KAPITEL 12
DIE FABRIK IN DER CLOUD
Wenn die Industrie ins Internet geht, wird nichts mehr so sein wie vorher.
Mitch Free war zum Arbeiter bestimmt und würde es auch kaum zu mehr bringen. Er wuchs in Tyrone im US-Bundesstaat Georgia auf, einer Stadt mit damals gerade 160 Einwohnern. Sein Vater besaß eine kleine Baufirma, und Mitch half aus, wann immer er Lust dazu hatte. Er ging sechs Wochen lang aufs College, bis er beschloss, dass er kein Englischlehrer werden wollte, und abging. Danach schrieb er sich an einer Technikschule für einen einjährigen Kurs ein und entschied sich spontan für Zerspanungstechnik (der Elektronikkurs, für den er sich eigentlich interessierte, war schon voll). Er war nicht besonders gut darin, aber er schaffte den Abschluss. Danach arbeitete er in einer Maschinenwerkstatt namens Dixie Tool and Die, wo er einen Knopf an einer Stanzmaschine betätigte, die Fensterverkleidungen für Ford-Kleintransporter herstellte. Manchmal polierte er Metallteile von Hand.
Im Jahr 1982 war er 20 Jahre alt, hatte seine Highschool-Freundin geheiratet, und der Rest seines Lebens schien vorgezeichnet.
Dann erkundigte sich sein Chef eines Tages in der Werkhalle nach jemandem, der sich mit CAD/CAM-Design auskannte. Die Ford Motor Company hatte einen größeren Auftrag an die Werkstatt vergeben und verlangte digitale Daten. Free hatte keine Ahnung von Computern, aber er meldete sich trotzdem. Warum? »Mich langweilte der Beruf, den ich mir ausgesucht hatte«, sagt er. Es hatte sich niemand sonst gemeldet.
Er verschlang einige technische Handbücher und fuhr zur Ford-Anlage in Dearborn, um sich dort erklären zu lassen, was der Autohersteller erwartete. Dann begann er, die Konstruktionspläne der Maschinenwerkstatt den Anforderungen entsprechend zu digitalisieren. Er wurde immer besser darin. Anfangs überarbeitete er den Maschinencode von Hand, dann schrieb er ein Programm dafür. Als er lernte, wie man programmierte, wurde ein Schalter in seinem Kopf umgelegt. Er liebte es. Er hatte endlich seine wahre Berufung gefunden. Northwest Airlines hatte eine Wartungseinrichtung in Atlanta, und die Firma stellte Free 1988 ein, um digitale Kopien von Ersatzteilen für Flugzeuge zu erstellen, die der Hersteller nicht liefern konnte, damit die Fluggesellschaft die Teile bei Bedarf selbst herstellen konnte.
Nach einiger Zeit nannte man ihn bei Northwest den »innovation guy«. Er wurde immer besser im Umgang mit digitalen Werkzeugen und baute sogar eine CNC-Maschine, die automatisch Turbinenschaufeln auf Fehler überprüfen konnte. Er holte alte DC-10 aus der Mottenkiste und richtete sie wieder so her, dass sie nach Israel geflogen werden konnten, wo sie gründlich überholt und mit einem Gewinn von über zehn Millionen Dollar pro Flugzeug an eine Leasingfirma weiterverkauft wurden. Ende der 1990er-Jahre war Free technischer Leiter der Fluggesellschaft, und es wurde deutlich, dass allein das Lieferkettenmanagement darüber entschied, ob eine Fluggesellschaft Erfolg hatte oder nicht, also der Einsatz von Lieferanten weltweit, um die richtigen Teile zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu haben.
Free realisierte, dass es um etwas sehr viel Größeres ging, als nur eine Fluggesellschaft effizient zu führen: Der gesamte industrielle Herstellungsprozess wurde durch die digitalen Technologien völlig neu erfunden. Er nahm das Angebot eines Herstellers von CNC-Maschinen an, übernahm die regionale Verkaufsleitung der Firma und kam dabei auch mit anderen Herstellern in Kontakt. Er fand heraus, dass diese Firmen vor allem eines brauchten, mehr noch als eine neue CNC-Maschine: Sie mussten miteinander reden. Also veranstaltete er Geschäftsessen. Dann, eines Tages im Jahr 1999, er kam gerade von einem solchen Essen, hörte er im Radio einen Werbespot von LendingTree.com: »Schreiben Sie Ihre Hypothek aus. Lassen Sie die Kreditgeber gegeneinander antreten.« Er wusste sofort, dass er dasselbe für industrielle Produktion anbieten sollte.
Free erwarb die Domain »MFG.com« für 2000 Dollar, und im Jahr 2000 startete er einen Online-Marktplatz für industrielle Produktion. Die Idee war einfach: Firmen, die etwas herstellen lassen wollten, stellten ihre CAD-Daten auf der Website ein, fügten eine Beschreibung bei über die gewünschten Stückzahlen und alle weiteren notwendigen Anweisungen, und Werkstätten und andere Hersteller gaben ihre Angebote für den Auftrag ab, wie sich die Kreditgeber bei LendingTree für die Vergabe von Hypotheken bewarben. Die Firmen erhielten Bewertungen, und Lieferanten mit sehr guten Bewertungen mussten dann nicht mehr unbedingt die billigsten sein, um Aufträge zu bekommen.
Das war natürlich keine übermäßig originelle Idee. Etwa zur selben Zeit entstanden alle möglichen anderen »Business-to-Business«- oder B2B-Marktplätze, die Ariba, VerticalNet und Commerce One hießen (oder Namen mit »e« am Anfang hatten, von eMetals bis eTextiles), in allen Branchen, von Autos bis Kunststoff. Sie alle wurden vom Traum des »reibungsfreien digitalen Kapitalismus« angetrieben, wie Bill Gates es in seinem Buch Der Weg nach vorn genannt hatte, und sie alle wollten das Lieferkettenmanagement revolutionieren. Viele versuchten es mit einem auf Rückwärtsauktionen basierenden Modell wie eBay, um die Preise zu drücken. Andere repräsentierten mehrere Großeinkäufer einer Branche, die sich zusammenschlossen, um eine ähnlich große Kaufkraft zu erreichen wie Wal-Mart. (In diesem Zusammenhang benutzte ich in The Economist, soweit ich weiß als Erster, den Begriff Polyopson für ein Monopol von vielen Käufern. Darauf bin ich aus unerfindlichen Gründen stolz.)
Im Februar 2000, als MFG.com an den Start ging, gab es bereits über 2500 solcher B2B-Märkte im Internet.49 Dann brach der Markt zusammen, und im Jahr 2004 waren weniger als 200 noch davon übrig. Mehrere Milliarden Dollar an Börsenwerten hatten sich in Luft aufgelöst. Teilweise verantwortlich für den Zusammenbruch war der bekannte irrationale Übermut jener Jahre. Aber viele dieser Dotcom-Ideen waren gar nicht so verrückt, sie waren einfach ihrer Zeit voraus. Viele Firmen waren noch nicht darauf eingerichtet, auf elektronischem Weg einzukaufen; viele steckten damals noch im Faxzeitalter fest. Kein Beschaffungs- oder Buchhaltungssystem war mit den neuen Marktplätzen kompatibel, sodass die Angestellten alles von Hand eintippen mussten. Vor allem aber wollten die Lieferanten gar nicht mitmachen. Warum sollten sie sich einem Wettbewerb stellen, bei dem es darum ging, die Preise so weit wie möglich zu drücken, wenn sie stattdessen die Käufer-Lieferanten-Beziehungen nutzen konnten, die sie über Jahrzehnte hinweg zu ihren Großkunden aufgebaut hatten?
MFG.com war einer der Überlebenden. Weil die Firma erst spät an den Start gegangen war, war sie nicht ganz oben auf der Hype-Welle mitgeschwommen. Es hatte keinen verpatzten Gang an die Börse gegeben und keine großen Spekulationsrunden. Es gab nur Free und ein paar wenige Angestellte in einem Gebäude in Atlanta, die mit Frees eigenem Geld aus dem Nichts eine einfache Website aufbauten. Sie fingen klein an, ohne zu viel Geld oder Druck im Hintergrund, und daher hatten sie Zeit, ihren eigenen Weg zu finden.
Dieser Weg war die Einfachheit. Keine Auktionen, weder rückwärts noch anderweitig. Keine Gruppenkäufe oder Auftragsbündelungen. Kein »reibungsfreier Kapitalismus«. Nur ein Ort, um Dateien hochzuladen und Angebote einzuholen.
Raketentechnik
Es funktionierte. Nach dem Dotcom-Crash entwickelten sich die Geschäfte sehr gut, und Mitte der 2000er-Jahre wurden täglich mehrere Tausend Ausschreibungen eingestellt und Angebote abgegeben. Einige der Anfragen stammten von einer kleinen, ziemlich geheimnisvollen Gruppe aus Kent im US-Staat Washington mit dem Namen Blue Origin, die nach Hochpräzisionsteilen suchten, anscheinend für eine Rakete. Es handelte sich tatsächlich um eine Rakete, und Blue Origin stellte sich als ein geheimes Raumfahrtunternehmen heraus, das der Amazon-Gründer Jeff Bezos gegründet hatte. Die Ingenieure von Blue Origin waren von MFG.com derart beeindruckt, dass sie Bezos darauf hinwiesen, der sich unter falschem Namen bei der Website anmeldete, um sie zu testen.
Während Bezos sich insgeheim auf der Website umsah, verhandelte Free mit Dassault Systèmes, einem französischen Unternehmen für Industrietechnologie, um sie zu verkaufen. Nur zwei Wochen bevor der Verkauf abgeschlossen werden sollte, schlug Bezos zu und reichte ein Gegenangebot ein: Er wollte in die Website investieren, damit Free sie behalten konnte. Er legte noch einmal zwei Millionen Dollar für die Angestellten drauf, und damit war die Angelegenheit besiegelt: MFG.com blieb unabhängig mit Bezos als Hauptinvestor.
Heute ist MFG.com der größte Marktplatz für Spezialanfertigungen der Welt. Die Website hat über 200000 Mitglieder aus 50 Ländern, und bisher wurden dort Geschäfte im Wert von über 115 Milliarden Dollar getätigt, mit derzeit durchschnittlich drei bis vier Milliarden Dollar pro Monat.
Die Geschäfte, die dort abgewickelt werden, sind normalerweise recht alltäglich: Plastikgehäuse aus Spritzguss, maschinell bearbeitete Metallstäbe, Spezialkabel. Aber sie erlauben Free einen unvergleichlichen Einblick in die Welt der industriellen Produktion von heute. Er (und jeder andere, der sich durch die Website durcharbeitet) sieht, wo und von wem Dinge hergestellt werden. Er sieht, in welche Richtung sich Fabrikation und Werkzeuge entwickeln. Er sieht, wie die Amerikaner in China produzieren lassen und wie manche von ihnen in die Vereinigten Staaten zurückkehren; die Deutschen, die in Polen einkaufen, und die Franzosen, die überall einkaufen außer in Deutschland. Es ist ein faszinierender Blick auf die Kultur, die Wirtschaft und die Globalisierung. Die ganze Rhetorik kann man getrost vergessen, denn hier sieht man direkt und ungeschminkt, was die Unternehmen Tag für Tag tun.
Noch interessanter als die Frage, was gekauft wird, ist die Frage danach, wer kauft. Es sind nicht mehr nur die großen Unternehmen, die Spezialteile und -formen von globalen Werkstätten bestellen, sondern auch kleine Firmen: Fahrradhersteller und Möbelschreiner, Elektroinstallateure und Spielzeughersteller. Vor 20 Jahren hätten sie sich mit dem zufriedengeben müssen, was die örtlichen Werkstätten leisten konnten (zu jedem Preis, der verlangt wurde), oder sie hätten in ein Flugzeug steigen und sich der schwierigen Aufgabe stellen müssen, einen Lieferanten in China zu finden, inklusive aller notwendigen Anweisungen, Sprachbarrieren und der Gefahr, dabei über den Tisch gezogen zu werden.
Jetzt können Firmen ihre CAD-Daten einfach hochladen und auf Angebote warten. Sie bekommen die besten Preise und die besten Produkte der Welt, ohne ihren Schreibtisch zu verlassen. Das klingt bekannt? Genau das bot die erste Welle es E-Commerce den Privatkunden. Jetzt erleben wir den Effekt auch in der Industrie.
Warum funktioniert es heute so gut, während es vor zehn Jahren noch schiefging? Die Welt ist jetzt einfach so weit. Die Webgeneration hat die Vorstandsetagen der traditionellen Unternehmen erreicht, und die digitalen Produktionsmethoden, die Free faszinierten, sind heute allgemein verbreitet. MFG.com hat heute Erfolg, während so viele B2B-Marktplätze vor zehn Jahren untergingen, weil heute in der gesamten Versorgungskette der Industrie dieselben Datenformate verwendet werden, von CAD bis Elektronik. Die Transaktionskosten für einen Vertragsabschluss sind gesunken, weil die sprachlichen Barrieren weitgehend weggefallen sind. Alle sprechen dieselbe Sprache der digitalen Fertigung. Das ist alles. Es fehlte nur die gemeinsame Plattform, damit der Traum eines hypereffizienten B2B-Online-Marktplatzes wahr werden konnte.
Alle technologischen Revolutionen funktionieren auf diese Weise. Diesen Wechsel von Aufschwung, Abschwung und erneutem Aufschwung nannte die Gartner Group den »Hype-Zyklus« eines durch Technologie vorangetriebenen Wandels. Auf den »Gipfel der überzogenen Erwartungen« folgt das »Tal der Enttäuschungen«. Der »Pfad der Erleuchtung« führt schließlich hinauf zum »Plateau der Produktivität«. Die ersten drei Phasen haben wir bereits hinter uns. Jetzt genießen wir die letzte. Wenn ein Geschäftsvorgang zu langweilig wird, um weiter kommentiert zu werden, funktioniert er erst richtig.
Während alle gebannt auf das neueste brandheiße Ding im Social-Media-Bereich starren, bauen Websites wie MFG.com unbemerkt den Turboantrieb in den eigentlichen Wirtschaftsmotor ein: die produzierende Industrie. Schneller, billiger, besser.
Sesam öffne dich
Als ich 1999 in Hongkong als asiatischer Wirtschaftskorrespondent für The Economist arbeitete, lernte ich gleich zu Beginn ein Energiebündel namens Jack Ma kennen, der mich um Rat bei einer neuen Internetfirma bat, die er gerade gründete. Vier Jahre zuvor hatte er bei einer Reise in die Vereinigten Staaten zum ersten Mal einen Webbrowser in Aktion erlebt. Er war völlig überwältigt, wie viele Leute damals. Als er in seine Heimatstadt Hangzhou zurückkehrte, machte er eine Einwahlnummer für den Internetzugang ausfindig, lud ein paar Freunde ein und wartete drei Stunden, bis die erste Webseite geladen war. Es war einfach aufregend: Das Internet existierte in China! Er gründete daraufhin China Pages, die wahrscheinlich erste Internetfirma Chinas, und führte für das chinesische Ministerium für Außenhandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit ein erstes E-Commerce-Projekt durch.
Als Ma zu mir kam, fielen mir als Erstes drei Dinge auf: Erstens war er der winzigste erwachsene Mann, dem ich je begegnet war. Er war nicht nur klein, sondern auch sehr dünn-knochig und dürr. Wahrscheinlich wog er keine 40 Kilo, und das Schwerste an ihm schien sein Kopf zu sein, der wahrscheinlich normal groß war, aber auf seinem Körper riesig wirkte. Zweitens sprach er perfektes Englisch, und sein Gehirn schien tatsächlich sein ganzes Körpergewicht auszumachen. Er war brillant, unglaublich redegewandt und begeistert vom Potenzial des Internets, was man bei Festlandchinesen damals nicht sehr häufig erlebte. Drittens, und das lag wohl an seiner Verbindung zum Handelsministerium, begeisterten ihn weniger die Möglichkeiten, die das Internet für Konsumenten bot, sondern dass durch das Internet kleinere chinesische Industriebetriebe die Sprach- und Kulturbarrieren überwinden und direkt mit Firmen im Ausland Geschäfte machen konnten.
Er wollte von mir wissen, was ich von dem Namen »Alibaba« hielt. »Sie wissen schon«, sagte er, »wie ›Sesam öffne dich‹.« Mir gefiel der Name. Ich riet ihm dazu (auch wenn ich ihm den wenig hilfreichen Rat gab, den Werbeslogan zu ändern), und weg war er.
Heute ist Ma Milliardär. Die Alibaba Group, zu der einige der größten Internetfirmen Chinas gehören, hat mehr als 23000 Mitarbeiter. Das Unternehmen ging 2007 mit Aktien mit einem Ausgabewert von insgesamt 1,7 Milliarden Dollar an die Börse. Es war der größte Börsengang eines Technologieunternehmens an der Hongkonger Börse seit Google. Derzeit überlegt er sich, Yahoo zu kaufen! Als wir uns das letzte Mal in New York trafen, schien er ein bisschen zugenommen zu haben. Jetzt könnte er fast 45 Kilo wiegen.
Alibaba.com ist immer noch Mas Kerngeschäft. Er hat damit alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte, und mehr. Der Internetservice hat über 70 Millionen Nutzer und zehn Millionen »Schaufenster« von chinesischen Firmen und Herstellern in anderen Ländern. Täglich tun Millionen Menschen genau das, was sich Ma zehn Jahre zuvor erträumt hatte: Sie vergeben vom Schreibtisch aus Fertigungsaufträge an Firmen.
MFG.com ermöglichte es für die Maschinenhallen, und Alibaba machte das Modell für alles und jeden zugänglich. Alibaba.com ist wie eBay für die Industrie: Jeder kann für praktisch alles Produktionsaufträge vergeben in jeder Größenordnung. Ich selbst habe spezielle Elektromotoren für ein Roboterluftschiff von einem Hersteller für Spezialmotoren in Dongguan bestellt. Ich lieferte die genauen Angaben, wie lang die Welle sein sollte, über die Anzahl der Wicklungen und welcher Draht verwendet werden sollte, und zehn Tage später wurden die Prototypen zur Ansicht an meine Haustür geliefert. Ich war ehrlich verblüfft. Ich hatte eine chinesische Fabrik dazu gebracht, etwas für mich herzustellen. Was konnte ich mit dieser neu gewonnenen Macht noch alles erreichen?
Der Aufstieg von Alibaba und ähnlichen Websites bietet für Maker Möglichkeiten wie keine andere Technologie. Diese Dienstleister haben die globalen Lieferketten für Käufer aller Art geöffnet, auch für Einzelpersonen, und ihnen die Möglichkeit gegeben, Prototypen in Serienproduktion zu geben.
Das ist nicht allein Alibabas Verdienst, auch Veränderungen in der chinesischen Wirtschaft und Managementkultur haben dazu beigetragen. In den letzten Jahren haben sich chinesische Hersteller besser darauf eingestellt, kleinere Aufträge effizienter auszuführen. Dadurch können Einzelunternehmer in einer Fabrik Dinge herstellen lassen, wie es bisher nur den großen Firmen vorbehalten war.
Zwei Entwicklungen sind dafür verantwortlich: der Ausbau und die zunehmende Ausrichtung chinesischer Geschäftspraktiken auf das Internet. Mit dem Einzug der Webgeneration in die Vorstandsetagen nehmen chinesische Fabriken immer mehr Aufträge online an, kommunizieren mit ihren Kunden per E-Mail und akzeptieren Bezahlungen per Kreditkarte oder PayPal als kundenfreundlichere Alternativen zu den traditionellen Banküberweisungen, Kreditbriefen und Aufträgen. Zweitens übernehmen in der aktuellen Wirtschaftskrise Firmen gern Spezialaufträge mit höheren Gewinnspannen, um die Deflationsspirale im Konsumgüterbereich abzumildern.
Wenn Sie einen Blick in die neue Welt des barrierefreien Zugangs zu Fabriken in China werfen wollen, starten Sie einfach eine Suche auf Alibaba (inzwischen auch auf Deutsch möglich). Wählen Sie eine Firma aus, die ungefähr das produziert, was Sie haben wollen, und fragen Sie dann über Instant Messenger an, ob man dort herstellen kann, was Sie brauchen. Der Instant Messenger von Alibaba übersetzt in Echtzeit zwischen Chinesisch und der ausgewählten Sprache, sodass alle Beteiligten in ihrer Muttersprache miteinander kommunizieren können. Normalerweise bekommt man innerhalb weniger Minuten eine Antwort: Wir können das nicht herstellen; wir können das herstellen, und so können Sie bestellen; wir stellen bereits etwas Ähnliches her, und so viel kostet es.
Ma nennt das »C-to-B« – Consumer-to-Business. Es ist ein neuer Handelsweg, der sich perfekt für die Mikrounternehmer der Heimwerkerbewegung eignet. »Wenn wir Firmen dazu ermutigen, mehr kleine, grenzüberschreitende Aufträge anzunehmen, steigen die Gewinne, weil es spezielle, nicht massengefertigte Waren sind«, meint Ma. Die Zahlen geben ihm recht. In den vergangenen drei Jahren, sagt Ma, seien in China über 1,1 Millionen Arbeitsplätze entstanden durch Firmen, die über die Alibaba-Plattform Geschäfte machen.
Diese Entwicklung vollzieht sich in vielen Ländern, aber am schnellsten in China. Ein Grund hierfür ist die kulturelle Dynamik, die auch zum Aufstieg der Shanzhai-Industrie führte. Der Begriff shanzhai, vom chinesischen Wort für »Bandit« abgeleitet, bezeichnet normalerweise das blühende Geschäft mit Plagiaten elektronischer Produkte aus eigener Produktion. Shanzai.com (manchmal wird das chinesische Wort ohne das zweite »h« geschrieben) drückt die Bedeutung etwas freundlicher aus: »Ein Anbieter, der in seinem Geschäftsgebaren die traditionellen Regeln oder Praktiken oft nicht beachtet, was zu neuartigen oder ungewöhnlichen Produkten und Geschäftsmodellen führen kann.« Aber dieselben Anbieter stellen zunehmend die Herstellung für die Maker-Revolution sicher, weil sie schnell und flexibel genug für die Zusammenarbeit mit Mikrounternehmern sind.
Shanzhai-Hersteller liefern derzeit über 250 Millionen Handys pro Jahr aus, viele von ihnen billige Imitate von iPhones oder Android-Modellen. Viele werden nur in kleinen Chargen von bis zu 10000 Stück hergestellt. Es gibt zahlreiche Variationen, die sich in allem unterscheiden können, vom Aussehen bis zu Produktmerkmalen, um nur irgendwie aus der Masse herauszustechen. (Viele Shanzhai-Handys haben beispielsweise zwei oder sogar drei Steckplätze für SIM-Karten, damit der Benutzer verschiedene Karten benutzen kann für zu Hause, geschäftlich und sogar für Seitensprünge.)
Interessant an Shanzhai ist, wie sehr die Organisationsstrukturen der Produktpiraterie letzten Endes den Strukturen von Open Source ähneln. Wenn Ideen und Technologien erst mal in die freie Wildbahn entlassen sind, entweder durch Piraten oder durch Entwickler, die an Open Source glauben, dann inspirieren sie dieselben gemeinschaftlichen Innovationen. Ideen, die mit anderen geteilt werden, verbreiten sich in aller Regel immer weiter. Menschen, die Ideen mit anderen teilen, arbeiten meist zusammen zum Nutzen aller Beteiligten. Ohne Geheimhaltung sinken die Preise, und es entsteht mehr Verantwortlichkeit.
In einem Gespräch mit dem Institute for the Future erklärte David Li, der Gründer von Xinchejian, dem ersten offiziellen Hackerspace Chinas, warum das Shanzhai-Modell ein Vorbild für offene Innovationen, Mikroherstellung und die Zukunft der individualisierten Industrie ist:
»Shanzhai-Hersteller respektieren geistiges Eigentum nicht und teilen alle Informationen offen miteinander. Keiner der Anbieter in diesem Ökosystem ist groß, und es gibt keinen Riesen, bei dem alle Fäden zusammenlaufen und der das Ökosystem kontrolliert. Jeder treibt alle anderen zum Aufbau eines effizienten Ökosystems der Mikroproduktion an, das schnell und mit geringem Aufwand auf den Markt reagieren kann.«
Nach seiner Beschreibung passen diese Firmen perfekt ins Modell des Institute for the Future für »Lightweight Innovation«:50
- Vernetzen Sie Ihre Organisationen: »Die Anbieter von Fahrrädern in Chongqing treffen sich in Teehäusern, und die Shanzhai-Anbieter in Shenzhen haben ein riesiges Netzwerk rund um die großen elektronischen Kaufhäuser aufgebaut.«
- Belohnen Sie Erfindungsreichtum: »Die geringen Profite pro Stück zwingen die Shanzhai-Gemeinschaften dazu, um jeden Preis nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn sie nicht liefern können, verdienen sie nichts. Dass etwas ›nicht hier erfunden‹ wurde, ist dabei nie ein Problem.«
- Wagen Sie Offenheit: »Im Wilden Westen von Shanzhai geht es vor allem um Offenheit. Firmengeheimnisse der großen Unternehmen liegen hier völlig offen. Alles ist grundsätzlich ›quelloffen‹. Wenn man das Argument [der Rechte am geistigen Eigentum] unberücksichtigt lässt, wird dort die absolute Offenheit praktiziert, die wir in der Welt des Open Source anstreben.«
- Werden Sie aktiv: »Die Shanzhai-Anbieter stellten früher Plagiate her, nachdem die Originalanbieter ihre Produkte auf den Markt gebracht hatten. Aber im letzten Jahr habe ich beobachtet, dass viele schon auf Gerüchte im Internet reagieren, insbesondere wenn sie mit Apple zu tun haben. Es war schon komisch, dass die Shanzhai mehrere großformatige iPhones (18 mal 25 Zentimeter) herstellten, nur weil es Gerüchte gab, das iPad werde aussehen wie ein riesiges iPhone.«
Der Aufstieg der Shanzhai-Geschäftspraktiken »steht auch für einen neuen Ansatz für wirtschaftliche Erholung, die auf kleinen, gut miteinander vernetzten Firmen basiert«, stellt Tom Igoe fest, ein führender Entwickler der Open-Source-Computerplattform Arduino. »Was geschieht, wenn die Industrie diesen neuen Ansatz annimmt? Wir werden es bald herausfinden.«
Die Heimwerkerfabrik
Es gibt noch eine dritte Gruppe von »Fabriken in der Cloud«: die internetbasierten Dienstleister, die mit numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen, Lasercuttern und 3-D-Druckern das anbieten, was Fotodienstleister wie Shutterfly für Bilder anbieten: Man kann die Daten einfach hochladen und bekommt die fertigen Produkte zurück. Diese Dienstleister geben ihren Kunden Zugang zu hochwertiger Fertigung, ohne dass die Kunden die Werkzeuge selbst besitzen müssen.
Ponoko und Shapeways sind wohl die bekanntesten. Der Ponoko-Dienst (für den ich als ehrenamtlicher Berater arbeite) wurde in Neuseeland als Lasercutter-Service gegründet, ist jetzt aber weltweit verfügbar und bietet Laserschnitte, 3-D-Druck und CNC-Zuschnitte an. Das Prinzip ist einfach: Man entwirft etwas am Schreibtisch und lädt die Daten auf eine Website hoch. Dort werden die Daten durch eine Software auf Produzierbarkeit hin überprüft, und der Nutzer kann über geführte Auswahlmenüs genau festlegen, wie er sein Produkt haben will. Eine 2-D-Vorlage kann per Laser aus verschiedenen Materialien zugeschnitten werden, von Kunststoff über verschiedene Holzarten bis zu dünnem Aluminium. Bei einer 3-D-Vorlage kann das Objekt per 3-D-Drucker ausgedruckt oder in einer CNC-Fräse zugeschnitten werden aus einer noch größeren Auswahl an Materialien. Man kann etwas entwerfen und herstellen lassen, das so klein ist wie ein Ring oder so groß wie ein Tisch, und wenn man in der Dateivorlage einen Fehler gemacht hat (was mir dauernd passiert), dann hilft die Software oder ein menschlicher Mitarbeiter, den Fehler zu beheben.
Wie bei einem Fotoservice kann man die Daten auch veröffentlichen und es so anderen erlauben, eigene Kopien zu bestellen. Man kann sogar eigene »Schaufenster« einrichten, sodass man einen Anteil am Gewinn bekommt, wenn jemand etwas in Auftrag gibt, das man hochgeladen hat.
Ponoko besitzt die meisten Produktionswerkzeuge nicht selbst. Eigentlich ist es nur eine Softwareschicht zwischen Konsumenten und Fabrikationsanlagen mit freien Kapazitäten. Die Ponoko-Website erfüllt die schwierige Aufgabe, oft unerfahrene Maker durch die Erstellung der Konstruktionsdaten zu führen und diese in einer Form hochzuladen, die Werkzeugmaschinen verstehen. Der Dienstleister empfiehlt Materialien, kalkuliert Preise und wickelt das Geschäft ab. Dann schickt er die Dateien an einen Hersteller, der sich so nicht direkt mit den Kunden auseinandersetzen muss.
Shapeways bietet dasselbe für 3-D-Druck an mit einer verwirrend großen Auswahl an Materialien, die von gewöhnlichen Kunststoffen und Harzen bis Titan, Glas oder sogar rostfreiem Stahl reichen. Die Kosten werden auf Basis des ausgewählten Materials und der benötigten Stückzahl kalkuliert. Ein Spielzeugsoldat aus Plastik kostet vielleicht 15 Dollar, größere Metallobjekte können 50 Dollar kosten oder noch mehr. Objekte können monochrom gedruckt werden oder farbig.
Ähnliche Dienstleistungsangebote gibt es für Elektronik (bedruckte Leiterplatten), Stoffe und sogar Keramik. Der Urahn all dieser Dienstleister ist die Firma Lego, deren Lego-Digital-Designer-CAD-Programm Kindern genau das mit Lego-Steinen ermöglicht: Man entwirft etwas am Bildschirm und lädt die Daten hoch, aus denen dann spezielle Sets zusammengestellt und an den kindlichen Designer verschickt werden. Diese Sets sehen aus wie offizielle Lego-Produkte. Wenn andere dieses Set bestellen, bekommt der Designer einen Anteil am Gewinn.
All diese Dienstleister, von den Werkstätten von MFG.com über die Billigfabriken von Alibaba bis zur digitalen Herstellung von Einzelstücken über Ponoko und Shapeways, bieten vor allem eines: die Möglichkeit, Objekte vom Schreibtisch aus herzustellen, ohne eigene Werkzeuge zu besitzen oder einen Fuß in eine Fabrik zu setzen. Die globale Produktion arbeitet nicht mehr nur mit bestimmten Größenordnungen. Früher produzierten die Fabriken nur für die größten Firmen mit den größten Aufträgen. Heute produzieren viele von ihnen in allen Größenordnungen. Kleinere Chargen bedeuten natürlich höhere Preise, aber wenn man nur wenige Stück von etwas herstellt, dann ist der Preisunterschied nicht so wichtig im Vergleich zur Möglichkeit, den Gegenstand überhaupt herstellen zu können. Die Lieferketten der Welt wurden endlich für den Einzelnen »impedanzoptimiert«. Jeder kann jetzt alles herstellen.
Diese intelligente Fabrikationssoftware wird bald direkt in CAD-Programme, wie 123D von Autodesk, integriert werden. Wie man heute »Drucken« aus dem Menü einer Textverarbeitung auswählen kann, wird man auch bald »Herstellen« aus dem Menü eines CAD-Programms auswählen können. Darüber hinaus wird man auch noch auswählen können, ob man »lokal« produzieren will, also mit dem eigenen Personal Fabricator, wenn man einen hat (einen 3-D-Drucker, eine CNC-Maschine oder einen Lasercutter), oder »global« in der Cloud über einen Dienstleister. Das Programm wird den Benutzer bei der Auswahl zwischen einer 2-D- oder 3-D-Methode unterstützen und dabei, welche Materialien man aufgrund ihrer Eigenschaften und Preise auswählen soll. Die letzte Eintrittshürde zur Massenproduktion wird gefallen sein. Wir alle werden nur mit einem Mausklick Fabriken dazu bringen, für uns zu arbeiten. Was wollen Sie heute erschaffen?