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DAS BUCH IM KLAVIER

»Du warst ja wirklich schnell am Telefon«, sagte ich.

Wir blieben an einer Ampel stehen und warteten auf Grün.

»Das war Zufall, ich hatte gerade mein Handy wieder eingeschaltet; es stand auf lautlos.«

»Warum schaltest du dein Handy ein, wenn du in eine Bibliothek gehst?«

»Ich wollte gar nicht reingehen. Schließlich habe ich erst zehn Minuten Pause gehabt und bin seit neun Uhr hier. Ich wollte warten, bis du weg bist, und dann irgendwo einen Kaffee trinken. Ich bin nur ans Telefon gegangen, weil ich mich in einem Moment geistiger Umnachtung gewundert habe, wer mich von einer ausländischen Nummer aus anruft.«

Ich lachte. Sie lachte.

»Soll ich dich lieber allein Kaffee trinken lassen und ein andermal anrufen?«

»Nein, jetzt hast du mich sowieso komplett aus meiner Arbeit rausgebracht. Ich brauche eine Pause.«

Wir gingen die 42nd Street entlang und stiegen am Grand Central in die U-Bahn. Dann nahmen wir die 6 bis zum Astor Place. Dort stiegen wir aus und ich trat hinter Beatrice auf die Straße.

»Was machst du eigentlich beruflich?«, wollte sie wissen. Sie schien sich mit ihrer Situation abgefunden zu haben und mit einem Mal lief alles viel lockerer.

»Ich arbeite für eine Bank.«

»Oh, ein englischer Bankier? Wie vornehm.«

»Nein. Ich organisiere Sprachkurse für Bankangestellte. Aber das ist nur ein Job. Damit ich meine Miete zahlen kann, während ich mich im Schriftstellersein übe.«

»Du bist Schriftsteller?«

»Ich übe noch.«

»Und was schreibst du?«

»Geschichten.«

»Was denn für welche?«

»Alles Mögliche. Kurzgeschichten, lange Geschichten. Über Sachen, die mir so einfallen, oder ich lasse mich von Dingen inspirieren, die passieren oder die Leute gesagt haben.«

»Ist schon mal irgendwas von dir veröffentlicht worden?«

»Nur ein paar Kurzgeschichten.«

»Brauchen viele Bankangestellte Sprachkurse?«

»Ich lebe in Frankreich und die Unternehmen da setzen ihre Leute ziemlich unter Druck damit, dass sie genauso gut auf Englisch verhandeln können müssen wie auf Französisch.«

»Ja«, sagte sie, als wüsste sie genau, wovon ich spreche. »In dieser Straße gibt es keine Nummer 44½.«

»Wie bitte?« Zu meiner Überraschung schien sie meine Enthüllung, dass ich in Frankreich lebte, kein bisschen zu interessieren.

»Das hier ist die East 6th Street.«

»Ich dachte, wir gehen Kaffee trinken.«

»Ach so, ich dachte, das wäre nur ein Vorwand gewesen, damit ich mitkomme.«

»Na ja, war es auch, aber ich wollte dich eigentlich erst beim Kaffee dazu überreden mitzukommen.«

»Tja, dann sollten wir wohl einfach Kaffee trinken gehen, hier gibt es nämlich keine Nummer 44½. Siehst du? Da sind 42, 44 und 46. Und da drüben 43 und 45. Keine 44½.«

»Sieht aus, als hättest du recht«, stimmte ich ihr zu. »Was soll 44½ überhaupt für eine Hausnummer sein?«

»So was machen manche Leute hier.«

»Echt?«

»Jepp. Vielleicht sollten wir aber noch kurz in der 8th Street nachsehen, wenn wir schon mal in der Gegend sind.«

»Gern, da wir nun schon mal hier sind.«

»Tally-ho!«, rief sie.

Überrascht blickte ich sie an. »Hast du gerade Tally-ho gesagt?«

»Klar, du bist doch Brite.«

»Ich weiß. Aber kein Brite sagt Tally-ho.«

»Wer denn dann?«

»Keiner.«

»Stimmt doch gar nicht. Das ist absolut englisch. Dein Volk hat Tally-ho erfunden!«

»Vielleicht haben die Leute das in den Zwanzigerjahren gesagt, aber wahrscheinlich war es schon nach dem Krieg total veraltet.«

»Hör sofort auf, du zerstörst noch mein ganzes Bild von deinem Land.«

Die East 8th Street hieß auch St. Mark’s Place und Beatrice stöhnte: »Ach ja, natürlich«, als wäre es ein Skandal, dass sie nicht gleich darauf gekommen war. Es gab dort tatsächlich ein Haus mit der Nummer 44½. Es hatte eine rote Tür mit vier Klingelknöpfen an der Wand daneben.

»Was meinst du, welcher ist es?«

»Der oberste«, erwiderte Beatrice, als sei das offensichtlich.

»Woher willst du das wissen?«

»In dem Brief stand doch, dass es die Wohnung im obersten Stockwerk ist.«

»Aber was ist, wenn die Klingeln umgekehrt angebracht sind und zum obersten Stockwerk die unterste Klingel gehört?«

»Hast du irgendwie ein paar Gehirnwindungen zu viel abbekommen?«

»Kann sein«, sagte ich.

»Es ist die oberste. Glaub mir.«

Ich wartete ab und starrte auf den Knopf. Als mir nun tatsächlich nichts anderes übrig blieb, als zu klingeln, wollte ich mit einem Mal nicht mehr. Ich überlegte, ob ich auf Cat warten sollte, verwarf die Idee aber gleich wieder. Dann fiel mir etwas viel Wichtigeres ein, das mich vor dem Klingeln bewahren würde.

»Französischer Wein. Ich sollte doch eine Flasche Wein mitbringen«, platzte ich heraus.

»Und, hast du welchen dabei?«

Ich klopfte meine Tasche ab, als könnte sich darin wirklich eine Flasche befinden, die ich bloß vergessen hatte. »Nein.«

»Dann brauchen wir wohl einen Laden.«

»Einen Weinladen«, fügte ich hinzu.

»Hier lang.«

Zehn Minuten später standen wir wieder vor der Tür von St. Mark’s Place 44½ und diesmal hatte ich eine Flasche Wein in der Tasche. Ich sah Beatrice an, beschloss, kein Feigling mehr zu sein, und drückte auf die Klingel.

Ein Klicken ertönte und gleich darauf ein Summen. Beatrice öffnete die Tür und hielt sie für mich auf. Ich warf ihr einen Blick zu, der Wie bitte? besagte, und sie bedeutete mir mit ihren Augen, mich gefälligst zu sputen.

»Wo lang denn?« Werden wir nicht alle ein bisschen unselbstständig, wenn wir das Gefühl haben, dass jemand anderes schlichtweg besser darin ist, für uns die Entscheidungen zu treffen, selbst bei den einfachsten Dingen?

»Nach oben.«

»Ah ja.«

Wir stiegen bis in den obersten Stock hinauf und ich klopfte.

Eine Frau kam an die Tür und begrüßte uns mit: »Oh, hallo«, als hätte sie jemand anderen erwartet, und schenkte uns ein zweckmäßiges Lächeln.

»Hi«, grüßte ich zurück. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber Sie könnten mir möglicherweise mit etwas weiterhelfen.«

»Ja, bitte?«

»Es ist ein bisschen kompliziert zu erklären, aber …«

»Wenn Sie irgendetwas verkaufen wollen, sparen Sie uns allen bitte die Zeit – ich bin nicht interessiert.«

»Nein, ich möchte Ihnen nichts verkaufen, ich versuche nur, etwas zu finden, was jemand hier versteckt hat.«

»Sind Sie von den Zeugen Jehovas?«

»Nein. Also, ich zumindest nicht«, erwiderte ich.

»Ich bin Atheistin«, fügte Beatrice hinzu.

»Sind Sie eine Zeugin Jehovas?«, fragte ich die Frau. Ich wollte möglichst aufgeschlossen rüberkommen.

»Ich bin Jüdin«, entgegnete sie.

»Oh, wenn ich gläubig wäre, dann wäre ich auch Jüdin«, rief Beatrice, als wüsste sie die richtige Antwort auf eine Quizfrage.

Sollte ich überhaupt einen Plan gehabt haben, wie ich die komplizierte Situation einer völlig Fremden an ihrer Wohnungstür erklären wollte, dann war er in diesem Moment gescheitert.

»Oh Mann«, seufzte ich und ergab mich der Absurdität des Augenblicks. »Da fällt mir was ein.« Ich zog das Visa-Antragsformular, das ich am Flughafen mitgenommen hatte, aus der Tasche. »Dann werden Sie beide erfreut sein zu hören, dass alle ehemaligen Nazis, die nicht schon über die amerikanische Staatsbürgerschaft oder ein Visum verfügen, gebeten werden, bei der Einreise ihre Verbrechen zu gestehen.« Ich hielt das Formular hoch, damit die zwei mitlesen konnten, während ich zitierte: »… waren Sie zwischen 1933 und 1945 in irgendeiner Weise an Verfolgungsmaßnahmen in Zusammenhang mit dem Naziregime oder dessen Verbündeten beteiligt?«

»Was ist denn das?«, wollte die Frau wissen.

»Das Formular, das man bei der amerikanischen Grenzkontrolle ausfüllen muss. Sieh sich einer diese Fragen an.« Ich deutete auf das Blatt Papier.

»Leiden Sie an einer ansteckenden Krankheit?«, las Beatrice vor.

»Waren Sie jemals oder sind Sie gegenwärtig an Spionage- oder Sabotageakten, an terroristischen Aktivitäten oder an Völkermord beteiligt?«, fügte die Frau trocken hinzu.

»Oje, da haben Sie mich erwischt«, sagte ich. »Tut mir leid, ich dachte, ich würde irgendwie damit durchkommen, aber nun, da Sie mich so direkt danach fragen, kann ich einfach nicht lügen – ja, ich bin ein Spion. Tja, jetzt ist meine Tarnung wohl aufgeflogen.«

Die Frau starrte mich an – perplex und amüsiert zugleich.

»Und hier.« Ich wusste, ich hätte aufhören sollen, aber die Worte sprudelten einfach aus mir heraus. »›Beabsichtigen Sie, in den Vereinigten Staaten einem Beschäftigungsverhältnis nachzugehen, oder wurden Sie jemals vom Aufenthalt in den USA ausgeschlossen und abgeschoben, oder wurden Sie aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen oder haben Sie sich aufgrund von Täuschung oder Falschangaben ein Visum oder Zutritt zu den Vereinigten Staaten verschafft oder haben den Versuch dazu unternommen?‹ Wie viele Fragen auf einmal sind das denn?«

»Fünf«, antwortete Beatrice.

»Wie kannst du das so schnell sagen?«, fragte ich.

»Ich kann eine ganze Menge«, erwiderte sie.

»Tja, also ich bin eigentlich gerade ziemlich beschäftigt«, sagte die Frau und wollte sich schon in ihre Wohnung zurückziehen, doch ein Anflug von Neugier hielt sie davon ab, die Tür komplett zu schließen. »Was wollten Sie denn nun eigentlich?«

»Oh, tut mir leid«, sagte ich schnell. »Ich glaube, Sie haben vielleicht etwas für mich oder jemand hat etwas bei Ihnen gelassen, das Sie mir aushändigen sollen.«

»Mir hat niemand etwas für Sie gegeben.«

»Vielleicht ist es auch irgendwo in Ihrer Wohnung versteckt.«

Die Frau hielt einigermaßen verwirrt inne. »Ich versichere Ihnen, dass niemand irgendetwas in meiner Wohnung versteckt hat«, erwiderte sie und begann langsam (wenn auch ein kleines bisschen widerstrebend) ihre Wohnungstür zu schließen.

»Er hat einen Hinweis bekommen, dass er hierherkommen und Ihnen eine Flasche Wein mitbringen soll«, platzte Beatrice heraus.

»Was?«

Ich öffnete meine Tasche. »Hier, der ist für Sie.« Ich hielt ihr die Flasche hin und die Frau starrte darauf, umklammerte jedoch weiter entschlossen die Tür.

»Es ist französischer«, fügte Beatrice hinzu.

»Woher wissen Sie, dass ich französischen Wein mag?«

»In dem Hinweis stand, dass es französischer sein sollte.«

»Was für einem Hinweis denn?«

»Kennen Sie jemanden namens Tomomi Ishikawa?«

»Tommy wer? Von dem habe ich noch nie gehört.«

»Es ist eine Sie«, berichtigte ich sie.

»Erinnere mich bitte daran, dir später noch was zu dem Namen zu erzählen«, sagte Beatrice zu mir.

Ich hielt inne und blickte sie an, doch ihr Gesichtsausdruck schien mich zu drängen: Na los, weiter, also machte ich weiter. »Tomomi Ishikawa war eine Freundin von mir«, fuhr ich fort. »Sie ist gestorben, aber sie hat mir eine Reihe von Hinweisen hinterlassen, die mich zu allen möglichen Dingen führen, die sie versteckt hat. Es ist so eine Art Schatzsuche.«

Die Frau warf mir einen finsteren Blick zu. »Und was hat das mit mir zu tun?«

»Zeig ihr, was du im Bryant Park gefunden hast«, forderte mich Beatrice auf.

Ich holte den Umschlag heraus und reichte ihn der Frau.

Während sie erst die Wegbeschreibung und danach den kleinen quadratischen Zettel las, starrten Beatrice und ich einander an und führten ein nonverbales Gespräch, dessen Inhalt sich jedoch größtenteils meinen kognitiven Fähigkeiten entzog. Die Frau warf einen Blick auf die Rückseiten der Zettel, untersuchte den Umschlag und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Und das haben Sie im Bryant Park gefunden?«

»Ja. Und ich bin mir sicher, dass es für mich ist, weil mein Name auf dem Umschlag steht.«

»Das ist Ihr Name?« Die Frau zog abermals die Stirn kraus. »Klingt ja wie aus einem Roman von Dickens.«

Beatrice prustete los und die Frau wirkte zufrieden über diese unerwartete Anerkennung ihrer geistreichen Bemerkung.

Jetzt war ich derjenige, der finster dreinblickte. »Eigentlich stammt er aus dem Hebräischen«, merkte ich an, um meine intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren (obwohl das alles war, was ich über die Herkunft meines Namens wusste).

»Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen soll«, sagte die Frau. »Ich verstehe zwar absolut nicht, warum, aber das hier scheint die richtige Adresse zu sein und ich habe ein Klavier und ich liebe französischen Wein. Ich liebe Frankreich, um genau zu sein.«

»Ach. Ich lebe in Paris.«

»Ich habe auch mal dort gewohnt«, informierte uns Beatrice.

»Was?« Ich war fassungslos.

»Das erzähle ich dir nachher.«

Die Frau sah zwischen uns hin und her und hätte beinahe etwas gefragt, ließ es dann aber doch bleiben.

»Wäre es wohl möglich, dass ich mir mal Ihr Klavier ansehe?«

Sie schüttelte verblüfft den Kopf. »Nein. Hören Sie, mein Klavier wird Ihnen nicht weiterhelfen. Niemand hat dort etwas für Sie versteckt. Es tut mir leid.«

»Es könnte schon ziemlich lange her sein«, gab ich zu bedenken. »Wie lange haben Sie das Klavier schon?«

»Etwa sieben Jahre«, antwortete die Frau. »Ich habe es einer jungen Frau im West Village abgekauft (in der Charles Street, glaube ich). Sie hat damals ihren gesamten Hausstand verkauft.«

Beatrice trat von einem Fuß auf den anderen, als sei sie plötzlich nervös.

»Eher klein, lange glatte dunkle Haare und irgendwie asiatische Gesichtszüge?«, fragte ich.

»Ja.«

»Hmmm.«

»Ich erinnere mich noch gut an sie. Sie war sehr lustig. Wir haben uns Ewigkeiten über alles Mögliche unterhalten, das überhaupt nichts mit dem Klavier zu tun hatte; auch über Frankreich, wenn ich mich recht entsinne.«

»Das war meine tote Freundin.«

»Ich würde Sie beide gerne bitten zu gehen und nie wiederzukommen. Aber Sie haben gerade einen ganz normalen Nachmittag in einen ziemlich interessanten verwandelt und so langsam würde ich selbst gern wissen, ob Sie recht haben oder nicht.«

Ich lächelte zurückhaltend, Beatrice aber strahlte übers ganze Gesicht.

»Das heißt, eigentlich erwarte ich jemanden. Ich hatte Sie für meinen Besuch gehalten. Aber wissen Sie was, in Frankreich muss es doch jetzt schon früher Abend sein. Was halten Sie davon, wenn wir uns ein Glas von diesem Wein genehmigen und einen kurzen Blick auf mein Klavier werfen?«

»Excellente idée!«, sagte Beatrice ohne auch nur den geringsten Akzent und ich lachte.

»Aber ich habe nur zehn Minuten«, warnte die Frau.

Ich sah Beatrice an und sie übermittelte mir ihre telepathischen Glückwünsche dafür, dass ich es durch die Tür geschafft hatte. Ich ließ ihr den Vortritt, als wäre ich ein perfekter Gentleman.

»Hier muss irgendwo ein Korkenzieher sein.« Die Frau streckte die Hand nach der Flasche aus und entkorkte sie fachkundig, bevor sie drei Gläser aus dem Schrank holte. »Sollen wir nach nebenan gehen?«

Sie führte uns in ein Wohnzimmer, in dem sich eine ganze Menge Bücher und ein Klavier befanden. Sie stellte die Gläser auf ein niedriges Tischchen und schenkte den Wein ein. Beatrice und ich setzten uns aufs Sofa.

»Sind Sie Musikerin?«

»Klavierlehrerin«, antwortete die Frau, »aber ich spiele auch privat viel.«

Ich hob mein Glas. »Zum Wohl.« Beatrice und die Frau taten es mir nach.

»Mmm. Gute Wahl«, befand Beatrice.

»Der ist wirklich wunderbar«, bestätigte die Frau aufrichtig.

»Er hat ihn im Weinladen hier um die Ecke gekauft«, verriet Beatrice und ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

»Also haben Sie ihn nicht aus Frankreich mitgebracht«, sagte die Frau lachend und ich bedeutete Beatrice mit den Augen, dass sie alles verdorben hatte.

»Ich habe den Hinweis erst vor einer Stunde gefunden. Ich wusste ja nicht, dass ich einen Wein für alle Fälle hätte einstecken sollen. Außerdem ist mein Gepäck sowieso verloren gegangen.«

»Sie haben Ihr Gepäck verloren?«

»Na ja, eher die Fluggesellschaft«, erwiderte ich. »Dürfte ich mir dann mal das Klavier ansehen?«

»Nur zu«, sagte die Frau, ging mit mir zu dem Instrument und klappte den Deckel auf.

Ich schlug ein paar Tasten an, als hätte ich Ahnung davon.

»Ich fürchte, ich muss mal einen Blick hinter die Verkleidung werfen. Wäre es in Ordnung, wenn ich sie abnehme?«

»Ich bin sicher, Sie wären vorsichtig, aber ich würde es trotzdem lieber selbst machen«, erwiderte die Frau.

»Natürlich, das verstehe ich.«

Sie löste die Verkleidung von der Front des Klaviers. Wir spähten beide hinein und schließlich gesellte sich auch Beatrice zu uns.

»Ich sehe nichts«, stellte Beatrice fest.

»Nein.«

»Der Klavierstimmer hat auch nie irgendetwas Außergewöhnliches gefunden. Wonach suchen wir denn eigentlich?«

»Höchstwahrscheinlich einen braunen Umschlag.«

»Sehen wir doch mal hinter der unteren Verkleidung nach.«

Im vorderen Teil des Gehäuses war nichts zu entdecken.

»Vielleicht hinter dem Resonanzboden?«, überlegte sie dann und ich war erleichtert, dass nicht ich derjenige sein musste, der vorschlug, das Klavier von der Wand abzurücken, um hinter die dortige Verkleidung zu sehen. »Wir müssen es ein Stück vorziehen.«

»Halt«, sagte Beatrice plötzlich, kniete sich hin und schob ihre Hand von unten hinter den hellen Resonanzboden des Instruments. Wir traten aus dem Weg, als sie auf Händen und Knien am Klavier entlang von rechts nach links rutschte, dann hockte sie sich wieder in die Mitte und quetschte ihre rechte Hand rabiat in die schmale Lücke. Ich hörte, wie sie im Gehäuse herumtastete. »Ruft die Feuerwehr. Ich stecke fest!«

»Im Ernst?«

»Quatsch.« Damit zog sie die Hand wieder heraus, erhob sich und überreichte mir triumphierend einen großen, unbeschrifteten braunen Umschlag. Ich nahm ihn entgegen, setzte mich hin und öffnete ihn. Darin war ein Notizbuch, auf dessen Deckel in großen Buchstaben das Wort Komori stand. Ich stürzte den Rest meines Weins hinunter, während die Frau und Beatrice an ihrem nippten und mich erwartungsvoll beobachteten.

Ich blätterte flüchtig durch die mit Butterflys blauer Handschrift gefüllten Seiten und schlug das Buch wieder zu.

»Und?«, fragte Beatrice.

»Das ist es.«

»Bist du sicher?«

Ich schlug die erste Seite des Notizbuchs auf und hielt den Hinweis aus dem Park daneben. »Es ist ihre Handschrift.«

Beatrice und die Frau beugten sich vor. Ich ließ sie die Seite eine Weile betrachten und klappte das Buch dann abrupt zu.

»Ich glaube, ich sollte es als Erster lesen«, erklärte ich.

Beide wichen hastig zurück, als ihnen ihre Indiskretion bewusst wurde. Die Frau schenkte uns Wein nach, während ich abermals die erste Seite aufschlug und eine beliebige Zeile las:

Schon seit ich ein kleines Kind war, bereitete Komori mich auf ihren Tod vor …

Ich schlug es wieder zu, steckte es zurück in den Umschlag und stieß einen tiefen Seufzer aus.