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TRACY
Ich versuchte, mein Gespräch mit Beatrice nicht immer wieder im Kopf durchzuspielen, wollte die Dinge, die ich gesagt hatte, nicht verfälschen, sie lebhafter oder überzeugender wirken lassen, oder mir eingestehen, dass mein Verhalten möglicherweise ein bisschen rücksichtslos gewesen war. Stattdessen war ich sauer auf sie, weil sie sich nicht mit mir auf die Suche nach diesem Buch machen wollte. Sie sollte sich mit mir freuen. Sie sollte wieder so sein wie am Tag zuvor.
Die Straße war hell erleuchtet und gut zu überblicken, doch es war keine Menschenseele in Sicht. Bloß hin und wieder mal ein Auto. Ein schwarzer Zaun mit schmiedeeisernen Spitzen verlief entlang der Schulfront. Ich hätte einfach darüberspringen können, aber das musste ich gar nicht. Zu beiden Seiten des Tors stand je ein großer Keramikpflanzkübel mit einem kleinen Strauch darin. Wenn ich meine Hände durch die Zaunstreben steckte, kam ich bequem an beide heran. Ich zog Tomomi Ishikawas Edelstahl-Kuli aus der Tasche und hockte mich hin. Im Licht einer Straßenlaterne fiel mein Schatten über den Topf, dem ich mich gerade widmete. Ein ähnlicher Schatten wie damals, als Butterfly ihren Schatz hier eingepflanzt hatte.
Ich begann, kleine Probelöcher in die Erde zu bohren, in der Hoffnung, dass das, wonach ich suchte, nicht allzu tief vergraben sein würde. Die Erde war hart und schon seit längerer Zeit nicht mehr angerührt worden. Doch irgendwann war Butterfly hier gewesen und hatte genau dasselbe getan wie ich jetzt. Alles, was uns voneinander trennte, war Zeit. Ich sah sie vor mir: klein und zierlich, wie sie nachts ganz allein hier kauerte und grub, dasselbe Stück Universum einnahm wie in diesem Moment mein Körper, den Geruch der Straße und der trockenen Erde einatmete. Sie drang in meine Gedanken ein, als würde ihre Erinnerung in meinen Kopf projiziert. Ein geradezu klaustrophobisches Gefühl überkam mich.
Ich kippte den Kübel ein wenig und zog die ganze Pflanze behutsam mitsamt Wurzeln, Erde und allem, was dazugehörte, heraus. Auf dem Boden lag ein kleines Päckchen – eingewickelt in mehrere Schichten Plastikfolie und mit Klebeband verschlossen. Ich setzte die Pflanze zurück in den Topf und achtete darauf, dass es nicht so aussah, als habe sich jemand daran zu schaffen gemacht. Dann nahm ich das Päckchen, marschierte los zur nächsten U-Bahn-Station und fand schließlich den Weg zurück zu meinem Hotel, auch wenn dieser wahrscheinlich unnötig kompliziert war. In meinem Zimmer angekommen, wickelte ich das Notizbuch aus der staubigen Folie. Es war alt und offenbar irgendwann mal nass geworden, jetzt allerdings war es trocken.
Tracy Wyatt (1966 – 1997)
Jede Geschichte hat einen Anfang und das hier ist meiner. Wenn ich Glück habe, verrottet dieses Buch einfach oder wird erst lange nach meinem Tod von irgendwelchen Archäologen entdeckt. Vielleicht findet es auch jemand und wirft es einfach weg, ohne sich weiter darum zu kümmern. Trotzdem mache ich mir vorsichtshalber die Mühe, die Namen der betroffenen Personen zu ändern, nicht etwa um Unschuldige zu schützen, sondern um meinen eigenen jämmerlichen Hintern zu retten, sollte eines Tages doch jemand diesen Worten Beachtung schenken.
Im Alter von siebzehn Jahren war ich todunglücklich in einen meiner Highschool-Lehrer verknallt. Er war neu, jung, trug eine Brille und wirkte äußerst seriös. Er sah immer aus, als strebte er im Geiste nach höheren Zielen, anstelle sich mit den alltäglichen Dingen zufriedenzugeben, die uns andere beschäftigten. Seine Stimme war ruhig und sanft. Man hätte meinen können, jemand wie er würde leicht Opfer von Spötteleien, stattdessen aber entfachten die naturgegebene Überlegenheit und Unnahbarkeit, die er ausstrahlte, unsere Fantasie und wir liebten ihn umso mehr dafür (wenn auch wohl niemand so sehr wie ich).
In diesem Text soll der Name dieses Lehrers Mister Wyatt lauten, obwohl wir ihn meistens Tracy nannten und er nichts dagegen zu haben schien. Er unterrichtete Englisch mit einer Leidenschaft, die an uns, ehrlich gesagt, verschwendet war, und doch lebte ich von Woche zu Woche nur noch für seinen Unterricht und schwelgte in träumerischer Vorfreude. Oft wartete ich am Ende seiner Stunden, bis die anderen weg waren, um ihm Fragen zu stellen, und erledigte meine Hausaufgaben mit bis dahin ungekanntem Eifer.
Mein Leben außerhalb der Schule hatte sich in einen Fluss voll reißender Stromschnellen verwandelt. Meine Eltern waren chronisch abwesend – jeder von ihnen lebte in seiner eigenen Welt. Ich litt unter Zweifeln und Einsamkeit und zu all den Gefühlswirren der Pubertät kam auch noch das Versprechen, das ich meinem Kindermädchen gegeben und womit ich den Grundstein für seinen Tod gelegt hatte. Meinen Freundinnen gegenüber ließ ich mir nichts anmerken. Im Allgemeinen galt ich als leicht überdurchschnittlich frech. Doch ich war eine Außenseiterin, tauchte in meiner Einsamkeit in immer größere Tiefen hinab und watete durch trübe Gewässer, wo ich Liebe und Verlustangst (Themen, die seither meine Gedanken dominieren) erforschte – und durcheinanderbrachte. Ich kann nur hoffen, dass es mich eines Tages in hellere Gefilde verschlägt.
Trotz der metaphorischen Äpfel, die ich ihm am Ende jeder Unterrichtsstunde darbot, und anderer Annäherungsversuche meinerseits zeugte Tracys Verhalten von bewundernswertem Anstand. Mir fiel auf, dass er im Umgang mit anderen Schülerinnen wesentlich unbeschwerter war, wohl um mich in meinem Interesse an ihm nicht zu bestärken. Allerdings schien er meine kreativen Schreibversuche zu schätzen und schlug mir vor, ihm meine Texte, die ich außerhalb des Unterrichts verfasste, zu lesen zu geben, was ich hin und wieder auch tat. Er nahm sich viel Zeit, um meine Arbeiten durchzugehen, und übte sanfte, aber stets konstruktive Kritik. Nach und nach gelang es mir, sein Vertrauen zu gewinnen, und er wurde entspannter in meiner Gegenwart.
Während mein achtzehnter Geburtstag näher rückte, gab ich mich der seligen Illusion hin, Tracy würde mich nur auf Abstand halten, weil ich noch minderjährig war, und dass wir, sobald ich mich in eine Erwachsene mit uneingeschränktem Wahlrecht verwandelte, zum Erstaunen all meiner Mitschülerinnen zu einem strahlenden Alphapärchen werden würden. In meiner Fantasie wussten die anderen längst Bescheid und wünschten mir nur das Beste, nachdem sie ihren Neid überwunden hatten.
Während eines unserer Tête-à-têtes nach dem Unterricht (diesmal ging es um astrologische Bezüge in der Literatur) fand ich heraus, dass er in der darauffolgenden Woche Geburtstag hatte. Er würde sechsundzwanzig werden. Ich erzählte den anderen Mädchen, dass ich ein Geschenk besorgen wollte, und jede von ihnen steuerte einen Dollar bei. Den Rest fügte ich aus eigener Tasche hinzu. Ich kaufte ihm schwarze Kaschmirunterwäsche für 140 Dollar, liebevoll verpackt, und legte eine Karte mit dem Text Liebster Tracy, du bist großartig. Ich liebe dich. X dazu. Natürlich gab es noch eine zweite Karte, auf der alle anderen unterschreiben durften. Aber ich wusste, dass er meine Handschrift erkennen und jedes Mal, wenn er diese erlesenen Shorts anzog, an mich denken würde.
Da ich diejenige gewesen war, die sich die Mühe gemacht hatte, das alles zu organisieren, war es nur fair, dass ich auch das Geschenk überreichte. Voll offensichtlichem Unbehagen öffnete er das Päckchen vor der ganzen Klasse. Ich weiß noch, wie entzückend ich es fand. Er bedankte sich bei uns allen und wandte sich dann schnell wieder Harper Lee zu. Von diesem Tag an vermied er es, sich mit mir allein zu treffen. Ich interpretierte diese Reaktion nicht nur als ein Zeugnis unserer Verschworenheit, sondern auch als Warnung an mich, dass niemand an der Schule von unserer Liebe erfahren durfte, wenn er nicht seine Stelle verlieren wollte, und wir unser aufkeimendes Glück daher abseits des Schulgeländes ausleben mussten, abgeschirmt vor den neugierigen Blicken der Welt. Also folgte ich ihm.
Er kam mit dem Fahrrad zur Schule, was mir mein Vorhaben um einiges erschwerte, doch nachdem ich mich eine Zeit lang täglich nach Schulschluss jedes Mal ein paar Meter weiter auf seinem Heimweg postiert hatte, fand ich eine Adresse heraus, zu der er sich regelmäßig begab. Zwei Wochen später inszenierte ich ein zufälliges Treffen vor seiner Haustür. Hübsch zurechtgemacht, parfümiert und halb verrückt vor Aufregung lauerte ich ihm auf. Als er um die Ecke bog, sprang ich aus meinem Versteck und lief direkt in ihn hinein.
»Ach, hallo, Tracy.« Natürlich tat ich so, als sei ich überrascht.
»Scheiße, was machst du denn hier?« Hastig blickte er sich um, aus Angst, jemand könnte uns sehen.
»Ich war nur gerade …« Ich hatte kaum mit meinem zurechtgelegten Text angefangen, als er auch schon explodierte.
»’nen Scheiß warst du! Lass dich nie wieder hier blicken, verdammt! Das geht langsam echt zu weit!« Er hob die Hand, als wollte er mich schlagen, und ich zuckte schockiert zurück, die Augen voller Tränen.
»Aber ich war doch nur gerade da drüben in der Buchhandlung …« Ich deutete in die entsprechende Richtung.
»Hau ab, und zwar sofort, Butterfly! Wehe, du folgst mir noch mal, verdammt. Kapiert? Hau ab!«
Ich stand da wie erstarrt.
Er drückte auf eine Klingel. »Wir sehen uns morgen in der Schule«, sagte er, kurz bevor eine Frauenstimme fragte: »Ja?«
»Ich bin’s«, erwiderte er. Ein Klickgeräusch ertönte und er verschwand im Haus.
Hysterisch schluchzend flüchtete ich zurück in unsere Wohnung und schloss mich in meinem Zimmer ein, bis es Komori gelang, mich mit heißer Suppe und tröstenden Worten herauszulocken.
Der Fleiß, den ich für Tracy an den Tag gelegt hatte, brachte mir gute Noten ein. Doch mein gebrochenes Herz quälte mich noch Monate später und die Schmach der öffentlichen Zurückweisung hatte mich kein bisschen davon kuriert. Noch lange danach war ich überzeugt, dass der einzige Weg, mich jemals von dieser grausamen Erniedrigung zu erholen, über seinen Tod führte.
Fünf Jahre später war ich zu einer selbstbewussten jungen Frau herangereift und, vielleicht das einzige Mal in meinem Leben, glücklich. Ich arbeitete als Assistentin in einem kleinen, aber sehr renommierten Verlag für Lyrik und experimentelle Prosa. Es war mein erster Job seit meinem Schulabschluss und zu meinen Aufgaben gehörte unter anderem, die Einsendungen zu sortieren – mit anderen Worten, ich las den Anfang aller eingereichten Manuskripte und entschied, ob sie unseren hohen Ansprüchen genügten oder nicht. Alles, was auch nur im Entferntesten hätte interessant sein können, wurde an einen Lektor weitergegeben, die meisten jedoch wurden mit einer Standardabsage zurückgeschickt.
Eines Wintermorgens, als ich gerade die Post öffnete, stieß ich völlig unerwartet auf das Manuskript eines Romans, geschrieben und eingereicht von Tracy. Zu dieser Zeit war der Schmerz seiner Zurückweisung längst vergessen und bei der Erinnerung an ihn und seine dramatische Überreaktion stahl sich ein beschämtes Lächeln auf mein Gesicht. Das Buch nahm ich mit nach Hause und verschlang es noch am selben Abend.
Sein Schreibstil war enttäuschend gefällig. Die Handlung jedoch weckte mein Interesse. In deren Mittelpunkt stand ein Lehrer, der eine Beziehung mit einer minderjährigen Schülerin einging. Es war bei Weitem nicht Lolita, dennoch war es nicht schwer vorstellbar, woher er den Mut genommen hatte, eine solch skandalöse Fantasie zu Papier zu bringen. Mein Herz raste, als ich seine Version des Kaschmirunterwäschen-Zwischenfalls las und fürchtete, bloßgestellt zu werden, doch im Laufe der Geschichte erkannte ich nicht mich in seinen Worten wieder, sondern ein anderes Mädchen (ich werde sie Jane nennen); sie war eher unscheinbar und sogar noch jünger als ich, aber sie war eine reale Person und ich kannte sie. Wenn man der Geschichte Glauben schenkte, hatte Tracy über mehrere Jahre hinweg eine sexuelle Beziehung mit ihr gehabt.
Ich fragte mich, ob das alles wahr sein konnte. Wenn ich sichergehen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mir Informationen aus erster Hand zu besorgen. Ich fand Janes Mutter im Telefonbuch und sagte ihr, ich sei eine alte Freundin ihrer Tochter. Sie gab mir nur widerstrebend Auskunft, aber wollte wohl auch nicht unhöflich sein. Ich erfuhr, dass Jane an einem College nördlich von New York studierte, und ihre Mutter nannte mir den Namen einer respektablen Bildungseinrichtung für junge Frauen.
Sie war dünner, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, und wirkte schüchtern und niedergedrückt. Als ich ihr von Tracys Buch erzählte, starrte sie zu Boden. Sie gab zu, dass sie mit vierzehn eine Affäre mit ihm begonnen und diese erst wenige Monate vor meinem Besuch bei ihr geendet hatte. Sie schilderte mir, wie Tracy sie umworben und verführt und schließlich genötigt hatte, ihre Beziehung geheim zu halten, doch sie gab sich selbst die Schuld an allem. Ich versprach ihr, dafür zu sorgen, dass Tracys Roman niemals veröffentlicht wurde. Sie flehte mich an, ihn nicht anzuzeigen, und ich beruhigte sie, dass ich das Problem auf eine sehr viel einfachere Art zu lösen beabsichtigte.
Der Tod war ein Thema, über das ich zu jener Zeit viel nachgrübelte. Ich hatte noch nie jemanden getötet, beschäftigte mich jedoch häufig mit dem Gedanken, testete die Anpassungsfähigkeit meiner moralischen Grundsätze und Grenzen, in der Hoffnung, genügend Spielraum für Komoris Tod zu finden. Es war unerlässlich, dass ich mich darauf einstellte. Das war Teil meiner Vorbereitungen, meiner Ausbildung, und so verfiel ich in einen Geisteszustand, in dem das Individuum seinen Wert verlor und meine Fantasie von Fiktion, Scham und Eifersucht genährt wurde.
Ich hatte einen Plan, den die Überzeugung, dass ich ihn niemals in die Tat umsetzen würde, leichter zu ertragen machte. Ich würde das Schicksal herausfordern und prüfen, wie nah ich meinem Ziel kommen würde.
Tracys Manuskript lag ein Brief bei, in dem eine Adresse vermerkt war. Es war nicht die, wo ich ihm fünf Jahre zuvor aufgelauert hatte. An diesem Freitag machte ich früher Feierabend, stellte mich vor seinem Haus auf die gegenüberliegende Straßenseite und wartete in der Kälte. Nach einer Weile bog er eiligen Schrittes um die Ecke, den Kragen hochgeschlagen, den Kopf gesenkt. Ich huschte über die Straße und rannte buchstäblich in ihn hinein, sodass seine Aktentasche in hohem Bogen auf dem Bürgersteig landete. Nun mag dies alles stark an meinen ersten Versuch, ein unerwartetes Treffen zu initiieren, erinnern, doch diesmal war mein Plan besser durchdacht, rücksichtsloser, weniger subtil, und meine Entschlossenheit unerschütterlich. Das Ergebnis war angenehm zufriedenstellend. Er entschuldigte sich reflexartig für seine Ungeschicktheit, erst dann erkannte er mich. Es war sein Vorschlag, irgendwo im Warmen zusammen etwas trinken zu gehen, damit wir uns nicht auf der Straße unterhalten mussten und uns dabei womöglich erkälteten.
Im Feierabendgetümmel der Bar fielen wir kein bisschen auf. Wir fanden einen freien Tisch in einer Ecke und ich erhaschte im Spiegel einen kurzen Blick auf mich, übertrieben zurechtgemacht (auch aus Gründen der Tarnung) und ausgerüstet mit dem naiven Selbstbewusstsein der Unerfahrenheit. Tracy roch nach Winter und putzte seine beschlagene Brille, dann griff er gierig nach seinem Glas. Seine unruhigen Hände wirkten eine Spur zu weich und jungenhaft, doch an seinen Fingern sah ich Nikotinflecken. Er war nervös. Wahrscheinlich war er schon immer so gewesen.
Als ich seine Frage nach meiner Arbeit beantwortete, konnte er kaum an sich halten und erzählte mir von seinem Buch. (Interessanterweise log er, was die Handlung betraf.) Ich versprach ihm, die Augen offen zu halten und dafür zu sorgen, dass es auf dem Schreibtisch eines Lektors landete.
Während die Wärme des Lokals in seine Knochen überging und der Alkohol in sein Blut, begann Tracy sich zu entspannen. Wir plauderten über alles Mögliche, unter anderem über seine Arbeit als Lehrer, von der er das Gefühl hatte, dass sie ihn nicht weiterbrachte. Wir lachten über die Geschichte mit der Unterwäsche und, ohne dass ich ihn dazu drängen musste, entschuldigte er sich für sein Verhalten an dem Tag, als ich ihm gefolgt war. In seiner Stimme lag nicht die Spur eines Vorwurfs. Er war sichtlich betrunkener als ich.
In diesem Moment hätte ich mich zurückziehen sollen. Ich hatte meinen Spaß gehabt und es mit meiner Mutprobe weit genug getrieben, es gab keinen Grund mehr weiterzumachen. Ich hätte einfach gehen und ihm in der Woche darauf einen Brief schreiben können. Ich hätte ihm mitteilen können, dass ich, sollte sein Buch jemals an die Öffentlichkeit gelangen, als Zeugin aussagen würde, sodass er wegen Unzucht mit Minderjährigen ins Gefängnis wanderte. Doch ein Echo meiner alten Verliebtheit hielt mich zurück. Oder vielleicht war auch mein Ehrgeiz in diesem Spiel erst jetzt richtig erwacht. Ich konnte noch viel weiter gehen.
Zwei Drinks später begann er zu lallen und ich war auch alles andere als nüchtern. Ich schlug vor, irgendwo etwas essen zu gehen, der Rest ging von ihm aus.
Als wir hinaus auf die Straße stolperten, verkündete Tracy, ihm sei kalt und er würde gern kurz in seiner Wohnung haltmachen und sich etwas Wärmeres überziehen, wenn ich nichts dagegen hätte. Ich folgte ihm die Treppe hinauf in sein Apartment. Es war eine triste Einzimmerklitsche mit separater Küche und Badezimmer. Das Sofa diente gleichzeitig als Bett und war nicht zusammengeklappt worden. Die Wände verschwanden hinter Bücherregalen.
Nachdem er die Tür hinter uns geschlossen hatte, drückte er mich sanft gegen die Wand und küsste mich. Es hätte beinahe romantisch sein können; es hätte beinahe die Erfüllung meines Schulmädchentraums sein können. Doch die unterschwellige Aggressivität, mit der er seinen Schritt an meine Hüfte drängte, rief mir ins Gedächtnis, warum ich hier war; wie weit würde ich noch gehen? Er hatte etwas widerwärtig Opferartiges an sich und gleichzeitig etwas Grausames; all das verband sich in meinem Magen zu einem Gefühl von Abscheu. Seine Hände glitten unter meine Kleidung, während er mich langsam zum Bett schob. Mit ungeahntem Geschick entledigte er mich meines Rocks.
Ich stieß ihn grob von mir weg. Doch es war nicht die energische Geste, die ihn innehalten ließ, sondern der Ausdruck in meinem Gesicht. Dies war der Punkt, an dem ich kapitulierte. Weiter würde ich nicht gehen. Da fing er an zu weinen.
Staunend stand ich daneben, während er sich schluchzend in seinem Selbstmitleid erging. »Ich sollte sterben«, wimmerte er. »Ich sollte sterben für das, was ich getan habe.«
Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob er irgendwie den Grund meines Auftauchens erraten hatte. Ich war wirklich kurz davor gewesen, einen Rückzieher zu machen, doch jetzt hatte er mich wieder am Haken, hatte den Feigling in mir herausgefordert. Neuer Mut keimte in mir auf. Ich konnte noch weiter gehen. Ich musste es. »Sei nicht zu hart mit dir«, gurrte ich versuchsweise. Ich konnte definitiv noch ein bisschen weiter gehen.
»Wenn du erst das Buch gelesen hast, dann weißt du, was ich meine«, sagte er.
»Ich weiß es bereits«, erwiderte ich und ergriff seine Hände. »Ich weiß alles.« Energie schoss durch meine Adern. Ich schlang die Arme um ihn und küsste ihn auf den Hals. »Ich weiß alles.«
»Ich sollte sterben«, jammerte er weiter.
Ich zog eine lange Haarnadel aus meiner Hochsteckfrisur und setzte sie knapp vier Zentimeter hinter seinem Ohr an, genau an der Stelle, wo die Nackenwirbelsäule in den Schädelknochen übergeht. Das Ende der Nadel hatte ich vor unserem Treffen sorgfältig angespitzt. Alles, was sein Leben nun noch von seinem Ende trennte, waren ein bisschen weiches Gewebe und meine Nerven. Ich küsste ihn auf den Hals und er schluchzte.
All jenen, die noch nie einen Menschen getötet haben, muss die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens wie ein unüberwindbares Bollwerk erscheinen. Es liegt etwas Primitives darin, den Willen zu einem Mord aufzubringen. Die Entscheidung, die reine Fantasie des Tötens in die Tat umzusetzen, ist grausam und entmenschlichend, sie folgt der Logik eines unterentwickelten Verstands. Ich hielt die Luft an und sprang.
Mit einer kleinen, ruckartigen Bewegung senkte sich die Haarnadel in seinen Hals und sein Körper schien sich in eine schwere Flüssigkeit zu verwandeln, die durch meine Arme zu Boden rann. Vor Panik schrie ich auf. Er starrte mich an, versteinert, wie in einem Traum, in dem man nur zusehen, nicht aber handeln kann. Ein Gefühl von Ruhe und Akzeptanz erfüllte ihn. Es lag etwas Einfaches, beinahe Reines, in dem Wohlwollen und der Wärme, die er für die junge Frau empfand, die dort in Strumpfhosen vor ihm stand, ihr Rock neben ihr auf dem Boden. Er wünschte ihr alles nur erdenklich Gute auf dieser Welt. Endlich konnte er sich entspannen, seinen Kopf frei bekommen, und mit einem Mal saß er in einem großen, schwach erleuchteten Saal mit Holzfußboden und hellen Gemälden an der Wand und durch die Stille drangen Worte an sein Ohr – ein Lied oder ein Gedicht. Sie waren so schön. Ein Jammer, dass er sie nicht aufschreiben konnte.
Ich bekam keine Luft. Würgend unterdrückte ich einen Schrei aus voller Kehle. Ich sagte seinen Namen, aber er regte sich nicht, vielleicht spielte er mir ja nur etwas vor, um mir Angst einzujagen. Ich schüttelte ihn, doch er reagierte nicht. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich und mich eine Woge von Übelkeit erfasste. Ich rannte ins Badezimmer und übergab mich.
Als ich zurückkam, lag er noch genauso da. Eine Minute zuvor hatte er noch vor mir gestanden und geweint. Eine Minute zuvor war er noch am Leben gewesen. Ich hatte kaum die Hand rühren müssen. So wenig trennte jenen Moment von diesem. Und nun würde er nie wieder aufstehen, nie wieder sprechen. Nie wieder Fahrrad fahren.
Ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Noch nie zuvor hatte ich so heftig geweint. Es klang künstlich, doch es war niemand da, der meine Vorstellung gewürdigt hätte. Und noch während ich weinte, ordnete ich meine Gedanken. Als ich nach meiner Haarnadel griff, quoll sein dunkles Blut aus der Wunde, rann auf den Boden und breitete sich dort aus wie eine langsam erblühende Blume, üppig und rot. Von Weinkrämpfen geschüttelt, schrubbte ich die Toilette, um alle Spuren meines Erbrochenen zu beseitigen, und wischte anschließend über jede Oberfläche, die ich erreichen konnte. Mehr konnte ich nicht tun. Dann verließ ich die Wohnung und zog die Tür hinter mir zu. Ich ging nach Hause, legte mich ins Bett und weinte in meinen Träumen. Als ich wieder erwachte, war ich erwachsen. Ich trug eine größere Bürde als zuvor, aber ich war stärker; ich hatte dazugelernt. Wenn du ein Leben ausgelöscht hast, zerbrichst du entweder an dem Schmerz, sobald dir die Schwere deiner Tat bewusst wird, oder du schlägst eine neue Seite auf und machst einfach weiter. Doch niemals wirst du der neuen Gewissheit entfliehen, dass weder Gott noch die allzu leicht veränderlichen Gesetze der Menschen ein Leben beschützen können; unser Dasein, so fragil, wird durch nichts geschützt als durch unser Vertrauen in das Gute – eine Lage so dünn wie Zellstoff. Der Tod lauert in jedem von uns.
Ich schickte das Manuskript mit einer Standardabsage zurück an Tracys Adresse.