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Linie

AUF SCHATZSUCHE

Die Lethargie des nächsten Tages war leichter zu ertragen und ich war ziemlich zufrieden damit, nichts zu tun. Schließlich hatte ich Urlaub; ich konnte machen, was ich wollte. Nach dem Frühstück hielt ich ein kleines Nickerchen; der Tag zog an mir vorbei und trotz halbherziger guter Absichten verließ ich das Haus nicht vor dem späten Abend.

Ich fuhr mit der Linie 2 bis La Chapelle und machte mich auf den Weg durch die schmalen Gassen von La Goutte d’Or. Jugendliche trafen sich an Straßenecken und überall eilten betriebsam Leute zwischen Hauseingängen, Geschäften und Cafés hin und her. Die Luft roch nach Nacht und Sommer, trocken und würzig. Es war nicht gerade die allerschönste Gegend, aber sie war belebt und das gefiel mir.

Ich lief einen Schlenker über die Rue Doudeauville und bog dann ab Richtung Château Rouge, wo mir ein paar Straßenhändler Sonnenbrillen und Gürtel aufzuschwatzen versuchten, bis eine Polizeistreife erschien und das auf Motorhauben präsentierte Sortiment blitzschnell in Tücher eingeschlagen und davongeschafft wurde.

Ich überquerte den Boulevard Barbès und folgte der Rue Poulet, vorbei an zahlreichen Läden mit afrikanischen Haarpflegeprodukten, bis der Weg schließlich am Fuß des Montmartre anzusteigen begann. Am oberen Ende der Straße, dort wo die Rue Poulet und die Rue Myrha aufeinanderstoßen, steht ein schmales Art-déco-Gebäude, in dem vor nicht allzu langer Zeit eine Bar eröffnet hatte. Ich setzte mich auf die Terrasse, bestellte ein Bier und sah mich um. Hier gab es definitiv Schätze zu entdecken.

Bevor das Art-déco-Haus gebaut worden war, hatte an seiner Stelle ein wesentlich älteres gestanden. Vor Hunderten von Jahren hatte im obersten Stockwerk dieses Hauses ein Alchimist gewohnt. Er hatte ein Eigenbrötlerdasein geführt und einen Großteil seiner Zeit damit verbracht, die Umwandlung von Blei zu Gold zu erforschen und Experimente durchzuführen. Eines Tages jedoch, als er schon sehr alt gewesen war, erregte er die Aufmerksamkeit der anderen Anwohner, die bemerkt hatten, dass jeden Tag um elf Uhr ein einzelner Tropfen Gold von der Spitze des Hauses auf den Bürgersteig fiel. Bald versammelten sich schon am frühen Morgen die Menschen vor dem Haus, in der Hoffnung, dieses tägliche Geschenk des Himmels auffangen zu können, und dies ist die wahre Geschichte, die hinter dem Namen dieses Stadtteils steckt. La Goutte d’Or – der Goldtropfen.

Das offensichtlichste Versteck für einen Schatz war ein großer Pflanzkübel auf dem Bürgersteig neben mir.

Um wenigstens halbwegs normal zu wirken, tat ich so, als hätte sich mein Schnürsenkel gelöst, und versuchte beim Bücken, einen raschen Blick unter den Kübel zu werfen, doch diese List brachte mich nicht weiter und so tastete ich ein paar Sekunden später auf Händen und Knien die Unterseite des Kübels ab, in der Hoffnung, dass dort etwas für mich kleben würde – jedoch vergeblich. Als wäre nichts gewesen, setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl und blickte auf die Straße. Ich holte Tomomi Ishikawas Kuli aus der Tasche und stach ihn unauffällig in die weiche Blumenerde, immer wieder, bis ich nach einer Weile, ein paar Zentimeter unter der Oberfläche, auf etwas relativ Festes stieß.

Noch immer bestrebt, einen einigermaßen normalen Anschein zu wahren, schob ich meine Hand in den Blumentopf und zog eine versiegelte Plastiktüte mit einem Briefumschlag darin heraus, dann strich ich die Erde sorgfältig wieder glatt. Auf der Vorderseite des Umschlags stand in vertrauten Druckbuchstaben: Vorsicht beim Öffnen, es könnte etwas rausfallen. Eingewickelt in einen mit blauer Tinte beschriebenen Papierfisch fand ich einen winzigen Goldtropfen, geformt wie eine Träne und mit einem kleinen Ring am spitz zulaufenden Ende. Er war einmal Teil eines Ohrrings gewesen, den ich in der Metro gefunden hatte. Ich hatte den Rest entfernt, bis nur noch der Tropfen übrig geblieben war, und ihn Butterfly geschenkt. Dabei hatte ich ihr die Geschichte des Hauses in der Rue Myrha erzählt, deren historischen Wert sie jedoch recht unhöflich angezweifelt hatte.

Ich musste einfach lächeln. Perfekt, Butterfly. Das war der perfekte Schatz.

Auf dem Zettel stand nur ein einziger Satz in Anführungszeichen:

»Der braune Fluß strömte rasch aus dem Herzen der Finsternis heraus und trug uns zweimal so schnell zum Meer hinab, wie wir für unsere Fahrt stromaufwärts gebraucht hatten; und auch Tomomi Ishikawas Leben verströmte rasch, verebbte, verebbte und floß aus ihrem Herzen zurück in die See der unaufhaltsamen Zeit.«

Es kostete mich erhebliche Mühe, mein Gesicht unter Kontrolle zu halten, so zufrieden war ich mit mir selbst. Dieser Satz war ein Zitat und ich wusste sogar, woher es stammte. Das hatte ich zwar vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass in dem Zitat der Titel des Buches genannt wurde, aber ich fühlte mich trotzdem sehr gebildet.

Zu Hause nahm ich meine Ausgabe von Das Herz der Finsternis aus dem Regal und blätterte sie durch. Schnell hatte ich die Textstelle gefunden. Tomomi Ishikawa hatte den Namen Kurtz durch ihren eigenen ersetzt, als bittere Anspielung auf ihr eigenes schwindendes Leben, das verebbte, verebbte und aus ihrem Herzen floss, während sie dieses Spiel für mich ersann. Dann aber wusste ich nicht weiter. Sollte ich etwa das ganze Buch lesen, auf der Suche nach etwas, das mich in eine weitere Sackgasse hin zu einem von Butterflys dunklen Geheimnissen führen würde?

Verebbte, verebbte – das hatte ich schon mal irgendwo gelesen, und zwar in blauer Handschrift im Deckel genau des Buches, das ich nun in der Hand hielt.

Paris, November 2006

Dies ist ein Geschenk für dein finsteres Herz. Du erinnerst mich an die Gedanken, die verebben, verebben, mir unaufhaltsam durch die Hände gleiten und in mein Gehirn sickern wie eine groteske Offenbarung.

X O X
Butterfly

Ich hatte ihre Widmung für kompletten Blödsinn gehalten. Verebben, verebben … in mein Gehirn sickern.

Ich öffnete den Ordner Mein Gehirn auf ihrem Laptop und klickte auf die Datei Die Offenbarung der Butterfly.

Die Offenbarung der Butterfly

Als die Sonne hinter dem Horizont versunken war und der rote Fleck am Himmel langsam verblasste, bis nichts als ein bleicher, von Straßenlaternen erhellter Schleier verblieb, lief ich gen Süden, auf einen Turm und die Heimat einer verlorenen Generation zu.

Und durch die Wolken drängte sich der anschwellende Mond, voll des Bedauerns, schwer, als wollte er vom Himmel fallen.

Zu meiner Linken hörte ich Stimmen vom Friedhof, es waren die Toten, ihre Lockrufe, zuweilen volltönenden Chorälen gleich und dann wieder in dröhnender Kakofonie, die auf meine Ohren einstürmten und auf meinem Gemüt lasteten: Baudelaire, de Beauvoir, Beckett, Duras, Franck, Garnier, Gainsbourg, Guilmant, Larousse, Maupassant, Sartre, Sontag – wartet. Wartet! Ich bin bald bei euch!

Vor der Glasfassade des Bahnhofs verweilte ich und beobachtete das Kommen und Gehen vergänglichen Lebens. Menschen scharten sich um mich. Zuerst erschien es mir wie ein Zufall, als sei ich in eine Art Versammlung geraten, doch nach und nach richtete sich die Aufmerksamkeit auf mich, erhoben sich Spott und wütendes Geschrei.

Ich hob die Hände, um meinen Kopf zu schützen, und wünschte mir, der Erdboden würde sich auftun und mich verschlingen. Na, mach schon. Worauf wartest du? Doch der Boden tat nichts dergleichen und meine Angst trieb mich zum Handeln.

»Aufhören!«, schrie ich und Stille brandete über den Platz. Ich breitete die Arme aus und die Menschen wichen vor mir zurück. Meine Lippen formten die Worte: »Ihr habt kein Recht, mich zu verurteilen!«, und ein Raunen ging durch die Menge.

Da hob ich sie hoch und trug sie alle vor mir her durch den Bahnhof, vorbei an den Ticketschaltern und den belegten Brötchen, der Uhr und dem Abfahrtsplan, vorbei an den Bahnsteigen und den Hochgeschwindigkeitszügen auf ihren Gleisen, die nach Süden und Westen streben, dem Ozean entgegen, so wie sich Schösslinge auf der Suche nach Tageslicht aus der Erde recken. »Ich werde euch alles zeigen, euch alles sagen und ihr werdet vor Ehrfurcht erstarren, verzaubert von der Illusion.« Wie sonst sollte ich ihnen entkommen?

Höher und höher stiegen wir, bis wir in einen Garten kamen; die Insel der Hesperiden, eine Oase zwischen Wüstenbergen, ein Tor zu einer neuen Welt jenseits der Sargassosee.

Die Menschen glotzten staunend, reglos vor Angst, doch einer von ihnen blieb ungerührt. Er war abgelenkt durch den Anblick des Gartens.

»Ich liebe diesen Ort«, sagte er.

Ich hatte gewusst, dass er kommen würde. Ich hatte mich zu Recht gefürchtet.

»Mein Weg steht fest«, rief ich. »Es ist der Weg der Toten. Verurteile mich nicht dafür. Bitte.«

Aber er hörte nicht auf mich. Nicht weil er meine Worte als unwichtig erachtete, er verstand sie einfach nicht. (Oder verschloss er sich absichtlich gegenüber dem, was er nicht sehen wollte?)

Ich deutete mit dem Zeigefinger. »Alles, was du wissen musst, ist für dich niedergeschrieben worden. Sieh dich nur um. Es ist da.«

Und als er sich umdrehte, stahl ich mich davon, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dicke Wolken zogen auf und die Toten riefen mich zu sich: »Komm schnell.«

Geh nun, fort von hier. Verlass diesen Garten und überwinde den Ozean zu einer Reise in meine Vergangenheit mit all ihren Schätzen, die dort auf dich warten, und ich werde fliehen, bevor der Sturm mich holt.

Schatten schoben sich vor den Mond und der Wind schwoll zu einem Orkan an, der die Bäume zu entwurzeln und den Turm niederzureißen drohte. Der Himmel wird auf uns herabstürzen und die Toten werden sich aus ihren Gräbern erheben, um mich zu sich zu holen, wenn ich nicht zu ihnen gehe.

Bitte geh, bevor es zu spät ist. Wach auf. Wach auf und geh. Wenn der Sturm vorüber ist und die Toten sich wieder zur Ruhe gelegt haben, kannst du zurückkehren.

Der Garten wird satt und grün sein, Blüten werden die Bäume zieren und das Wasser aus dem Brunnen wird kalt durch deine Finger strömen.

Verdammt. Der Turm, der Bahnhof, die verlorene Generation und der Friedhof waren Montparnasse. Oben auf dem Dach des Bahnhofs gibt es einen Garten, den Jardin Atlantique, ich hatte ihn eines Tages im Winter entdeckt, als ich meinen Zug verpasst hatte und eineinhalb Stunden auf den nächsten warten musste. Ich hatte Butterfly davon erzählt, wie er auf allen Seiten von hohen Gebäuden eingeschlossen ist. Hinein gelangt man entweder über eine Treppe im Bahnhofsgebäude oder mit einem der zwei Aufzüge in den Straßen auf der Ost- und Westseite des Gebäudes. Der Garten wird bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen, aber ich kenne noch einen weiteren Weg hinein. In der Mitte der Anlage steht eine Stahlkonstruktion mit dem Namen Insel der Hesperiden. Ich sah auf die Uhr, es war elf. Die Metro fuhr noch.

Ich fuhr mit der Linie 6 bis Montparnasse und durchquerte das Bahnhofsgebäude, vorbei an der Treppe zum Garten, die nun vor einer verschlossenen Tür endete, und trat durch den Osteingang auf die Straße hinaus. Ich lief an dem Aufzug vorbei, der wie ein überdimensionierter Briefkasten mitten auf dem Bürgersteig hockte, links von mir das Le Petit Journal und rechts der SNCF-Hauptsitz. Am oberen Ende mündete die Straße in ein großes Rondell und ich wandte mich nach rechts, ging an der geschwungenen Front des Hotel Concorde entlang und bog schließlich in eine kleine Zufahrtsstraße hinter dem Hotel.

Cat, der plötzlich aufgetaucht war, lief vor mir her die Auffahrt hinauf, und wir hielten uns dicht an der Wand, was mir vernünftig vorkam. Als ich meinen geheimen Eingang erreichte, sah ich mich jedoch einem vier Meter hohen Stahltor mit verzierten Gitterstäben gegenüber, das mir den Weg versperrte. Wieso war mir das noch nie aufgefallen? Cat schlüpfte mühelos hindurch und hielt dann Ausschau nach mir. »Da passe ich nie im Leben durch«, sagte ich zu ihm, machte einen Schritt rückwärts und blickte nach oben, wo die Abstände zwischen den Stäben größer waren. Ohne Schwierigkeiten kletterte ich an dem Tor hoch und überwand die piksigen Dinger, ohne die das Unterfangen geradezu lächerlich einfach gewesen wäre. In etwa zweieinhalb Metern Höhe befand sich im Tor eine Reihe etwas größerer Öffnungen. Als Kind hatte ich mich immer an die Theorie gehalten, dass, bekam man seinen Kopf durch eine Lücke, auch der Rest des Körpers hindurchpasste (wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hatte ich da wahrscheinlich etwas mit den Schnurrhaaren einer Katze durcheinandergebracht, die ja dazu dienen, die Breite ihres Körpers einzuschätzen), allerdings war ich als Kind auch ziemlich dünn gewesen. Noch heute bin ich recht schlank. Ich berührte kaum die Stangen und schon war ich auf der anderen Seite. »Was meinst du, Cat, sind wir gut oder war es bloß verdammt einfach?«

Ich war überzeugt davon, dass es hier Sicherheitskameras gab, gleichzeitig aber ging ich davon aus, dass keiner sie groß beachtete, weil einfach niemand damit rechnete, dass irgendjemand über dieses Tor klettern würde. Vorsichtshalber achtete ich darauf, mich im Schatten zu halten, doch wenn ich zu der Stahlkonstruktion in der Mitte gelangen wollte, musste ich zwangsläufig ein Stück über offenes Gelände. Ich erwog, beherzt über den Boden zu robben, andererseits würde mich das wohl nur noch verdächtiger wirken lassen. Die Insel der Hesperiden ist ein modernes Kunstwerk und zugleich eine Wetterwarte. Sie erhebt sich auf vier Stützen über dem Weg und ihr Herzstück, eine große Metallscheibe, scheint auf irgendetwas ausgerichtet zu sein, obwohl ich keine Ahnung habe, worauf. Die Wolken vielleicht? An jeder der vier Ecken des Gebildes befindet sich ein Messgerät für verschiedene meteorologische Daten: Regen, Windgeschwindigkeit, Temperatur und Luftdruck. Ich hoffte, dass ich nicht auf Teufel komm raus in diesem Park herumbuddeln musste, denn ich mochte ihn schon immer ziemlich gern – einfach, weil er so außergewöhnlich ist. Ich umrundete die Konstruktion auf der Suche nach einem Hinweis. Er war nicht schwer zu finden. Außen an einer der Stützen stand mit schwarzem Filzstift ein Vers in hastigen Druckbuchstaben geschrieben:

Yet let no empty gust
Of passion find utterance in thy lay.
A blast that whirls the dust
Along the howling street and dies away;
But feelings of calm power and mighty sweep,
Like currents journeying through the windless deep.

Das war Butterflys Handschrift.

Ich hatte meine Tasche nicht bei mir und somit auch keinen Stift. Ich las die Zeilen noch einmal und wandte mich dann ab, um zu prüfen, ob sie mir im Gedächtnis geblieben waren. Waren sie nicht. Ich las mir das Gedicht fünfzig Mal laut vor, bis ich mir die Worte eingeprägt hatte. Ich wäre gern noch ein bisschen länger in dem Garten geblieben, denn das musste der Schatz sein, um den es ging, aber ich brauchte so schnell wie möglich Zettel und Stift.

Cat und ich schlichen zurück zum Tor und schlüpften hindurch, während ich mir ununterbrochen das Gedicht vorsagte. Ich betrat das Hotel an der Ecke und fragte an der Rezeption nach einem Stift. Nach meinem heimlichen Kletterabenteuer muss ich ziemlich derangiert ausgesehen haben, aber falls das Hotelpersonal derselben Meinung war, ließ sich zumindest niemand etwas anmerken und man versorgte mich bereitwillig mit Schreibutensilien. Was ich schließlich notierte, war gar nicht so weit vom Original entfernt und die ersten beiden Zeilen hatte ich sogar wortwörtlich getroffen.

Aber dies waren mit Sicherheit nicht Butterflys eigene Worte. Sie musste den Vers irgendwo herhaben. Als ich nach Hause kam, gab ich die erste Zeile bei Google ein und landete tatsächlich einen Treffer. Es war ein Auszug aus einem Gedicht des amerikanischen Dichters und Philanthropen William Bryant, der zudem in den Sockel seiner Statue im New Yorker Bryant Park geprägt war. In den USA.

Na, das ist doch mal ein Hinweis, dachte ich.