings länger brauchte als bis halb sechs, fuhr die Metro wieder und auf dem Weg zurück zum Bahnsteig Buttes-Chaumont würden ständig Züge an mir vorbeirasen. Der Tunnel wand sich nach links, dann nach rechts und ich fand mich in einem großen Raum mit mehreren Ausgängen wieder. Dantes Leuchtkraft reichte nicht aus, um den gesamten Raum zu erhellen, also lief ich einmal im Kreis und zählte dabei die Tunnel. War das hier der, durch den ich hergekommen war? Sechs. Ich legte eine Buchseite vor einem der Ausgänge auf den Boden und ging noch mal Abzweigungen ab, um zu prüfen, ob ich richtig gezählt hatte. Hatte ich nicht. Es waren sieben, allerdings hatte sich die Seite ein kleines bisschen bewegt, was bedeutete, dass es hier unten einen Luftzug gab, oder aber ich hatte ihn beim Gehen verursacht. Ich war müde und konnte nicht mehr klar denken. Was zum Teufel machte ich eigentlich hier? War ich verrückt geworden? Ich musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich.
Ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war, doch die Wendeltreppe erschien nicht, oder zumindest noch nicht. Ich dachte an Städte und Landkarten. Ich dachte an Venedig und Havanna und stapfte weiter, verlor mich im Rhythmus meiner Schritte. Das halbe Buch war weg. Ich lief in die falsche Richtung. Ein paarmal musste ich umkehren, weil der Gang plötzlich voller Wasser stand, das zu tief zum Durchwaten war, und einmal stieß ich auf einen reißenden kleinen Strom. Vermutlich hätte ich zurück in den Raum mit den sieben Ausgängen gehen und mich dort auf den Boden setzen sollen, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
Ich gelangte in einen anderen Raum. Er war unregelmäßig geformt, mit einem großen Felsbrocken in der Mitte, dessen Oberfläche auf Tischhöhe abgeflacht war, und daneben erhob sich eine einzelne Säule aus mehreren großen, zusammenbetonierten Steinen. Mich über meinen Leichtsinn zu ärgern, dass ich völlig unvorbereitet und ohne Plan in dieses unterirdische Labyrinth marschiert war, hatte keinen Sinn. Ich war gekommen, um Butterfly zu suchen. Nur deswegen war ich hier. Dies war eine heldenhafte und edle Tat, motiviert durch Freundschaft und Liebe, und ich war schließlich nicht tot. Ich hatte bloß nasse Füße und auch meine Jeans war durchtränkt bis an die Knie. Also legte ich mich erst einmal in Embryonalstellung auf den Felsblock und wartete.
»Wach auf.«
Ich versuchte, mich an Dante zu erinnern, der mir geraten hatte, in die andere Richtung zu gehen. Es erschien so logisch.
»Wach auf!«
Jemand berührte mich an der Schulter. Ich öffnete die Augen, doch es machte keinen Unterschied; ich sah nichts.
»Hey, aufwachen, Ben Constable.«
»Mir geht’s gut«, murmelte ich, während ich versuchte, mich zu entsinnen, wo ich war und warum ich nichts sehen konnte. »Bist du das?«
»Ja.«
»Kannst du denn im Dunkeln sehen?«, fragte ich. »Oder hast du irgend so eine Nachtsichtbrille?«
»Ich habe eine Taschenlampe, aber die habe ich ausgeschaltet, damit sie dir nicht in den Augen wehtut.«
»Das ist echt witzig. Ich schlafe nämlich normalerweise immer mit ein bisschen Licht, damit ich nicht völlig desorientiert bin, wenn ich aufwache.«
»Tut mir leid.«
»Schon okay. Ich weiß auch so fast nie, wo ich bin, ob mit Licht oder ohne.«
»Du bist in den Tunneln unter Paris.«
»Ja, ich habe die Dunkelheit wiedererkannt. Wie spät ist es?«
»Zwanzig nach drei.«
»Kannst du bitte mal das Licht anmachen?«
Tomomi Ishikawa leuchtete mit ihrer Taschenlampe durch den Raum, sodass ich einen Eindruck von seiner Größe bekam, und richtete den Strahl anschließend auf sich selbst, für den Fall, dass ich noch Zweifel daran hatte, wer sie war. (Obwohl ihre Stimme für mich ein sehr viel eindeutigeres Erkennungsmerkmal war als ihr Gesicht.)
»Wie hast du mich gefunden?«
»Zufall. Ich bin reingekommen und du hast einfach hier rumgelegen wie eine Statue. Du hast mir einen ordentlichen Schreck eingejagt. Wie lange bist du denn schon hier?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Wie spät ist es wirklich?«
»Keine Ahnung. Zeit interessiert mich nicht.«
»Natürlich nicht.« Meine Stimme klang unnötig spitz, und als mir das bewusst wurde, tat es mir sofort leid. Doch sie überging meine Bemerkung.
»Genauso wenig wie Tage.«
»Tja, also ich bin am Donnerstagabend gegen halb zwölf zu Hause losgegangen. Ich bin hier unten gelandet und ein paar Stunden rumgelaufen, bis ich mich verirrt habe, dann bin ich eingeschlafen und wieder aufgewacht und jetzt habe ich Hunger und bin immer noch müde und komme wahrscheinlich auch noch zu spät zur Arbeit.«
»Dann können wir wohl davon ausgehen, dass jetzt Freitag ist.« Sie knipste die Taschenlampe aus. »Ich will die Batterien ein bisschen schonen.«
»Vielleicht solltest du dir wiederaufladbare kaufen.«
»Die sind wiederaufladbar«, entgegnete sie. »Hier, man kann an diesem Kurbeldings drehen, dann laden sie sich wieder auf.« Ein Sirren ertönte, als sie hektisch den kleinen Hebel herumwirbelte. »Cool, was?«
»Butterfly, mach das Licht wieder an.«
Eine Sekunde lang schwiegen wir uns schüchtern an und ich musterte sie, wie sie da ein paar Meter von mir entfernt stand. Sie trug ein schlichtes Top, einen wadenlangen, an der Taille gerafften Rock und flache Schuhe wie eine Balletttänzerin. Sie lächelte und schwenkte ziellos ihre Taschenlampe, deren Strahl monströse Schatten auf Wände und Decke zeichnete.
Ich zündete mir eine Zigarette an, denn das tun Raucher nun mal, wenn sie nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen sollen.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich war auf der Suche nach dir.«
»Hast du eine Karte dabei?«
»Nein.«
»Eine Taschenlampe?«
»Nein.«
»Wow, nicht schlecht. Wenn man sich nicht auskennt, ist es ziemlich schwierig, sich hier unten zurechtzufinden. Es kommt immer mal wieder vor, dass sich Leute in diesem Labyrinth verirren und sterben. Sie finden nicht zurück und verhungern irgendwann wahrscheinlich einfach.«
»Spart dir die Mühe, sie umzubringen.«
»Wahrscheinlich.« Sie seufzte. Dann kicherte sie. »Obwohl das mit dem Umbringen natürlich der beste Teil ist.«
»Deine Geschichten, wie du alle möglichen Leute ermordet hast, haben mir gefallen. Nicht unbedingt beim Lesen selbst, aber rückblickend waren sie echt lustig und gruselig.« Sie antwortete nicht und unsere Unbeschwertheit geriet kurz ins Stocken und wir waren wieder schüchtern. »Ich bin davon ausgegangen, dass es hier unten Pfeile und alle möglichen Hinweise geben würde, denen ich folgen kann«, sagte ich dann.
»Die gab es auch. Aber ich bin herumgelaufen und habe sie weggewischt.«
»Warum?«
»Ich wollte nicht mehr, dass du mich findest.«
»Warum?«
»Manche Dinge ändern sich eben.«
Ich seufzte und dachte eine Sekunde nach. Eine seltsame Schwere breitete sich in meinem Inneren aus und plötzlich wollte ich nur noch allein sein. Ich wollte wirklich allein sein.
»Butterfly?«
»Ja?«
»Ich würde jetzt gerne gehen. Kannst du mir zeigen, wie ich hier rauskomme?«
»Du hast doch gesagt, du hast Hunger. Wir sollten was essen.«
»Ich komme jetzt schon zu spät zur Arbeit. Ich muss wirklich gehen.«
»Okay. Dann los.« Tomomi Ishikawa drehte sich um und der Strahl der Taschenlampe verschwand in einem Tunnel. Ich sah nichts mehr.
Ich überlegte, einfach stehen zu bleiben. Mir fiel die Erkenntnis wieder ein, die sich mir im Bryant Park, in meiner letzten Nacht in New York, offenbart hatte: Im wirklichen Leben gibt es keine große Auflösung. Egal wie weit ich reisen und welche Mühen ich auf mich nehmen würde, um Butterfly zu finden, die Antworten, die ich bekommen würde, könnten mich niemals zufriedenstellen. Nichts, was sie hätte sagen können, hätte dazu geführt, dass ich verstand und alles wieder gut wurde. So frustrierend es auch war, diese Geschichte war längst zu Ende.
»Komm schon«, drängte sie.
»Ich sehe nichts.«
Sie drehte sich um und richtete den Strahl der Lampe auf meine Füße. Ich trat meine Zigarette auf dem Boden aus und sie kam zu mir, bückte sich und hob den Filter auf. »Müll schmeißt man nicht einfach so auf den Boden«, rügte sie und ich schämte mich. Dann stürmte sie voran in die Dunkelheit und hielt ihre Taschenlampe für mich hinter sich gerichtet.
»Wie findest du dich hier ohne Licht zurecht?«
»Ich kann ein kleines bisschen sehen, aber ich bin auch daran gewöhnt. Mittlerweile kenne ich mich ziemlich gut aus.«
»Wie lange bist du denn schon hier?«
»Seit ich tot bin.«
»Wow, dann bist du ja wirklich eine Untote!«
Sie warf mir einen Blick über die Schulter zu und grinste.
Ich sagte nichts und wir gingen weiter.
»Und, hat dir New York gefallen?«
Ich lächelte ein bisschen und schmollte zur gleichen Zeit. »Ja, hat es.« Sie drehte sich kurz zu mir um und blendete mich mit dem Lichtstrahl, als sie versuchte, meinen Gesichtsausdruck zu erkennen. »Manchmal war es nicht ganz leicht. Aber es hat mir gefallen.«
»Hey, tut mir leid, dass alles so schiefgelaufen ist. Du solltest Spaß haben. Es war dein Abenteuer, mein Geschenk für dich. Ich war so stolz, dir mein wunderbares Gotham Town zu zeigen.«
Einen Moment lang schwirrte mir der Kopf. Dieses Gespräch hatte ich mir schon im Bryant Park eingebildet. Und doch war es ganz anders. Diesmal lag nichts Liebevolles darin. Ich hatte das Gefühl, ihren Wahnsinn sehen zu können. War er schon immer da gewesen? Ich erwiderte nichts und wir gingen schweigend weiter. Wir passierten Kreuzungen und Abzweigungen und bogen mal links, mal rechts ab. Butterfly zögerte nie auch nur eine Sekunde, musste kein einziges Mal überlegen oder sich orientieren.
»Sind wir in den Katakomben?«
»Die Leute nennen sie Katakomben, aber diese Tunnel sind hauptsächlich durch den Abbau von Stein entstanden. Daraus haben sie Paris errichtet, bis hier unten alles dermaßen ausgehöhlt war, dass die Welt, die sie an der Oberfläche erschaffen hatten, zurück in den Boden zu versinken begann, aus dem sie entnommen war. Ganze Gebäude und Straßenzüge sind dabei eingestürzt.«
»Wie groß ist denn dieses Tunnelsystem?«
»Auf dieser Seite der Seine nicht so besonders.« Tomomi Ishikawa gab immer gern die Reiseleiterin.
»Also, mir kommt es ziemlich groß vor.«
»Es sind schon ein paar Kilometer, verteilt auf mehrere Systeme, obwohl viele Tunnel im Laufe der Jahre versiegelt oder aus baulichen Gründen zugeschüttet worden sind. Aber auf der Rive Gauche ist es der Wahnsinn. Da gibt es fast genauso viele Tunnel wie Straßen.«
Wir kamen an eine Tür und sie holte einen Schlüsselbund und einen Gummiknüppel aus ihrer Tasche. Sie klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und steckte einen der Schlüssel ins Schloss, dann schlug sie, während sie den Schlüssel drehte, ein paarmal kräftig mit dem Knüppel darauf und die Tür ging auf.
»Hä? Wie hast du das denn gemacht?« Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gesehen hatte.
»Ach, das ist nur ein Trick, den ich mal gelernt habe. Die sogenannte Schlagmethode. Ist ziemlich einfach, wenn man den Dreh raus hat – viel leichter als die anderen Knacktechniken und funktioniert so ziemlich bei allen Zylinderschlössern.«
»Das heißt, du kannst Schlösser öffnen, für die du keinen Schlüssel hast?«
»Ja.«
»Wo hast du das denn gelernt?«
»Im Internet«, erwiderte sie und führte mich dann in einen Tunnel, der mir noch dunkler erschien als all die anderen.
»Du bringst mich überhaupt nicht hier raus, oder?«
»Ach, tut mir leid, aber du meintest doch, du hättest Hunger. Und wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Ich dachte, du hättest vielleicht ein paar Fragen an mich. Und ich dachte, du würdest vielleicht gerne sehen, wo ich jetzt wohne.«
Irgendetwas stimmte nicht. Ich wollte immer noch einfach nur allein sein. Ich weiß nicht, was ich hier unten zu finden erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das hier. Mein Atem ging schneller, wie unter Anstrengung. Ich hatte keine Angst, nicht vor Butterfly, aber ich hatte sie nun mal gebeten, mir den Weg nach draußen zu zeigen, und sie hatte mich hierhergebracht.
Wir erreichten eine weitere Tür und sie wiederholte ihren Trick mit dem Schlüssel und dem Gummiknüppel. Dahinter lag eine kleine Kammer. »Tja, ist nichts Besonderes, aber das hier ist mein Zuhause«, sagte sie und knipste die Taschenlampe aus. Ich sah nichts mehr.