KAPITEL 3
DIE GESCHICHTE DER ZUKUNFT
Was in Manchester und in der englischen Heimindustrie geschah, hat die Welt verändert. Es könnte wieder geschehen.
Im Jahr 1766 war James Hargreaves, ein Weber aus Lancashire in England, zu Besuch bei einem Freund und sah dort ein Spinnrad zur Seite kippen und umfallen. Das Rad drehte sich weiter, und beim Anblick des Gerätes, das auch in dieser ungewöhnlichen Position weiter funktionierte, hatte Hargreaves eine Vision: mehrere nebeneinander aufgereihte Spindeln, die alle gleichzeitig aus Baumwollfasern Fäden spannen. Kaum war er wieder zu Hause, baute er eine solche Maschine aus Holzresten. Die einzelnen Spindeln waren über eine Reihe Riemen und Spulen miteinander verbunden. Viele Versionen später war schließlich die »Spinning Jenny« erfunden, ein pedalbetriebenes Gerät, mit dem man acht Fäden gleichzeitig spinnen konnte (Jenny war in Lancashire eine umgangssprachliche Bezeichnung für »Maschine«).
Die Maschine erhöhte die Arbeitsleistung eines Arbeiters zunächst um das Achtfache, weitere Steigerungen waren möglich. Und das war nur der Anfang.
Maschinen zur Textilherstellung waren nichts grundsätzlich Neues. Webstühle hatte es schon im antiken Ägypten gegeben, und in China gab es seit 1000 vor Christus Spinnmaschinen für Seide.Das handbetriebene Spinnrad verbreitete sich im elften Jahrhundert in China und der islamischen Welt, und das Fußpedal kam im 16. Jahrhundert auf. Wie Illustrationen in Märchenbüchern beweisen, waren Spinnräder weitverbreitet.
Aber die frühen Maschinen lösten keine industrielle Revolution aus, im Gegensatz zu Hargreaves’ Erfindung, die es tat, zusammen mit der Dampfmaschine und den immer ausgereifteren mechanischen Webstühlen. Historiker diskutieren seit Jahrhunderten über das Warum, sind sich bei ein paar Ursachen jedoch einig. Erstens war Baumwolle, im Gegensatz zu Seide, Wolle und Hanf, für die viele der frühen Maschinen gebaut wurden, eine Ware für jedermann. Sie war die billigste Textilfaser der Welt und in großen Mengen verfügbar. Dies verstärkte sich noch, als die Briten den Rohstoff ballenweise aus allen Teilen ihres expandierenden Weltreiches nach Hause brachten, aus Indien, Ägypten und der Neuen Welt.
Zweitens war die Spinning Jenny mit ihrem Antrieb aus Riemen und Spulen dafür konstruiert, Antriebskraft von einem zentralen Punkt aus auf beliebig viele parallel arbeitende Vorrichtungen zu verteilen. Anfangs wurden die Maschinen mit menschlicher Muskelkraft betrieben, aber mit demselben Prinzip ließen sich auch deutlich stärkere Antriebskräfte nutzen – zunächst Wasser, später Dampf –, um immer mehr Spindeln anzutreiben. Die Vorrichtung war also erweiterbar und in der Lage, stärkere Energiequellen nutzbar zu machen als Arme und Beine.
Die Spinning Jenny erblickte außerdem zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Licht der Welt. Großbritannien erlebte im 18. Jahrhundert eine Renaissance des Geistes. Neue Patentgesetze und -vorschriften schufen Anreize für Handwerker, nicht nur zu erfinden, sondern ihre Erfindungen auch öffentlich zu machen.
William Rosen beschrieb es 2010 in seinem Buch The Most Powerful Idea in the World so:
»Die britische Vorstellung von Ideen als Eigentum war eine der folgenschwersten Konzepte der Geschichte. Gold, Land und jede andere herkömmliche Form von Eigentum sind von Natur aus stark begrenzt. Potenziell verwertbare Ideen jedoch gibt es, wie sich herausstellte, in unbegrenzter Zahl. …
Die industrielle Revolution war in erster Linie eine Revolution der Erfindungen. Es gab nicht nur sehr viel mehr neue Erfindungen, sondern der Erfindungsprozess selbst veränderte sich radikal.«14
Im Juni 1770 reichte Hargreaves einen Patentantrag mit der Nummer 962 ein für eine Version der Spinning Jenny, die gleichzeitig 16 Fäden spann, streckte und verdrehte. Der Patentantrag konnte erst eingereicht werden, nachdem die ersten Prototypen bereits fertig waren. Dadurch nutzten andere die Maschine bereits, als der Patentantrag angenommen wurde, und das erschwerte es Hargreaves, seine Patentrechte durchzusetzen. Schlimmer noch, mit der Spinning Jenny machte er sich auch noch Feinde.
In Hargreaves’ Heimatgrafschaft Lancashire hatten die Handwerkergilden die Produktion über Jahrhunderte hinweg kontrolliert. Man kann sich also vorstellen, wie begeistert die Handwerker dort von der magischen Produktivitätssteigerung durch die Spinning Jenny waren: Sie hassten sie. Als die Garnpreise fielen, formierte sich zunehmender Widerstand unter den Spinnern, und eines Tages drang ein Mob in Hargreaves’ Haus ein und verbrannte 20 neue Maschinen. Hargreaves floh nach Nottingham, wo die boomende Wirkwarenindustrie nach immer mehr Baumwollgarn verlangte. Er starb wenige Jahre später, im Jahr 1778. Seine Erfindung hatte ihm etwas Geld eingebracht, aber reich wurde er nie.
Zur selben Zeit erklärten die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit und dem Mutterland den Krieg. James Watt erfand 1776 die Dampfmaschine. Dass die beiden Ereignisse zeitlich mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zusammenfielen, ist Zufall, dennoch besteht eine Verbindung zwischen ihnen. Es wurde immer schwieriger für Großbritannien, sein Kolonialreich allein durch Rohstoffgewinnung in den Kolonien zu finanzieren, die immer schwerer zu kontrollieren waren. Die Produktion im eigenen Land musste erhöht werden, denn dort war der politische und militärische Aufwand geringer. Mechanische Pflanz- und Erntewerkzeuge hatten die Erträge der britischen Landwirtschaft bereits stark erhöht. Die neuen Maschinen, mit denen landwirtschaftliche Erzeugnisse in Waren umgewandelt werden konnten, um sie dann weltweit zu verkaufen, ermöglichten es dem Land, seine Weltmacht zukünftig auf Handel zu stützen statt auf Gewalt. Die größten Auswirkungen zeigten sich aber zunächst im eigenen Land, wo sich die Landschaft veränderte und der Lebensstandard von Millionen Briten stieg.
Was Revolutionen bewirken können
Was genau ist eine »industrielle Revolution«? Über diese Frage diskutieren Historiker seit dem späten 18. Jahrhundert, als die erstaunlichen Veränderungen bei den Wachstumsraten erstmals auffielen. Der Boom von Industrie und Handel durch die ersten Fabriken hatte die Wirtschaft bereits merklich verändert, aber wie weitreichend die Auswirkungen tatsächlich waren, wurde erst später deutlich, weil es damals noch kaum Statistiken gab. Ab den 1790er-Jahren waren die Auswirkungen aber offensichtlich. Die Bevölkerungszahlen explodierten, und zum ersten Mal in der Geschichte erreichte der Wohlstand auch die Menschen, die nicht zum Land- oder Hochadel oder anderen Eliten gehörten.
Zwischen 1700 und 1850 verdreifachte sich die Bevölkerung Großbritanniens. Zwischen 1800 und 2000 stieg das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen inflationsbereinigt um das Zehnfache. So etwas hatte es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Dieser soziale Umbruch hing offensichtlich mit den Industrievierteln zusammen, die Englands schnell wachsende Städte zunehmend dominierten. Es dauerte allerdings noch eine Weile, bis man herausfand, warum die Mechanisierung zu Bevölkerungswachstum und den anderen Verbesserungen der Lebensqualität führte.
Natürlich lag es nicht nur an den Fabriken. Verbesserte Anbaumethoden und die Einzäunung der Weideflächen, die die »Tragik der Allmende« beendete, trugen einen großen Teil dazu bei. Dank der Entdeckung des Impfstoffs gegen Pocken und anderer medizinischer Fortschritte erreichten mehr Kinder das Erwachsenenalter. Den größten Beitrag jedoch leistete die Industrialisierung.
Fabriken gelten oft als »Satans schwarze Mühlen«, wie der Dichter William Blake es ausdrückte, die die Arbeiter und das Land vergiften, dennoch verbesserte sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung durch die Industrialisierung. Die Menschen zogen aus ländlichen Gemeinden in die Industriestädte und damit von Hütten mit Lehmwänden in Häuser mit Ziegelmauern, die sie vor Feuchtigkeit und Krankheiten schützten. Durch billige Baumwollkleidung aus der Massenproduktion und hochwertige Seifen hatten jetzt auch arme Familien saubere Kleidung und bessere Hygienebedingungen, denn Baumwolle ließ sich leichter waschen und trocknen als Wolle. Zusätzlich erlaubten die höheren Einkommen eine gehaltvollere und abwechslungsreichere Ernährung, und in den Städten gab es zudem einen besseren Zugang zu Ärzten, Schulen und anderen Gemeinschaftsressourcen. Die positiven Lebensbedingungen in dieser Umgebung glichen alle negativen Folgen der Fabrikarbeit mehr als aus. (Die Arbeit in den Fabriken war natürlich hart, die Arbeitszeiten waren lang und die Arbeitsbedingungen schlecht. Aber Statistiken legen nahe, dass die Arbeit in der Landwirtschaft noch schlimmer war.)
Die Lebensbedingungen nach dieser Zeit unterscheiden sich erstaunlich stark von denen vorher. Wir gehen heute davon aus, dass alles immer weiter wächst und die Lebensbedingungen immer besser werden, aber diese Vorstellung ist tatsächlich nur wenige Hundert Jahre alt. Vorher war mehrere Tausend Jahre lang alles mehr oder weniger so geblieben, wie es war: ziemlich schlecht. Zwischen den Jahren 1200 und 1600 erhöhte sich die Lebenserwartung eines britischen Adligen (für die es die meisten Daten gibt) um nicht einmal ein Jahr.15 Zwischen 1800 und heute dagegen hat sich die Lebenserwartung männlicher Weißer im Westen verdoppelt, von 38 auf 76 Jahre. Verantwortlich dafür ist vor allem der Rückgang der Kindersterblichkeit. Aber auch für diejenigen, die die Kindheit überlebten, erhöhte sich die Lebenserwartung in dieser Zeit um etwa 20 Jahre. Einen solchen Anstieg hatte es nie zuvor gegeben.
Die Gründe hierfür sind die vielfältigen Veränderungen, von einer Verbesserung der hygienischen Bedingungen und der medizinischen Versorgung bis zu Urbanisierung und Bildung. Generell kann man aber sagen, dass die Menschen gesünder wurden, als sie reicher wurden. Und sie wurden reicher, weil Maschinen ihre Arbeitsleistung erhöhten, vor allem in der Produktion. Natürlich haben Menschen seit Urzeiten Werkzeuge benutzt, und man könnte argumentieren, dass »Technologien« wie Feuer, der Pflug oder die Haltung und gezielte Züchtung von Nutztieren genauso bedeutsam sind wie die Dampfmaschine. Aber diese landwirtschaftlichen Technologien ermöglichten es lediglich, mehr Menschen zu ernähren. Bei den Maschinen sah die Sache etwas anders aus, denn sie ermöglichten die Herstellung von Produkten, die den Lebensstandard erhöhten, von Kleidung bis Transportmitteln.
Diese Güter wurden weltweit nachgefragt, und sie förderten dadurch den Handel. Der Handel wiederum förderte den Wettbewerb, sodass einzelne Länder das herstellten, was sie am besten konnten, und den Rest importierten. Dadurch stieg die Produktivität insgesamt und sorgte für mehr Wachstum. Dem Aufstieg der Baumwollspinnereien in Manchester folgte schnell die ganze Weltwirtschaft.
Die zweite industrielle Revolution
Der Begriff »industrielle Revolution« wurde im Jahr 1799 von Louis-Guillaume Otto geprägt, einem französischen Diplomaten. Er berichtete in einem Brief über entsprechende Vorgänge in Frankreich (Revolutionen waren damals groß in Mode).16 Auch Friedrich Engels, dessen Kapitalismuskritik Mitte des 19. Jahrhunderts dem Marxismus den Weg bereitete, beschrieb den industriellen Wandel als »Revolution«. Endgültige Verbreitung erfuhr der Begriff im späten 19. Jahrhundert durch den britischen Wirtschaftshistoriker Arnold Toynbee, der eine Reihe berühmter Vorträge darüber hielt, warum diese industrielle Bewegung so große Auswirkungen auf die Weltwirtschaft hatte.
Grundsätzlich aber bezeichnet »industrielle Revolution« eine Reihe von Technologien, die die Produktivität der Menschen drastisch erhöhen und ebenso Einfluss auf die Lebensdauer und -qualität haben wie darauf, wo die Menschen leben und wie viele es von ihnen gibt.
Ein Beispiel: Um das Jahr 1850 kam zum Aufstieg der Fabriken (oder »Manufakturen«, wie sie ursprünglich hießen) eine Welle weiterer technologischer Neuerungen hinzu: die Entwicklung dampfbetriebener Schiffe und Eisenbahnen. Die Erfindung des Bessemer-Verfahrens für die Produktion von Stahl in großen Mengen in den 1860er-Jahren führte zur Massenproduktion von Metallwaren und schließlich zur Fließbandproduktion.
Viele Historiker bezeichnen diese nächste Transformationsphase des Sekundärsektors, die mit dem Aufstieg der chemischen Industrie, der Ölraffination sowie der Verbrennungsmotoren und Elektrizität zusammenfiel, als die »zweite industrielle Revolution«. Sie wird auf die Zeit von 1850 bis gegen Ende des Ersten Weltkriegs datiert. In diesem Zeitraum entwickelte auch Henry Ford die Fertigungslinie für sein Modell T. Neu daran waren die Lager mit austauschbaren Teilen und der Einsatz von Fließbändern, auf denen erstmals die einzelnen Stücke zur Produktion zu stationären Arbeitern transportiert wurden (die jeweils einen Arbeitsgang ausführten), während es vorher genau andersherum gewesen war.
In der vollständig industrialisierten Wirtschaft von heute vergisst man leicht, wie sehr die erste und die zweite industrielle Revolution die Gesellschaft verändert haben. In erster Linie denkt man dabei an die Produktivitätssteigerungen, aber mindestens genauso wichtig ist ihre Auswirkung auf das Leben der Menschen. Als aus den Jägern und Sammlern Bauern wurden, konnte ein einziger Mensch plötzlich viele andere Menschen ernähren. Die Menschen waren nicht mehr wie die Tiere ausschließlich damit beschäftigt, sich selbst und ihre Nachkommen zu ernähren. Jetzt konnte die Arbeit geteilt werden, und jeder tat das, was er am besten konnte. Dadurch standen Zeit und Energie für andere Dinge zur Verfügung, wie den Bau von Städten, die Erfindung des Geldes, um Lesen und Schreiben zu lernen und vieles mehr.
Die Spinning Jenny und ihre Verwandten führten zu einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, einer radikalen Veränderung des wirtschaftlichen Status quo. Seit dieser Zeit geht es bei der Menschheit weniger um Muskelkraft und mehr um Wissen. Unsere Gehirne wurden wertvoller als unsere Muskeln. Gleichzeitig wurden die Menschen reicher und gesünder, sie lebten länger und vermehrten sich explosionsartig. Revolutionen misst man am besten an dem Einfluss, den sie auf das Leben der Menschen haben, und in dieser Hinsicht ist die industrielle Revolution mit nichts anderem vergleichbar.
Der Wechsel von der Handarbeit zur maschinellen Arbeit setzte Arbeitskräfte für andere Aufgaben frei. Ein kleinerer Teil der Gesellschaft wurde nun für die Produktion des Grundbedarfs an Nahrung, Kleidung und Behausung gebraucht, und so konnten mehr Menschen an dem arbeiten, das zwar nicht lebensnotwendig ist, aber unsere Kultur zunehmend bestimmt: Philosophie, Erfindungen, Bildung, Politik, Kunst und Kreativität. Sie schufen die moderne Welt.
Nach Ansicht des Autors Venkatesh Rao wirkte sich dies vor allem auf die Zeit aus. Durch Maschinen konnte schneller und damit mehr in weniger Zeit gearbeitet werden. Die eingesparte Zeit stand dann für anderes zur Verfügung, für Freizeit oder andere Arbeit. Die industrielle Revolution erschuf vor allem einen riesigen Überschuss an Zeit, die dann dazu genutzt wurde, um praktisch alles zu erfinden, das die moderne Welt ausmacht. Vor 400 Jahren arbeiteten fast alle Menschen daran, das Lebensnotwendige zu erzeugen: Nahrung, Kleidung, Unterkunft. Heute tun das nur noch die wenigsten. Rao schreibt:
»Die Dampfkraft half dabei, neue Länder zu kolonisieren, vor allem aber begann mit ihr die Kolonisation der Zeit. Viele haben die Grundlagen des schumpeterianischen Wachstums [ein Verweis auf die Wachstumstheorien von Joseph Schumpeter, die auf Innovation und Unternehmertum beruhen] falsch verstanden und glauben, es würde von Ideen vorangetrieben, nicht von Zeit. Ideen können in Verbindung mit Energie Zeit gewinnen, die dann teilweise für die Entwicklung neuer Ideen genutzt werden kann, die noch mehr Zeit einsparen. Es handelt sich dabei um eine positive Rückkopplung.«17
Die dritte industrielle Revolution?
Es gibt Menschen, die das Informationszeitalter für eine dritte industrielle Revolution halten. Computer und Kommunikation »vervielfachen Kräfte« ebenfalls, sie haben auf Dienstleistungen den Effekt, den die Automatisierung auf die Industrie hatte. Sie verstärken weniger Muskelkräfte als Geisteskräfte. Auch durch sie wird die Produktivität in bestehenden Branchen gesteigert und werden sogar neue Branchen begründet. Die vorhandene Arbeit kann mit ihrer Hilfe schneller erledigt werden, und wir können uns so neuen Arbeiten zuwenden.
Doch bei den ersten beiden industriellen Revolutionen mussten mehrere Technologien über viele Jahrzehnte hinweg zusammenspielen, um ihre volle Wirkung zu entfalten, und so reichte auch die Erfindung der Computertechnik allein nicht aus. Die ersten kommerziellen Großrechner ersetzten ein paar Arbeitskräfte in Buchhaltung und Statistik bei Unternehmen und Behörden; die ersten PCs von IBM übernahmen einen Teil der Büroarbeit. Nichts davon war weltbewegend.
Erst als Computer in Netzwerken zusammengeschlossen und schließlich mit der Mutter aller Netzwerke verbunden wurden, dem Internet, begannen sie, unsere Kultur wirklich zu transformieren. Durch Software haben sich die Dienstleistungen vielfältig verändert, aber die größte Auswirkung werden Computer erst in dem Bereich erzielen, den auch die ersten beiden industriellen Revolutionen transformierten: der Produktion greifbarer Gegenstände.
Der Anbruch des Informationszeitalters, das um 1950 begann, in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren in die Phase der Personal Computer eintrat und in den 1990ern schließlich das Internet erreichte, war sicherlich eine Revolution. Aber es war keine industrielle Revolution, solange es keinen demokratisierenden und verstärkenden Effekt auf die verarbeitende Industrie hatte, und diese Entwicklung steht erst am Anfang. Als dritte industrielle Revolution ist am ehesten die Kombination aus computergesteuerter und manueller Produktion zu bezeichnen: die Industrialisierung der Maker-Bewegung.
Die Transformation der physischen Herstellung durch Computer macht existierende Produktionsabläufe nicht nur effizienter. Sie erweitert den Kreis potenzieller Produzenten erheblich: Zusätzlich zu den bisherigen Fabrikanten werden jetzt auch noch viele normale Menschen zu Unternehmern.
Das klingt vertraut, denn genau dasselbe ereignete sich im Web, das zunächst von Technologie- und Medienunternehmen erobert wurde, die es benutzten, um das, was sie taten, besser zu machen. Dann machten Fortschritte bei Hard- und Software das Web zugänglicher für normale Leute (es wurde »demokratisiert«), und die stürmten das Web mit ihren eigenen Ideen und Fähigkeiten und ihrer Energie. Heute besteht das Web zum Großteil aus Kreationen von Amateuren, Halbprofis und Leuten, die nicht für große Technologie- oder Medienfirmen arbeiten.
Die »Weightless Economy« oder Wissensgesellschaft ist in aller Munde, also der Handel mit Information, Dienstleistungen und geistigem Eigentum statt greifbarer Güter (die Weightless Economy besteht aus allem, »bei dem man sich nicht den Fuß verletzt, wenn es drauffällt«). Doch so groß die Wirtschaft der Bits auch sein mag, der Handel mit immateriellen Informationen macht doch nur einen kleinen Teil der Gesamtwirtschaft aus. Daher hat alles, was den Produktionsprozess verändert, potenziell dramatische Auswirkungen auf die reale Wirtschaft. Genau das geschieht bei einer echten Revolution.
Am Beispiel Manchesters lässt sich zeigen, wie das in der realen Welt ablaufen könnte.
Manchester, gestern und morgen
Die Stadt Manchester wurde geprägt von einem raschen Aufschwung vor langer Zeit und einem quälend langsamen Abstieg seither. Heute trifft man im Industriemuseum und der verfallenen Speicherstadt auf die verlorene Vergangenheit der Stadt: die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der Manchester die größte Industriestadt der Welt war und die Kamine der größten Textilproduzenten der Welt das Stadtbild prägten. Jede Stadt wird von einer bestimmten Zeit geprägt, und in Manchester steht für diese Zeit die Architektur des teilweise restaurierten Northern Quarter, das immer noch von den Ziegelmauern der riesigen viktorianischen Warenhäuser und ehemaligen Fabrikgebäuden bestimmt wird.
Warum nahm die erste industrielle Revolution in Manchester ihren Anfang? Auch in anderen Städten und Regionen, wie Birmingham und mehreren Kleinstädten in Lancashire, gab es früh Fabriken. Doch bot Manchester einige wichtige Vorteile. Es gab dort viele freie Flächen und lockere Bauvorschriften, die es erlaubten, Fabriken und Häuser für Arbeiter zu bauen. In stärker bebauten Städten und Städten mit strengeren Vorschriften, wie Liverpool, wäre das schwieriger gewesen. Mehrere Flüsse und Bäche flossen durch Manchester, sodass die Energieversorgung der ersten mit Wasserkraft betriebenen Spinnereien gesichert war. Der größte Fluss der Stadt, der Mersey, mündet direkt in den Atlantik, sodass Rohstoffe relativ leicht in die Stadt und fertige Waren hinaustransportiert werden konnten. Die Stadt war außerdem gut an das frühe Eisenbahnnetz angebunden, über das Kohle von überall in England und Wales herangeschafft werden konnte.
Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Manchester seine höchste Blüte. In England selbst wurde kaum Baumwolle angebaut, dennoch bekam Manchester den Spitznamen »Cottonopolis«. Die Rohbaumwolle kam ballenweise per Schiff aus fernen Ländern und wurde in magischen Maschinen, die die Baumwolle kämmten, webten und färbten, in Garn, Stoff und schließlich Kleidung verwandelt. Diese Waren wurden dann auf demselben Weg zu den Märkten überall auf der Welt verschifft. Es war ein kleiner Vorgeschmack der Zukunft: Durch globale Versorgungsketten, komparative Vorteile und Automatisierung wurde aus der vorher unscheinbaren Stadt das Zentrum des weltweiten Textilhandels.
Die neuen Produktionsanlagen waren zwar beeindruckend, aber das Versorgungsnetzwerk, das sie belieferte, spielte eine ebenso große Rolle. Größere und effizientere Fabriken benötigten mehr und billigere Rohstoffe, nicht nur Baumwolle aus Ägypten und vom amerikanischen Kontinent, sondern auch Färbstoffe und Seide aus Asien und schließlich Bodenschätze wie Eisenerz und Kohle. Daher sorgte die Dampfmaschine nicht nur in den Fabriken für große Veränderungen, sondern war ebenso für den Aufstieg der Dampflokomotive und den Ersatz von Segelschiffen durch Dampfschiffe verantwortlich. Jeder Teil der Versorgungskette musste effizienter werden, damit die maschinelle Produktion ihre volle Wirkung entfalten konnte.
Die Kanäle von Manchester waren während ihrer Hochblüte die Kommunikationskanäle der ersten industriellen Revolution. Eine effiziente Produktion allein war nicht genug; die Produkte mussten auch effizient verteilt werden. Aus kleineren Kanalprojekten entstand im Jahr 1884 der Manchester Ship Canal, über den Hochseefrachter direkt den Hafen von Manchester anfahren konnten, 40 Meilen von der Küste entfernt. Es war die perfekte Kombination: eine Stadt im Inland mit Raum für industrielle Expansion, die dank des großen Kanals Waren fast genauso effizient verfrachten konnte wie eine Küstenstadt. Die Eisenbahn sorgte inzwischen für eine ebenso gute Anbindung über Land: In Manchester endete eine der ersten Städteverbindungen per Eisenbahn der Welt, die Liverpool and Manchester Railway.
Die ganze Welt beneidete Manchester um seine Vormachtstellung in der Produktion, und Unternehmen weltweit versuchten, dieses Vorbild zu kopieren. Zum Nachteil der Fabriken in Manchester gelang es ihnen. Denn die Firmen aus Manchester verkauften bald nicht nur Kleidung, sondern auch die Maschinen, die Kleidung herstellten. Firmen wie J & R Shorrocks und Platt Brothers waren berühmt für ihre Ingenieurleistung und exportierten ihre Maschinen bald in alle Welt, wo sie kopiert, verbessert und billiger weiterverkauft wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es überall riesige Textilfabriken, von Frankreich bis Amerika. Manchesters technologischer Vorsprung war dahin, und die Stadt wurde schließlich von neuen Industriezentren überholt, die näher an der landwirtschaftlichen Produktion der Rohbaumwolle lagen, vor allem in Südamerika.
Die Fabriken von Manchester stemmten sich lange Zeit gegen diesen Trend durch modischere Designs, höhere Qualität, Markenwerbung und immer neuere Maschinen. Sie verhinderten damit, dass die Branche über Nacht unter dem Druck billigerer Konkurrenz zusammenbrach. Stattdessen zog sich der Niedergang der Textilindustrie über ein Jahrhundert hin. In den 1950er-Jahren jedoch standen die meisten Fabriken leer, und die Stadt war zu einem Symbol für die verlorene Industriemacht Großbritanniens geworden.
In den 1980er-Jahren war Manchester bekannter für die Partys, die in den leeren Lagerhäusern veranstaltet wurden, als für die industrielle Vergangenheit dieser Gebäude. Factory Records war nicht ohne Grund der Name des Musiklabels der britischen Post-Punk-Szene der 1980er in Manchester (Joy Division, New Order, Happy Mondays und viele andere). Seine Wurzeln lagen in einer Reihe Musikklubs in ehemaligen viktorianischen Fabriken. Manchester war zu einem Symbol des industriellen Niedergangs geworden. Junge Leute ohne ausreichende Beschäftigung schufen eine lebendige Musikszene, aber ihre Arbeitslosigkeit und ihre Existenzsorgen waren deutliche Anzeichen für das Vakuum, das die industrielle Revolution in ihrer Geburtsstadt hinterlassen hatte.
Im Jahr 1996 parkte die IRA einen Laster mit Sprengstoff im Stadtzentrum. Der Anschlag wurde telefonisch angekündigt und die Gegend evakuiert, aber die Bombenexplosion beschädigte Dutzende Gebäude schwer. Dies wurde zu einem Wendepunkt für Manchester. Nach Jahren des Verfalls und vergeblicher Versuche, das Ruder noch einmal herumzureißen, wurde der Wiederaufbau zu einem Katalysator. Die Tragödie brachte der maroden Stadt die Aufmerksamkeit des ganzen Landes und die Gelegenheit, das Stadtzentrum völlig umzugestalten.
Bis heute ist in dieser Hinsicht schon viel erreicht worden. Im Stadtzentrum von Manchester liegt Spinningfields, in den 1880er-Jahren ein Stadtteil voller Textilfabriken, in denen jeweils bis zu 15000 Frauen an mechanischen Webstühlen und Nähmaschinen arbeiteten. Heute ist Spinningfields ein Geschäftsviertel mit modernen Büros und einer Einkaufsmeile mit Nobelboutiquen und dramatischer Architektur. Die industrielle Vergangenheit des Viertels findet sich wieder in den zweigeschossigen Schaufenstern eines Bekleidungsgeschäftes, in denen eine Kunstinstallation aus Hunderten von Singer-Nähmaschinen ausgestellt ist. Die Waren im Geschäft werden natürlich überwiegend in China hergestellt.
Wenige Häuserblocks nördlich von Spinningfields liegt das Northern Quarter, wo einige alte Textilwarenhäuser entkernt und zu Designerarbeitsräumen umgestaltet wurden, in die jetzt Webfirmen, Spieleentwickler und Grafikstudios einziehen. Dies ist das Vorzeigeprojekt für Manchesters lang ersehnte Auferstehung als Zentrum der Computerindustrie. Möglicherweise sind die Designer- und Ingenieurfähigkeiten, die das Industriezeitalter vorantrieben, immer noch vorhanden und können nun in den Medien, der Unterhaltung und im Marketing Anwendung finden. (Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. Viel Raum steht immer noch leer, und ein Großteil der vorhandenen Betriebe wird mit Regierungsgeldern unterstützt.)
Aber nur wenige Straßenblöcke weiter nördlich, im Viertel mit dem optimistischen Namen New Islington (ein Verweis auf einen wohlhabenden Teil Londons), ist die Neuerfindung Manchesters weniger gesichert. Hier stehen überwiegend Ruinen: viktorianische Fabriken, die heute nur noch leere Hüllen sind mit eingestürzten Dächern und lange zerborstenen Fenstern. Die Gebäude stehen unter Denkmalschutz und können somit nicht abgerissen werden, aber die Kosten und das Risiko eines Wiederaufbaus als moderne Gebäude, ohne die originale Gebäudefront zu beschädigen (wie der Denkmalschutz es vorschreibt), sind einfach zu hoch. Also lässt man die Gebäude verfallen als Relikte eines verlorenen Weltreichs. Ein paar wenige andere Gebäude erregten das Interesse von Investoren während der letzten Immobilienblase, die ein böses Ende nahm. Heute befinden sich dort eingezäunte Baustellen, auf denen aber kaum noch gearbeitet wird, gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft in einer sich dahinziehenden Gegenwart. Sie verleihen der Gegend die Atmosphäre einer überdimensionalen Baustelle ohne Bauarbeiter, eines Haufens aus leblosem Kies und Staub.
Doch inmitten dieser postindustriellen Landschaft gibt es kleine Inseln der Hoffnung und des Wachstums. Eine von ihnen befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik gleich neben einem ehemaligen Cholerahospital am Ufer eines von Manchesters vielen Kanälen. Dort steht ein riesiges modernes Gebäude, das aus jeweils versetzt aufeinandergestapelten Blöcken mit mehreren Stockwerken besteht. Die Blöcke setzen jeweils eigene, geschmackvoll aufeinander abgestimmte farbliche Akzente in Pink, Braun und Pfirsich. Der Architekt stapelte angeblich Pommes frites (die in Großbritannien »chips« heißen) aufeinander, als er die Form des Gebäudes entwarf, und entsprechend wird es »Chips« genannt. Es sollte ein Muster des modernen Arbeits-, Wohn- und Spielraums werden. In den oberen Stockwerken befinden sich Eigentumswohnungen. Die unteren Stockwerke sind für Restaurants und Ladengeschäfte vorgesehen. Und in der Mitte befinden sich Etagen für Büros und Arbeitsräume.
Das Platzen der Immobilienblase brachte die meiste Bautätigkeit in jener Gegend zum Erliegen. So wurden auch die Pläne für Restaurants und Cafés im Zusammenhang mit dem Gebäude nicht realisiert, und kaum ein Wohnungseigentümer wollte inmitten von Baustellen leben. Statt das Gebäude einfach leer stehen zu lassen, wagten die Eigentümer ein Experiment, das an die Ursprünge der Stadt erinnert: Sie boten das Gebäude dem lokalen Industrieverband an als Versuchsgelände für neue Produktionsverfahren. Heute befindet sich darin das Manchester Fab Lab, das erste Fab Lab Großbritanniens.
Fab Labs sind eine besondere Art von Makerspace. Sie basieren auf einem Modell, das vor zehn Jahren von Neil Gershenfelds Center for Bits and Atoms entwickelt wurde. Die Labs entstanden aus einem beliebten Kurs Gershenfelds am MIT heraus mit dem Namen »Einführung in die Herstellung von (fast) allem«. Derzeit existieren 53 Fab Labs in 17 Ländern weltweit, und jedes einzelne verfügt über eine Mindestausstattung mit computergesteuerten Produktionswerkzeugen: einem Lasercutter, einem Schneideplotter, einer großen CNC-Maschine für Möbel und einer kleinen für Leiterplatten, einer elektronischen Grundausstattung und manchmal noch einem 3-D-Drucker. In manchen Labs gibt es auch traditionelleres Werkzeug wie Drehmaschinen für die Metallbearbeitung und Standbohrmaschinen, aber üblicherweise sind sie für die Herstellung von Prototypen in kleiner Stückzahl ausgelegt.
An Freitagen und Samstagen ist der Eintritt zum Fab Lab Manchester frei. Ich besuchte die Einrichtung an einem ganz normalen Freitag und erlebte ein geschäftiges Durcheinander von Studenten der örtlichen Universität, die an Architektur- oder Möbelmodellen arbeiteten. Der Lasercutter war konstant in Betrieb und spuckte Kunstwerke und Projektarbeiten von Designstudenten aus. Die Projekte, die an den eintrittsfreien Tagen entstehen, werden in der Regel online dokumentiert, damit andere daran teilhaben können. An anderen Tagen wird die Einrichtung von zahlenden Mitgliedern benutzt, deren Projekte nicht veröffentlicht werden müssen.
Noch fällt es zugegebenermaßen schwer, in diesen Makerspaces den Keim einer neuen britischen Industrie zu erkennen. Vor allem Studenten der lokalen Hochschulen arbeiten dort an Projekten, wie sie für jeden Designkurs oder Werkunterricht typisch sind. Anders als in den TechShops in den Vereinigten Staaten drängen sich hier keine ehrgeizigen Jungunternehmer, und vielversprechende Start-ups sind aus dem Fab Lab heraus auch noch nicht entstanden. Aber Haydn Insley, der Manager des Labs, sieht die Aufgabe seiner Einrichtung auch eher darin, Kreativität freizusetzen. »Es geht darum, dass jeder alles herstellen und vor allem auch verändern kann. Jeder hier hat eine Idee, und wir unterstützen nur bei der Umsetzung dieser Ideen. Die Entwürfe stehen im Mittelpunkt, nicht die Herstellung.«
Ein Blick auf die Erfolgsgeschichten, die es heute noch in der britischen Industrie gibt, genügt, um zu verstehen, woher Insley seinen Optimismus nimmt. Die Zeiten der Textil- und Besteckindustrie sind zwar schon lange vorbei, aber in Großbritannien gibt es nach wie vor eine große Luftfahrtindustrie (British Aerospace, inzwischen in BAE Systems umbenannt, ist der zweitgrößte Rüstungskonzern der Welt), und britische Automobildesigns haben in der ganzen Welt immer noch einen guten Ruf. Daneben gibt es noch findige Konsumgüterproduzenten wie Dyson, die durch markante Designs und technische Neuerungen die Verbraucher dazu bringen, in vormalig stagnierenden Marktsegmenten, wie Staubsauger und Ventilatoren, Höchstpreise zu zahlen. Die Hochschulen in Manchester bilden immer noch mehr Ingenieure aus als in jeder anderen Stadt in Großbritannien. Die Kenntnisse sind da, aber es fehlt an neuen Anwendungsmöglichkeiten.
Vielleicht ist einer der Designstudenten mit Dreadlocks, die im Fab Lab in Manchester am Lasercutter stehen, der nächste Dyson. Vielleicht ist es aber auch jemand, der allein arbeitet, mit den gleichen Werkzeugen, die inzwischen so billig sind, dass ein Einzelner sie sich leisten kann. Im Fab Lab sind bereits Hunderte Projekte entstanden, und es hat gerade erst eröffnet. Fest steht jedenfalls: Produkte aus Manchester haben schon einmal die Welt verändert. Dieser Teil ihrer Geschichte hat die Stadt geprägt wie kein anderer, und der Traum davon, dass es noch einmal geschehen könnte, scheint wieder zum Greifen nah. Die Anfänge dazu werden vielleicht im Fab Lab gelegt. Die Maschinen in Manchester laufen wieder.
Doch es gibt entscheidende Unterschiede zwischen damals und heute: Die erste industrielle Revolution konnte nur von einem Ort wie Manchester ausgehen, wegen der Umweltbedingungen und der Transportinfrastruktur, während die Maker-Bewegung überall auftreten kann. Zum Teil wegen der historischen Bedeutung ist das Fab Lab in Manchester inmitten der Ruinen alter Textilfabriken angesiedelt, aber die Werkzeuge und die technische Ausstattung des Fab Lab sind genauso gut im Büro eines Wolkenkratzers in London vorstellbar oder in einem umgebauten Schuppen auf dem Land. Die Makers, die sie benutzen, könnten noch weiter davon entfernt leben und ihre Designdaten von zu Hause aus hochladen. Der »Ort«, an dem sich eine Produktionsstätte befindet, wird heute immer unwichtiger – Ideen triumphieren über Geografie.
Vor allem aber sind die riesigen Fabriken überflüssig – die Tage rauchender Schlote und Stahlkolben so groß wie Eisenbahnwägen sind vorbei. Kleine Firmen haben in der neuen Welt der verteilten Fertigung gute Chancen. Damit kehrt die Industrie auf gewisse Weise zu ihren Anfängen während der ersten industriellen Revolution zurück. Die Spinning Jenny veränderte die Welt nicht, weil durch sie große Fabriken entstanden, sondern durch die Entstehung der Heimindustrie. Und wie sich erwies, kann die Heimindustrie zu einem äußerst gewichtigen Wirtschaftsfaktor werden.
Was heute als Heimindustrie bezeichnet wird, begann mit Maschinen mit Holzrahmen und Fußpedal, die viele Fäden gleichzeitig erzeugen konnten. Im Grunde waren es mehrere Spinnräder, die gleichzeitig arbeiteten. Sie waren relativ einfach zu bauen oder billig zu kaufen und nicht größer als ein Tisch. Sie stellten in gewissem Sinn das »Desktop Manufacturing« ihrer Zeit dar.
Die Spinning Jenny wurde zu Hause eingesetzt. Sie vervielfachte dort die Arbeitsleistung eines Spinners, und zum ersten Mal war Heimarbeit für einen Großteil der Bevölkerung lukrativer als die Arbeit außer Haus. Durch die Spinning Jenny konnten Männer und Frauen zu Hause arbeiten. Das stärkte die Kernfamilie, verbesserte die Arbeitsbedingungen für Kinder und beendete die Abhängigkeit von den Grundbesitzern. Darüber hinaus bekamen so normale Leute die Chance, Unternehmer zu werden, ohne den Ausbildungsprozess des Gildensystems durchlaufen zu müssen. Selbst als die Fabriken neben den Hütten entstanden, nutzten Firmen diese Form häuslichen Unternehmertums gerne dazu, um Akkordarbeit auszulagern an ein Netz hoch qualifizierter Handwerker, deren Arbeitsleistung sich durch die neue Fertigungstechnik vervielfachte.
Mit der Verbreitung dieser Maschinen endete die Ära der britischen Agrargesellschaft. Während vorher die meisten Menschen auf den Feldern gearbeitet hatten, erledigten jetzt weniger Menschen mit besseren Landmaschinen alles Pflügen und Ernten. Der Rest arbeitete am Heimarbeitsplatz, zunächst an der Spinnmaschine, aber bald auch an hölzernen Webstühlen als Weber oder Stricker.
Diese Arbeit hatte nichts mehr mit der Landwirtschaft zu tun, und damit auch nichts mehr mit den Landbesitzern. Die zu Hause arbeitenden Mitglieder einer Familie waren unabhängiger und hatten mehr Kontrolle über ihre eigene wirtschaftliche Zukunft. Sie waren zwar aus der Abhängigkeit von einem einzigen Grundbesitzer befreit, standen nun aber den Marktkräften von Angebot und Nachfrage gegenüber. Sie verkauften ihre Waren an Großabnehmer aus der Industrie, die immer auf der Suche nach den niedrigsten Preisen waren und dafür auch die Lieferanten wechselten.
Die Löhne waren meist nicht besser als in der Landwirtschaft, aber zumindest konnten sich die Arbeiter ihre Arbeit selbst einteilen. Es war ein Schritt in Richtung Unternehmertum, aber es führte zu keinen entscheidenden Innovationen. Bei der Heimarbeit wurde meist einfach die Arbeit aus der Fabrik nach außen verteilt. Die Maschinen der Heimarbeiter waren zwar schlechter, aber dafür sparten die Fabriken bei den Investitionen in neue Produktionsanlagen oder den Umrüstkosten bei kleineren Aufträgen. Jetzt wurde zwar in den Hütten gearbeitet, aber nicht erfunden. Die Heimarbeiter waren den Unternehmern ausgeliefert.
Dennoch hatte der Aufstieg der Heimindustrie einen großen Anteil an der industriellen Revolution, der jedoch oft vom Bild von »Satans schwarzen Mühlen« überschattet wird. Die neue industrielle Revolution der Maker wird wohl mehr der Heimindustrie ähneln als den großen Fabriken, an die man beim Sekundärsektor als Erstes denkt. Die Heimindustrie war eine verteilte Form der Produktion. Sie war flexibler und erleichterte die Produktion kleiner Stückzahlen im Vergleich zu den großen, zentralisierten Fabriken, die sie ergänzten.
Sie passte zu den familiären Strukturen und stärkte sie sogar noch, weil sie Arbeitsmöglichkeiten für alle Familienmitglieder bot, einschließlich vieler Kinder, und sie trug so zur Bevölkerungsexplosion bei, die diese Phase der britischen Geschichte prägte. Während die großen Fabriken viele junge Erwachsene zur Arbeit in die Städte lockten, wo sie in Arbeitersiedlungen lebten, wuchsen durch die Heimindustrie die Kleinstädte. Dabei standen wertvolle handwerkliche Fertigkeiten im Vordergrund, die auf diese Art erhalten blieben, wie die Herstellung von Spitze, deren maschinelle Fertigung damals schwierig und sehr teuer war.
Die Blütezeit der Heimindustrie dauerte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein an. So beschäftigte Dixons in Carlisle in den späten 1830er-Jahren 3500 Handweber in den umliegenden Grafschaften, und ein Jahrzehnt später versorgte Wards in Belper Aufzeichnungen zufolge 4000 Heimstricker mit Arbeit. Noch in den 1870er-Jahren vergab Eliza Tinsley & Co Aufträge für Heimarbeit an 2000 Nagel- und Kettenschmiede in Mittelengland.18 Sogar auf dem Höhepunkt der ersten industriellen Revolution gab es, dank der Verteilung der Arbeit auf die Heimindustrie, mehr kleine Gewerbe als große Firmen.
Darin ähnelt die Heimindustrie sehr den kleinen Maker-Firmen von heute. Das typische Heimgewerbe von heute ist ein Verkäufer auf dem Etsy-Marktplatz, der mit einem computergesteuerten Schneideplotter coole Sticker für MacBooks herstellt und perfekte Ersatzteile für Oldtimer verkauft. Wie ihre Vorgänger aus dem Industriezeitalter stellen diese Unternehmer Gegenstände her, die nicht aus den großen Fabriken kommen. Sie konzentrieren sich auf die Nischenmärkte mit einem Volumen von einigen Tausend statt auf die Massenmärkte der Millionen. Ihre Verteilung entspricht der natürlichen Topografie der Ideen, nicht der zentral gesteuerten Logik der langen Versorgungsketten und billigen Gewerbeflächen.
Maker führen ihre Geschäfte oft von ihrer Garage oder Werkstatt aus, zumindest am Anfang, und werden oft von Familienmitgliedern unterstützt. Oft werben sie mit ihren kleinen Auflagen und betonen die handwerklichen Aspekte. Der Großteil der Produktion läuft über Desktop-Fertigungswerkzeuge (Fabber), da sich diese für drei- oder knapp vierstellige Stückzahlen am besten eignen.
Hier kommt ein weiteres Schlüsselprinzip der Maker-Bewegung zum Tragen: Wie die Spinning Jenny vor über 200 Jahren ist heute die Technologie für die Entwicklung und den Entwurf neuer Produkte für alle verfügbar. Man muss nicht mehr in teure Fabriken investieren oder Massen von Arbeitskräften anheuern, um eigene Ideen zu verwirklichen. Die Herstellung neuer Produkte ist nicht mehr das Privileg einiger weniger, sondern eine Chance für viele.
Statt wie früher die Produkte an Fabriken zu verkaufen, die den Zugang zum Markt kontrollieren, verkaufen die Maker-Heimarbeiter von heute ihre Waren direkt online an Verbraucher in aller Welt, entweder über ihre eigenen Websites oder über Online-Marktplätze wie Etsy oder eBay. Anders als ihre Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert warten die Maker nicht auf Aufträge von Fabriken, sondern erfinden ihre eigenen Produkte und bauen darauf ihre eigene Mikromarke auf. Statt sich auf einen Preiswettbewerb im Warenmarkt einzulassen, der die Beschäftigung billiger Arbeitsplätze fördert, verschaffen sie sich durch Innovationen einen Wettbewerbsvorteil. Sie entwerfen selbst und erzielen Höchstpreise bei ihren anspruchsvollen Kunden, die bewusst den Massenmarkt meiden.
Was bedeutet das für die Zukunft? Wir erleben heute den Aufstieg einer neuen Heimindustrie. Auch dieses Mal verleihen neue Technologien dem Einzelnen die Macht über die Produktionsmittel, sie ermöglichen Unternehmertum von unten und verteilte Innovation. Das Web hat die Produktionsmittel in allen Bereichen demokratisiert, von Software bis Musik, und so ermöglicht, dass Imperien in Studentenbuden gegründet oder Hitalben in Schlafzimmern aufgenommen werden konnten. Entsprechend werden die demokratisierten Werkzeuge der computergesteuerten Herstellung zu den Spinning Jennys von morgen werden. Und wie die Heimindustrie damals die Macht der Handwerkergilden brach, so könnte die neue Heimindustrie das Ende für das Industriemodell bedeuten, das in Manchester entstand und die letzten drei Jahrhunderte beherrschte.