KAPITEL 11
MAKER-FIRMEN
Was als Hobby beginnt, kann ein Miniimperium werden.
Alle Maker, die Unternehmer werden wollen, haben Vorbilder. Es sind Menschen, über die man liest und die nur mit Leidenschaft und ein paar Werkzeugen begonnen und einfach nicht aufgegeben haben. Sie haben einfach weitergemacht und weitergebaut und sind Risiken eingegangen, bis sie eine richtige Firma hatten. Diesen Firmen und Produkten sieht man ihren Weg aus der Kellerwerkstatt auf den Marktplatz noch an, und auch, dass sie in Handarbeit entstanden.
Dieses Kapitel handelt von dreien meiner eigenen Maker-Helden: Burt Rutan startete sein Unternehmen, Scaled Composites, in den 1970er-Jahren als einer der Ersten der modernen DIY-Bewegung, und hat heute damit den Weltraum erreicht. BrickArms, ein Hersteller für Lego-Zubehör, ist ein klassisches Long-Tail-Unternehmen, das auf Leidenschaft, ein paar coolen Werkzeugen und dem Internet beruht. Square ist eine der spannendsten Firmen im Silicon Valley. Sie entstand, als ein Maker-Handwerker und ein Internetvisionär sich zusammenschlossen, um die ultimative Hardware-Software-Kombination zu erschaffen, die eines Tages die Finanzindustrie verändern könnte.
Der ehrgeizige Hobbybastler
Die Wüstenstadt Mojave in Kalifornien ist kaum mehr als eine Verkehrsstation in der Wüste, und man muss schon einen triftigen Grund haben, um dort hinzufahren. Der Wind weht hier das ganze Jahr über, und morgens liegen die Schlangen zum Aufwärmen auf den Straßen in der Sonne. In den wenigen kleinen Hotels wohnen hauptsächlich sonnengegerbte Bauarbeiter, die Hunderte riesige Windräder auf den felsigen Hügeln nahe der Stadt errichten. In der einzigen Bar, Mike’s, dröhnt Heavy Metal aus der Jukebox, und harte, tätowierte Männer trinken wortkarg ihr Bier. Nach zehn Uhr abends kann man hier sonst nirgends mehr hingehen, höchstens zu einem Hundekampf, wenn man weiß, wen man fragen muss.
Aber schon ein Blick hinauf in die Wolken über Mojave macht all dies bedeutungslos. Denn dort oben, in der dünnen Wüstenluft, sieht man die faszinierendsten Maschinen, die man sich vorstellen kann. Der Flughafen von Mojave ist das zivile Gegenstück zur nahe gelegenen Edwards Air Force Base. Dort steigen seit dem Zweiten Weltkrieg Versuchsflugzeuge auf, und Testpiloten durchbrachen dort erstmals die Schallmauer und erreichten als erste Astronauten die Grenzen der Atmosphäre. Dies ist das Land der Helden der Nation. Die Männer tragen noch Fliegeroveralls, und hinter den Toren der Hangars verbergen sich Fluggeräte, die wirken, als seien sie nach dem Cover eines Science-Fiction-Romans oder der fantasievollen Zeichnung eines Schuljungen gebaut worden.
Viele große kommerzielle Raumfahrtunternehmen Amerikas sind heute in Mojave angesiedelt, unter ihnen Scaled Composites, die Fluggesellschaft des legendären Burt Rutan. Am Eingang zum Flughafen – dem heutigen Raumflughafen – von Mojave steht ein drei Stockwerke hohes Fluggerät mit dem Namen Rotary Rocket. Das von Scaled entworfene Luftfahrzeug sollte abheben wie eine Rakete und landen wie ein Hubschrauber (es flog tatsächlich einmal eine kurze Strecke). Dahinter reihen sich kilometerweit Hangars aneinander, in denen noch ehrgeizigere Flugobjekte stehen. Sie laden zu neuen Abenteuern in den Weiten des Himmels ein, die zwischen den Apollo-Missionen und der aufreibenden Bürokratie und den Kosten des Spaceshuttle-Programms in Vergessenheit gerieten.
Ein Ableger von Scaled, The Rocket Company, baut Trägersysteme für Virgin Galactic, Richard Bransons Unternehmen für Weltraumtourismus, das Ende 2012 den regelmäßigen Betrieb aufnehmen soll. Das Flugzeug besteht aus zwei Teilen: SpaceShipTwo, ein schlankes Weltraumgeschoss mit einem markanten Leitwerk am Heck, das beim Sinkflug bis zu einem Winkel von 45 Grad ausgeschlagen werden kann, um das Flugzeug durch einen kontrollierten Strömungsabriss abzubremsen, nachdem es seine Passagiere an die Grenze der Atmosphäre getragen hat; und WhiteKnightTwo, ein viermotoriger Riese von der Größe einer 747, der SpaceShipTwo in die entsprechenden Höhen bringen soll, zusammen mit einer Kabine voller weiterer Passagiere, die auf dem Rückweg einen Parabelflug in der Schwerelosigkeit erleben. Die Vorgängermodelle waren jeweils SpaceShipOne und WhiteKnightOne, für die Scaled 2004 den Ansari X Price für den ersten kommerziellen Raumflug erhielt.
Wie alles, was Scaled herstellt, werden die Raumfahrzeuge fast vollständig aus Glas- und Kohlefaser hergestellt. Burt Rutan, der im Jahr 2011 in Rente ging, war ziemlich verärgert darüber, dass das Fahrwerk aus Stahl und Aluminium gebaut wurde; es ist das letzte Überbleibsel der Metallflugzeug-Ära, der Scaled ein Ende setzen sollte (weswegen Composites – zu Deutsch: Verbundstoffe – Teil des Firmennamens ist). Alles andere besteht aus Fasern, Schaumstoffen und Harzen, die so bearbeitet wurden, dass sie stabiler, leichter, glatter und langlebiger sind als Metalle.
Flugzeuge aus Kunststoff bieten noch weitere Vorteile gegenüber solchen aus Aluminium: Sie können beliebige Formen annehmen, weshalb das Flugzeug von Scaled fast wirkt, als sei es gewachsen und nicht gebaut worden, mit anmutigen organischen Bögen und schlanken, konischen Rumpfrohren. Kunststoffe sind leicht und belastbar; elastisch, wo nötig, und starr überall sonst. Im Zusammenhang mit diesem Buch ist jedoch vielleicht am wichtigsten, dass fast jeder sie herstellen kann. Für die Herstellung eines Flugzeuges aus Glasfasern braucht man nur eine Schaumstoffform, auf die Materialplatten aufgelegt werden, einen Pinsel, um das Harz aufzutragen, und eine Plastikfolie, um das Gebilde während der Aushärtung abzudecken, damit eine glattere Oberfläche entsteht.
Die Geschichte von Scaled ist relevant für die Maker-Bewegung, weil sie zeigt, wie komplex und anspruchsvoll Maker-Firmen und ihre Produkte sein können. Verbundstoffe sind eine klassische Maker-Technologie: Sie haben die moderne Flugzeugfertigung weitgehend demokratisiert. Man kann genauso gut in einer Garage eine Tragfläche aus Verbundstoffen zusammensetzen wie Boeing in den größten Fabriken. Man braucht kein spezielles Werkzeug dafür. Jeder, der schon einmal eine Schüssel aus Pappmaschee hergestellt hat, kennt das Prinzip. Die Materialforschung ermöglichte das Wunder, Harz und Fasern in Oberflächen zu verwandeln, die leichter sind als Aluminium und belastbarer als Stahl. Man braucht etwas Übung, bis man es richtig hinbekommt, aber in wenigen Wochenenden kann man das lernen.
Tatsächlich haben Scaled und Rutan als Hersteller von Kunststoff-Kit-Planes angefangen, die von Hobbybastlern zu Hause zusammengebaut werden konnten wie Kit Cars, deren Karosserie ebenfalls aus Kunststoff besteht. Die Technologie, die Passagiere von Virgin Galactic ins All transportieren wird, begann als eine Möglichkeit, Tragflächen und Flugzeugrümpfe herzustellen, die von Amateuren billiger und einfacher zusammengebaut werden konnten. (Bevor Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, selbst ein Flugzeug zusammenzubauen, sollten Sie jedoch wissen, dass man für die Fertigstellung eines durchschnittlichen Kit Planes etwa 5000 Arbeitsstunden braucht, was zweieinhalb Jahren Vollzeitarbeit entspricht. Ihre Ehe könnte das nicht überleben.)
In Oshkosh, Wisconsin, versammeln sich jeden Sommer 100000 Hobbyflieger zur größten Flugschau der Welt und feiern den Geist des DIY. Veranstalter ist die Experimental Aircraft Association, eine Vereinigung, die eine Kategorie von Luftfahrzeugen der US-Bundesluftfahrtbehörde im Namen trägt. Nach den Bestimmungen für Versuchsflugzeuge (experimental aircrafts) dürfen Flugzeugbastler ihre Eigenkreationen fliegen, ohne den normalen Zulassungsprozess für kommerzielle Flugzeuge durchlaufen zu müssen oder sich nach denselben Flugregeln zu richten. Selbstbauer fliegen in ihren eigenen Kreationen aus aller Welt zur Flugschau an, manchmal Tausende von Meilen weit. Es sind Hunderte von Rutan entworfene Flugzeuge dabei, und alles von restaurierten Kampfflugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg bis zu elektrisch betriebenen Versuchsflugzeugen.
Die Besucher kommen wegen der Flugakrobatik und aus Nostalgie für das Goldene Zeitalter der Luftfahrt, doch das Herzstück der Veranstaltung sind Hunderte Vorträge und Workshops für Maker – über die Verwendung von Glasfasern und Metallbearbeitung, Lackieren und Schleifen, darüber, wie man mit Schaumstoff arbeitet und wie man Aluminium biegt. Bei dem Festival geht es zwar ums Fliegen, aber der Community geht es offensichtlich um das Erschaffen von Dingen. Die meisten selbst gebauten Flugzeuge verbringen mehr Zeit in der Werkstatt als in der Luft. Viele von ihnen werden den Boden nie verlassen. Der eigentliche Reiz liegt für viele darin, einfach eine schöne Maschine zu erschaffen.
Auch bei Scaled Composites ist dieses Bastler-Gen noch spürbar. Viele Ingenieure mieten sich für ihre »Projekte« in den kleineren Hangars ein, die die Start- und Landebahn in Mojave säumen. Diese Projekte sind meistens wunderschöne kleine Flugzeuge, vom einsitzigen Pylonracer, der 500 Meilen pro Stunde fliegt, bis zum Nachbau eines Militärflugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg im Maßstab eins zu zwei. Manche Bastler gehen an die Grenzen der Technologie, bauen im Team ein einsitziges Flugzeug mit Elektroantrieb und starten damit zu einem Rekordversuch im Langzeitflug in dieser Klasse.
Die Scaled-Ingenieure gehen bei ihren privaten Projekten genauso vor wie bei ihrer beruflichen Arbeit. Zunächst entwerfen sie das Fluggerät am Bildschirm mit einem CAD-Programm. Dann schälen sie entweder von Hand die Formen der einzelnen Flugzeugteile aus großen Schaumstoffblöcken, oder sie schicken die Daten an die lagerhausgroßen CNC-Maschinen von Scaled, wo die Formen dann maschinell hergestellt werden. Schließlich legen sie Glas- und Kohlefasermatten über den Schaumstoff und bestreichen sie zum Aushärten mit Harz.
Tagsüber stellen sie Raumschiffe her, und nachts bauen sie mit ihrem Know-how ihre eigenen Traummaschinen. Der Weg vom Hobby zum Industriebetrieb, der zur Gründung von Scaled führte, spielt bei der Firmenkultur immer noch eine zentrale Rolle. Wenn man bei einem Scaled-Ingenieur ein bisschen an der Oberfläche kratzt, taucht darunter ein Hobbybastler auf. Ihre Garagen stehen nur wenige Hundert Meter von ihrer Fabrik entfernt.
Der berufliche Aufstieg eines Scaled-Ingenieurs führt in der Regel über ein Hobbyprojekt. Um Projektleiter in der Firma zu werden, muss man erst unter Beweis stellen, dass man ein solches Projekt auch leiten kann. Wie macht man das beim ersten Mal? Mit einem eigenen Projekt. Scaled-Ingenieure gewinnen die Anerkennung ihrer Kollegen durch Eigenbauten. Wenn es um das Vertrauen der Kollegen geht, zählt eine Maschine, die nach eigenen Entwürfen gebaut und geflogen wird, weit mehr als jeder akademische Titel. In den angemieteten Hangars wird nicht nur an einer Nebenbeschäftigung gebastelt, sondern auch an der Karriere. Die Hangars sind Versuchslabore für neue Ideen und Testanlagen für neue Verfahren. Durch die Verbindung zu den Garagen hält Scaled seine Führungsposition.
Die DIY-Firmenkultur von Scaled Composites geht auf Rutan selbst zurück. Er wurde 1943 geboren und verbrachte seine Teenagerjahre mit selbst entworfenen Modellflugzeugen und damit, Wettbewerbe zu gewinnen. Er fand heraus, wie man ein Modellflugzeug im Schwebeflug halten konnte – es stand dabei praktisch still, hing nur an seinem Propeller in der Luft, während Rutan per Fernsteuerung den Motor steuerte. Mit diesem Trick war er nicht zu schlagen. Er machte Punktlandungen auf Modellflugzeugträgern und gewann jeden Wettbewerb im Langsamflug haushoch: Sein Flugzeug hing in der Luft, während die Sekunden verstrichen und sich die Preisrichter ratlos am Kopf kratzten, weil sie nicht wussten, wie sie mit dem Jungen und seinen technischen Tricksereien umgehen sollten.
Für kurze Zeit arbeitete er in der Luftfahrtindustrie am F-4-Phantom-Jet aus der Zeit des Vietnam-Kriegs und ein paar Schwebeflugzeugen im Versuchsstadium. Ihn faszinierte zunehmend die Vorstellung, dass auch Amateure Hochleistungsluftfahrzeuge bauen und fliegen könnten. Der Überschallflug hatte die moderne Luftfahrt verändert, aber die meisten zivilen Flugzeuge waren zahme und langsame Modelle, die sich seit den Tagen des »Goldenen Zeitalters« der zivilen Luftfahrt zwischen den Weltkriegen kaum verändert hatten. Rutan mochte vor allem die Kampfjets mit Deltaflügeln, mit ihren »Canard«-Flügeln vorn statt des üblichen Höhenleitwerks am Rumpf. Der Vorteil solcher Canards besteht darin, dass der Luftstrom darunter früher abreißt als unter den Haupttragflächen. Wenn das Flugzeug zu langsam fliegt oder mit der Nase zu weit oben, verliert der Canard-Flügel als erster an Auftrieb, die Nase des Flugzeugs senkt sich und das Flugzeug wird wieder in eine kontrollierte Fluglage zurückgeführt.
Rutan gründete die Rutan Aircraft Factory (RAF) und entwarf mehrere bahnbrechende Amateurflugzeuge, angefangen bei der VariViggen (inspiriert vom schwedischen Viggen-Kampfjet) bis zur VariEze-Serie von Selbstbaumodellen, die die zivile Luftfahrtindustrie durch die verwendeten Verbundwerkstoffe und vergleichsweise einfachen Konstruktionen revolutionierten. Seine Konstruktionen waren einfach zu bauen, flogen schnell und effizient, und sie waren sicher und zuverlässig. Außerdem sahen sie unglaublich cool aus. Wenn die Blütezeit der Flugschauen in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg das Goldene Zeitalter der zivilen Luftfahrt war, dann war das Goldene Zeitalter der DIY-Luftfahrt in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren, als Rutans Konstruktionen moderne Materialien und Aerodynamik für alle zugänglich machten.
Am Ende erwies sich der DIY-Markt jedoch als zu große Herausforderung, und Rutan stellte den Betrieb von RAF ein. Er konzentrierte sich stattdessen auf Scaled Composites, die Firma, die er gegründet hatte, um Luftfahrzeuge für Kunden aus Wirtschaft und Militär zu entwickeln. Das Hauptproblem des damaligen Eigenbaumarktes bestand darin, dass die meisten Firmen nur Baupläne verkauften, keine Bausätze. Manche Pläne kosteten nur 25 Dollar, aber die Selbstbauer erwarteten dadurch einen jahrelangen Kundenservice, an den sie sich mit ihren Fragen und Bitten um Hilfe wenden konnten. Mit anderen Worten: Es war ein schreckliches Geschäft.
Als die Firmen dann schließlich auf die Produktion von Bausätzen umstellten, standen sie vor all den üblichen Problemen der Luftfahrtindustrie: Werkzeugbestückung, Beschaffung von Einzelteilen und gesetzliche Haftpflicht. Doch sie verkauften nicht Hunderte von Flugzeugen für Millionen Dollar pro Stück, sondern nur Dutzende für wenige Zehntausend Dollar pro Stück. Der Markt war winzig, aber die Risiken riesig. Von Rutans erfolgreichstem Selbstbaumodell, dem VariEze, wurden insgesamt keine 800 Stück verkauft. Ein einziger Kunde von Scaled Composites brachte mehr Profit ein bei sehr viel weniger Scherereien. Rutans Wurzeln lagen zwar in der DIY-Bewegung, aber aus wirtschaftlicher Sicht war es unwiderstehlich, im Geheimen für große Unternehmen und im Auftrag der Regierung fortschrittliche Flugzeuge zu entwickeln. Rutan wollte lieber bahnbrechende Flugzeuge entwickeln als die unersättliche Nachfrage nach Bausätzen befriedigen.
Scaled Composites gehört heute der Northrop Grumman Corporation. Für jedes Vorzeigeprojekt wie SpaceShipOne wird ein Marschflugkörper oder eine Tarnkappendrohne für das Verteidigungsministerium entwickelt. Die DIY-Wurzeln existieren noch in den Nebenprojekten der Scaled-Ingenieure in ihren privaten Hangars neben der Flugpiste des Flughafens von Mojave. Aber das Unternehmen selbst ist inzwischen ein Hochsicherheitsbetrieb.
Rutans Karriere ist ein anschauliches Beispiel sowohl für das Potenzial als auch für die Grenzen der Maker-Bewegung. Er eröffnete durch die demokratisierte Technologie der Verbundstoffe Amateuren einen Zugang zu den neuesten Entwicklungen in der Luftfahrt. Aber die Einstiegsbarrieren zum bemannten Flug, von den Kosten für den Flugzeugbau bis zur Gefahr von Rechtsstreitigkeiten, erwiesen sich am Ende immer noch als zu hoch, um das bestehende Modell der Luftfahrtindustrie infrage zu stellen.
Flugzeuge transportieren Menschen, und daher müssen sie endlose behördliche und rechtliche Prüfverfahren durchlaufen, die viel Zeit und Geld kosten. Das können sich nach wie vor nur die großen Flugzeughersteller leisten, und deshalb gehört Scaled inzwischen auch einem von ihnen. Rutan selbst ist ein glücklicher Maker, reich und im Ruhestand.
Der Long Tail von Lego
Will Chapman ist heute das, was Rutan früher war, als er voller Begeisterung aus seinem Hobby eine Firma machte. Chapman hat drei Söhne, die von Lego besessen waren, bis sie etwa acht Jahre alt waren. Dann begannen sie, wie viele Jungen ihres Alters, lieber mit Spielzeugsoldaten zu spielen, und das konnte Lego nicht bieten. Lego ist ein familienorientiertes Unternehmen und hat strenge Grundsätze in Bezug auf Waffen. Mit ein paar wenigen Ausnahmen stellt Lego keine Waffen des 20. Jahrhunderts her. Historisch ältere Waffen wie Schwerter und Katapulte gibt es von Lego, aber M16-Schnellfeuergewehre oder moderne Panzerfäuste sucht man bei Lego vergeblich. Auch Waffen aus einer fantastischen Zukunft gibt es, Laserblaster und Plasmakanonen, aber keine Maschinengewehre oder Bazookas aus dem Zweiten Weltkrieg.
Als Firmenpolitik ist so etwas natürlich völlig in Ordnung, aber es führt dazu, dass Lego viele Kunden im Alter von zehn Jahren verliert, wenn sie in ihre Kriegsspielphase kommen. So war es auch bei Chapmans Söhnen. Im Jahr 2006 wollte der Jüngste eine Schlacht aus dem Zweiten Weltkrieg nachstellen und war enttäuscht, weil er es mit den Lego-Figuren, die er hatte, nicht konnte.
Damit hätte die Geschichte zu Ende sein können, aber Chapman ist ein Maker. Im Keller seines Hauses in Redmond, Washington, steht eine kleine CNC-Fräse, und er kann mit CAD-Software umgehen. Also begann er, moderne Gewehre in Lego-Größe zu entwerfen. Und weil er es konnte, stellte er sie auch gleich her.
Dazu schickte er zunächst die Daten an seine Desktop-CNC-Maschine, eine für unter 1000 Dollar erhältliche Taig-2018-Fräse, die aus zwei Blöcken Flugzeugaluminium die Hälften der Gießform fräste. Dann legte er die Gießformen in seine manuelle Spritzgießmaschine, bei der Kunststoff mit ganz normalem Propan geschmolzen wird, wie man es vom Campingkocher kennt. Über einen Hebel ähnlich dem einer Wasserpumpe wird der geschmolzene Kunststoff dann in die Form gedrückt. Um denselben ABS-Kunststoff verwenden zu können wie das Original, schmolz Chapman echte Lego-Stücke ein.
Nach einigen Versuchen und Korrekturen hatte er ein paar schöne Prototypen, darunter ein M1-Infanteriegewehr und ein Scharfschützengewehr. Sein Sohn war beeindruckt, und so stellte er ein paar mehr her und verteilte sie an andere »erwachsene Lego-Fans«. Sie wollten mehr davon, und er richtete schließlich eine Website ein, um sie zu verkaufen.
Heute wagt sich seine Firma BrickArms auf ein Territorium vor, das dem dänischen Spielzeugriesen zu heiß war: schwere Waffen im Lego-Format, von AK-47 bis Splittergranaten, die aussehen, als seien sie direkt Halo 3 entsprungen. Die Teile sind komplizierter als die normalen Lego-Artikel, aber sie werden in derselben Qualität hergestellt und online an Tausende Lego-Fans verkauft, sowohl Kinder als auch Erwachsene, die coolere Szenen nachstellen wollen, als mit den Standardpaketen möglich ist.
Lego ist ein Industriebetrieb mit einem Designerteam in einer hochgesicherten Anlage in Billund, Dänemark. Die Ingenieure entwickeln Prototypen und lassen sie dann in speziellen Werkstätten herstellen. Wenn die Prototypen auf Zustimmung stoßen, werden Artikel in riesigen Spritzgießanlagen produziert. Die einzelnen Teile werden zu Paketen zusammengefasst, und die Pakete müssen in monatelanger Arbeit auf Spieltauglichkeit getestet werden, Verkaufspreise müssen kalkuliert werden, und die Pakete müssen ausgeliefert und inventarisiert werden, bevor sie bei Target oder Wal-Mart verkauft werden können. Dieses Ziel erreichen nur Teile, die sich millionenfach verkaufen lassen.
Chapman arbeitet mit anderen Größenordnungen. Er entwirft seine Waffen immer noch mit CAD-Software und stellt die Prototypen mit seinem Desktop-Fabber her. Wenn er mit dem Aussehen der Teile zufrieden ist, schickt er die Datei an einen örtlichen Werkzeugmacher, der Gießformen aus rostfreiem Stahl herstellt. Ein Spritzgießbetrieb in den Vereinigten Staaten stellt dann damit Chargen mit wenigen Tausend Stück her.
Warum lässt Chapman die Teile nicht in China produzieren? Das könnte er, sagt er, allerdings würde das dazu führen, dass »die Produktion der Gießformen länger dauern würde; die Kommunikation wäre schleppend und der Kunststoff von unterdurchschnittlicher Qualität« (sprich billig). Außerdem meint er: »Wenn die Gießformen in China hergestellt werden, wer weiß, was dann mit ihnen geschieht, wenn sie nicht für die eigene Produktion gebraucht werden? Sie könnten dazu benutzt werden, um Teile für einen Sekundärmarkt herzustellen, von dessen Existenz Sie nicht einmal etwas wissen.« Chapmans drei Söhne verpacken die Teile, die er direkt verkauft. Inzwischen verkauft BrickArms auch über Vertriebshändler in Großbritannien, Australien, Schweden, Kanada und Deutschland. Chapman arbeitete 17 Jahre lang als Softwareingenieur, aber die Geschäfte mit BrickArms liefen so gut, dass er im Jahr 2008 kündigte. Inzwischen verdient er mit dem Verkauf von Lego-Waffen genug für ein komfortables Leben für seine fünfköpfige Familie. »An einem schlechten Tag verdiene ich mit BrickArms mehr, als ich jemals als Softwareingenieur verdient habe.«
Wie steht Lego dazu? Die Firma findet es sogar gut. Es gibt inzwischen viele andere kleine Firmen wie BrickArms, zum Beispiel BrickForge oder BrickStix, die alles Mögliche herstellen, von individuellen Action-Figuren bis zu Aufklebern, mit denen man offizielle Lego-Figuren verändern kann. Diese Firmen ergänzen mit ihrem Angebot den dänischen Riesen.
Damit lösen sie gleich zwei Probleme für Lego: Erstens stellen sie Produkte her, die nie in den Mengen gekauft würden, die eine volle Produktion durch Lego rechtfertigten, aber von den anspruchsvollsten Lego-Kunden dennoch nachgefragt werden. Dies ist der »Long Tail von Lego«, und einen solchen Nischenmarkt gibt es bei Plastikspielzeug genauso wie bei Musik und Filmen. Die vielen Kleinfirmen, die Lego umkreisen wie Planeten eine Sonne, füllen gemeinsam die Lücken im Markt, sodass Lego sich weiterhin auf die Kassenschlager konzentrieren kann, die die Firma bei ihrer Größe braucht.
Zweitens halten Firmen wie BrickArms dadurch, dass sie Produkte speziell für ältere Kinder herstellen, diese Kinder einige Jahre länger in der Lego-Welt, von acht oder zehn Jahren möglicherweise bis zwölf. Das erhöht die Chance, dass sich aus dem spielerischen Umgang eine echte Obsession mit Lego entwickelt, die sich vielleicht bis ins Erwachsenenalter hält (kein Witz – Bausätze für berühmte Gebäude aus der »Architektur«-Reihe von Lego werden in Buchhandlungen und Museumsshops für 100 Dollar das Stück verkauft). Diese Erwachsenen kaufen dann die aufwendigeren Bausätze, etwa den Todesstern oder den Sternenzerstörer aus Star Wars, die beide aus über 3000 Teilen bestehen und 400 Dollar kosten.
Daher ignoriert Lego den Schwarm von Zubehöranbietern, solange sie keine Markenrechte verletzen und immer einen Hinweis beifügen, dass scharfkantige oder leicht zu verschluckende Spielzeuge von kleinen Kindern fernzuhalten sind. Stattdessen hat Lego sogar informelle Leitlinien herausgegeben, in denen steht, welche ungiftigen Kunststoffe am besten geeignet sind und dass Löcher in Teile gebohrt werden sollten, die leicht verschluckt werden können, um die Erstickungsgefahr zu verringern.
BrickArms und Konsorten sind Beispiele dafür, wie Maker-Firmen Nischenmärkte bedienen, die von der herkömmlichen Massenproduktion nicht vollständig abgedeckt werden.
Das Industriemodell des 20. Jahrhunderts war für den Massenmarkt optimiert. Aber zumindest aus der Sicht des 21. Jahrhunderts hatte das auch seine Nachteile. Henry Fords leistungsfähige Verfahren zur Massenfertigung mit standardisierten austauschbaren Teilen, Fertigungslinien und einförmigen Arbeiten waren unschlagbar wirtschaftlich und brachten den einfachen Konsumenten hochwertige Waren. Aber das System war auch tyrannisch – »jede Farbe, solange sie schwarz ist« – und unflexibel. Die Preisunterschiede zwischen Produkten aus kleinen und jenen aus großen Serien waren so riesig, dass die meisten Käufer sich entscheiden mussten, ob sie bezahlbare Produkte haben wollten oder eine große Auswahl. Beides ging nicht, und die billigen, massenproduzierten Produkte schlugen die Auswahl jedes Mal.
Die langen Rüstzeiten der Maschinen in der Massenproduktion führten dazu, dass Produkte mehrere Jahre bevor sie in den Handel kamen, entwickelt werden mussten, und die Entwicklungskosten stiegen, als die Konsequenzen von Fehlentwicklungen in der Massenproduktion immer größer wurden. (Bestes Beispiel hierfür ist der Edsel, ein Auto, das die Innovationen bei Ford um Jahrzehnte zurückwarf.) Das ist heute immer noch so: Der örtliche Möbelschreiner kann nur mit IKEA konkurrieren, indem er an die Wohlhabenden verkauft. Mit jedem Billy-Regal da draußen (und ich habe selbst einige) sagt der Markt, dass er auf eine Auswahl unter verschiedenen Regalen pfeift, wenn er dafür mehr zahlen muss.
Eine schwerwiegendere Folge des Siegeszugs der Massenproduktion war der Niedergang der Kleinindustrie. Wie im Einzelhandel, wo die örtlichen Fachhändler von Wal-Mart verdrängt wurden, verdrängten (oder übernahmen) die Big Five aus Detroit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Dutzende von Autoherstellern. Dasselbe geschah in der Textil- und Keramikbranche, der Metallwarenindustrie, in der Sportausrüstung und zahllosen anderen Industriebranchen. Sie alle erlagen dem Lockruf der Niedriglöhne im Ausland, während im Inland zur selben Zeit der Lohndruck die Beziehungen zu den Gewerkschaften immer weiter vergiftete.
Viele kleinere Betriebe verloren den Konkurrenzkampf zu Recht: Ihre Produkte waren nicht besser als die importierten Waren, und ihre Kosten waren nicht wettbewerbsfähig. Aber andere mussten aufgeben, weil sie ihre Vertriebskanäle zu den wenigen Konsumenten verloren, die ihre speziellen Waren (oder einfach heimische Produkte) noch haben wollten. Der zermürbende Wettbewerb um die niedrigsten Preise bei den großen Handelsketten erschwerte das Aufspüren von Nischenwaren immer weiter.
Ein halbes Jahrhundert später haben sich zwei Dinge geändert: Dank der Desktop-Fabber und durch den vereinfachten Zugang zu Produktionskapazitäten kann jeder mit einer Idee Geld mit der Herstellung materieller Waren verdienen. Und zweitens kann auch jeder, dank des Internets, seine Waren weltweit verkaufen. Die Einstiegsbarrieren für Unternehmer in die Produktion materieller Waren sinken rasant.
»Märkte der 10000« beschreibt eine erfolgreiche Nischenstrategie für Produkte und Dienstleistungen im Internet. Die Zahl ist groß genug, um ein Unternehmen darauf aufbauen zu können, aber klein genug, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können und größere Konkurrenz zu vermeiden. Es geht dabei um die fehlenden Teile in der Massenfertigung, die Dunkle Materie im Markt – den Long Tail der Dinge. Hier bieten sich Gelegenheiten für kleinere, beweglichere Firmen, die aus eben jenem Markt heraus entstehen, den sie bedienen, und die mithilfe der neuen Werkzeuge einer demokratisierten Fertigung die alten Barrieren in Handel und Produktion umgehen können.
Besser noch, manche Firmen, die in kleinen Nischenmärkten beginnen, können zu großen Unternehmen heranwachsen.
Die ultimative Kombination aus Atomen und Bits
Zu Beginn des Jahres 2009 hätte man bei einem Besuch im TechShop, einem Makerspace in Menlo Park südlich von San Francisco, einen großen, recht schlaksigen Typ namens Jim McKelvey angetroffen, der an einer Werkbank mit einem kleinen Stück Plastik herumhantierte. Allem Anschein nach war er nur einer von vielen, die sich im Umgang mit der CNC-Maschine übten, wenn auch mit einem besonders unscheinbaren kleinen Projekt. Niemand ahnte damals, was dieser kleine Plastikwürfel eines Tages bewirken sollte.
McKelvey war damals 43 Jahre alt und ein Technologieunternehmer aus St. Louis. Im Jahr 1990 hatte er eine der ersten Digital-Publishing-Firmen gegründet, Mira, die während der ersten Multimediawelle von CD-ROMs und Online-Daten vor der Internetära erfolgreich war. In jenen aufregenden frühen 1990er-Jahren trafen er und sein Team sich häufig in einem örtlichen Café zum Brainstorming. Eines Tages erzählte die Besitzerin des Cafés, Marcia Dorsey, dass ihr Sohn sich für Computer interessierte und nach einem Praktikumsplatz suchte. McKelvey lud ihn zu einem Gespräch in die Büros von Mira ein.
Am vereinbarten Termin saß McKelvey über seine Tastatur gebeugt bei dem verzweifelten Versuch, einen Abgabetermin noch einzuhalten, als ihm ein Jugendlicher auf die Schulter tippte und sagte: »Hi, ich bin Jack. Meine Mom sagte, Sie brauchen Hilfe.« McKelvey blickte überrascht auf (er hatte den Termin vergessen), sagte: »Hi. Könnten Sie kurz warten, bis ich das hier fertig habe?«, und machte sich wieder an die Arbeit.
30 Minuten später fiel McKelvey ein, dass er seinen Besucher komplett vergessen hatte. Er sah auf, und zu seiner Überraschung stand Dorsey immer noch an genau derselben Stelle mit an der Seite herabhängenden Armen. Er hatte sich eine halbe Stunde lang nicht gerührt und kein Wort gesagt. Das war ungewöhnlich, sogar für einen Programmierer.
Allerdings war es genauso ungewöhnlich für McKelvey, dass er den Jungen völlig vergessen hatte. (Dorsey erklärte zu seiner Verteidigung, er habe sich bestens damit unterhalten, McKelvey über die Schulter zu sehen und nach dem Fehler in seinem Programmcode zu suchen.) Aber es bedeutete nur, dass sie gut zusammenpassten. McKelvey ist bekannt für seine Eigenarten. Unter anderem verbrachte er drei Jahre damit, sich den dritten Satz von Beethovens »Mondscheinsonate« beizubringen, das bis heute einzige Stück, das er auf dem Klavier spielen kann.
McKelvey mochte Dorsey, und er stellte ihn auf der Stelle ein. Mit der Zeit entwickelten die beiden eine gute und erfolgreiche Beziehung zueinander, zwei der schlausten Computerfreaks in St. Louis, einer zehn Jahre älter als der andere. McKelvey lockte Dorsey langsam aus der Reserve, und Dorsey verblüffte alle mit seinen Programmierkünsten.
Schließlich verkaufte McKelvey Mira und wandte sich der Glasbläserei zu, ein Jugendtraum von ihm, und er beschloss, ein wahrer Experte auf diesem Gebiet zu werden (mehr davon gleich). Dorsey zog nach Oakland und schloss sich einem kleinen Internet-Start-up namens Odeo an, das sich mit Podcasting-Software einen Namen machen wollte.
Ein Jahr verging, Apple integrierte seine eigene Podcasting-Software in iTunes, und Odeo war offensichtlich in Schwierigkeiten. Der Firmengründer, Evan Williams, erkundigte sich bei den Angestellten, ob einer von ihnen eine andere Geschäftsidee hätte. Dorsey hatte zufällig eine: Es ging dabei um ein Konzept, das er einige Jahre zuvor entwickelt hatte, und bei dem es um Status-Updates in Echtzeit ging. Er hackte gemeinsam mit seinen Odeo-Kollegen Noah Glass und Florian Weber sowie einem bezahlten Programmierer ein Stück Software zusammen, das es Menschen erlaubte, Nachrichten im SMS-Stil an andere Nutzer zu senden, die sich als »Followers« angemeldet hatten. Sie nannten diesen Dienst Twttr. Williams und dem Rest des Teams gefiel die Sache. Sie gaben Odeo auf, verteilten das verdiente Geld an ihre Investoren und begannen mit dem Twttr-Konzept eine neue Firma. Sie nannten sie Twitter. Der Rest ist, wie es so schön heißt, Geschichte.
Dorsey hatte es endlich geschafft. Aber Williams leitete Twitter, und Dorsey wollte seine eigene Firma. Er kontaktierte seinen früheren Chef, McKelvey, und sie beschlossen, gemeinsam eine neue Firma zu gründen. Sie hatten ein paar Ideen, worum es dabei gehen sollte, am liebsten irgendwie um Handys. Aber Dorsey hatte eine Wettbewerbsvereinbarung unterschrieben und durfte nichts machen, das Twitter auch nur irgendwie ähnelte. Das schloss ziemlich viel aus (McKelvey kommentierte das trocken mit: »Twitter hat noch viel vor«). Also suchten sie nach einem anderen großen Problem, das sie lösen konnten.
McKelvey erzählte, er habe damals gerade Probleme gehabt, den Verkauf eines Glasprodukts übers Telefon abzuschließen. Eine Frau in Panama wollte einen Wasserhahn aus Glas, der über 20000 Dollar kostete, für ihr Badezimmer kaufen, aber sie hatte nur eine American-Express-Karte, die McKelvey nicht annehmen konnte. Er befürchtete schon, die Beschränkungen der Kreditkartenindustrie würden ihm dieses Geschäft verderben. Und in diesem Moment wusste er plötzlich, was seine und Dorseys Firma machen sollte: Das Bezahlsystem revolutionieren.
Diese Idee führte ihn mit seinem Plastikwürfel schließlich in den TechShop. Dieser kleine Plastikwürfel enthielt ein Lesegerät für Kreditkarten (ein Magnetkopf aus einem Kassettenrekorder), das man in die Audiobuchse eines iPhones einstecken konnte. Wenn jemand eine Kreditkarte durch das Gerät zog, wurde ein Tonsignal erzeugt, das die Software im Handy erkannte, in verwertbare Daten übersetzte und an eine Website verschickte, wo der Bezahlvorgang per Kreditkarte eingeleitet wurde. Dadurch ersetzte das Telefon ein klobiges und teures Kassenterminal. Jeder konnte überall Kreditkarten als Zahlungsmittel annehmen. Man brauchte dazu nur ein Handy und dieses kleine Lesegerät aus Plastik. McKelvey und Dorsey nannten ihre neue Firma Square, weil ihr kleines Gerät eben quadratisch war.
Anders als die bisherigen Firmen von McKelvey und Dorsey verband Square Hardware und Software. Der kleine Stecker fürs Handy stand für die Atome, und die Handy-App und die Webdienste, die darauf aufsetzten, waren die Bits. Damit waren sie in der Elektroindustrie angekommen, ob es ihnen gefiel oder nicht.
Dorsey gefiel es nicht. Er war Programmierer und überzeugt, dass das Problem auch allein durch Software gelöst werden konnte, indem man die Nummern von der Kreditkarte über die Handykamera einlas. Das war jedoch leichter gesagt als getan. »Das stellte sich sogar als richtig schwierig heraus«, sagt McKelvey. »Wenn man die Karte nicht im genau richtigen Winkel vor die Kamera hält, sind die Zeichen nicht lesbar.« Die beiden gerieten darüber in Streit und brachten immer technischere Argumente vor, warum ihre jeweilige Lösung die bessere war. McKelvey sah nur eine Möglichkeit: »Ich musste den Prototyp der Hardware bauen, um ihn davon zu überzeugen, dass Hardware die bessere Lösung war.«
Also ging McKelvey in den TechShop und baute mehrere Testgeräte des Kreditkartenlesers. Tatsächlich hatte er schon ein paar Monate zuvor damit begonnen in der Studentenwerkstatt der Washington University in St. Louis, wo er Glasbläserei unterrichtet. Aber Dorsey und Square waren in San Francisco, und um den Streit zu gewinnen, war McKelvey ins Silicon Valley gekommen, um seinem Gerät den letzten Schliff zu geben.
Die ersten Square-Geräte waren handgemacht. Die nächsten stellte McKelvey mit den CNC-Maschinen im TechShop her, die er direkt mit G-Code fütterte (statt die Geräte in einem CAD-Programm zu entwerfen). Jede Version war kleiner und eleganter als die vorherige. Schließlich war Dorsey überzeugt: Sie würden es mit der Hardware versuchen. Ihr Plan war, Hunderttausende Square-Lesegeräte zu verschenken und das Geld dafür über eine Beteiligung an den Transaktionsgebühren wieder hereinzubekommen, ähnlich wie bei einem Kreditkartenunternehmen. So konnten sie riesige Stückzahlen der Square-Lesegeräte für weniger als einen Dollar pro Stück herstellen. Sie mussten praktisch unzerstörbar und idiotensicher sein. Bei den Größenordnungen, mit denen Square arbeiten musste, konnte ein mechanisches oder elektrisches Problem mit den Lesegeräten die Firma in den Bankrott treiben.
McKelvey wollte selbst und direkt Erfahrungen mit dem Gerät sammeln, und daher stellte er die ersten Prototypen selbst im TechShop her, obwohl er von dieser Art Hardwarekonstruktion kaum Ahnung hatte. Wenn das Unternehmen Millionen dieser Dinger verteilen wollte, sollten sie auch richtig funktionieren. Sie waren das Zugangstor der Kunden zu ihrem Service und die physische Repräsentation der Firma. Das Design und die Produktion an einen Auftragshersteller auszulagern wäre billiger und einfacher gewesen, aber auch riskanter. Wie sollten sie sich für ein Design oder einen Hersteller entscheiden, wenn sie ihr eigenes Produkt nicht richtig verstanden? Daher wollte er die ersten Exemplare selbst herstellen, und jeden Bestandteil kennenlernen, innen wie außen.
»Ich baute 50 von diesen Dingern von Hand. Das kann man mit nichts vergleichen«, sagt McKelvey. »Ich weiß jetzt, was Azimutfehler und Torsionsfehler sind. Die Erfahrung, die Maschine herzustellen und sie direkt unter Kontrolle zu haben, ist ein wichtiger Faktor. Wenn man es mit eigenen Augen sieht, wie beim Spritzgießen die Gussnaht entsteht, dann versteht man, warum es wichtig ist, in welche Richtung man die Spritzeinheit bewegt, wenn man auf Nachdruck umschaltet, um die Schwindung auszugleichen. Ich musste es selbst machen, um die unmittelbare Erfahrung damit zu sammeln. Sonst hätten wir ein klobiges, gemeinschaftlich entworfenes Produkt bekommen. Es hätte länger gedauert, wäre teurer gewesen, und es wäre nicht so cool geworden.«
Für die Massenproduktion suchte McKelvey zunächst in seinem heimischen St. Louis nach einem geeigneten Spritzgießbetrieb, aber keine Firma dort konnte mit dem Auftragsvolumen umgehen oder die Preisvorgaben umsetzen. Also flog er nach China. In Guangdong arbeitete McKelvey die letzten Feinheiten mit einem Ingenieur aus, der kein Englisch sprach. Die beiden arbeiteten bis drei Uhr nachts mit einer veralteten Version des CAD-Programms SolidWorks (die neueste Version von SolidWorks, die in chinesischen Fabriken benutzt wurde, war die von 2007, als die Firma härter gegen Raubkopierer durchgriff). Er hatte den Weg vom Maker zum Industriellen vollendet.
Heute ist Square Schätzungen zufolge mehrere Milliarden Dollar wert und hat mehrere Millionen Kunden. Die Firma hat ihren Geschäftsbereich von einzelnen Transaktionen per Telefon ausgeweitet auf vollständige Kassenterminals auf iPad-Basis und macht dadurch Branchenriesen für Kassensysteme wie NCR Konkurrenz. Das Kreditkartenunternehmen Visa hat in Square investiert, weil das Unternehmen in Square denselben Ehrgeiz erkennt, eine globale Bezahlplattform zu werden, die auf das Handyzeitalter abgestimmt ist, wie Visa es für das Kunststoffzeitalter war. Dorsey ist als Vorstandsvorsitzender zu Twitter zurückgekehrt und leitet die Firma vormittags. Nachmittags und bis spät in die Nacht leitet er Square. Man muss nur die Zahl der Arbeitsstunden vergleichen, um zu wissen, wo seine Prioritäten liegen. Sein Vermögen steckt zum größten Teil in Twitter, das sogar noch mehr Milliarden Dollar wert ist als Square, aber sein Herz hängt an der Neuerfindung des Bezahlsystems.
Treffenderweise befinden sich die Square-Geschäftsräume im vormaligen Gebäude des San Francisco Chronicle, einem Symbol industrieller Macht im 20. Jahrhundert. Früher liefen hier Tag und Nacht riesige Druckerpressen, und ganze Flotten von Lastwagen lieferten riesige Papierrollen, die in Zeitungen verwandelt wurden. Die Zeitungen sind im Niedergang begriffen, die Druckerpressen verschwunden, und die Gewerbefläche wird von Internet- und Maker-Firmen in Besitz genommen. In einem anderen Teil des Gebäudekomplexes, in dem früher Papierrollen gelagert wurden, hat TechShop seine San-Francisco-Filiale eröffnet, und jeden Tag drängen sich dort Menschen wie McKelvey und stellen etwas her, von dem sie hoffen, es könne das nächste große Ding werden.
McKelvey ist immer noch im Vorstand von Square, aber er verbringt den Großteil seiner Zeit in St. Louis. Dort lehrt und praktiziert er die Glasbläserei, die zufällig auch mit seinem Maker-Moment im TechShop zu tun hat.
Die Verbindung besteht darin, dass die Glasbläserei ihren eigenen Maker-Moment vor 30 Jahre erlebte. Für Glaskunst gelten seit 2000 Jahren dieselben Regeln. Um die richtige Formbarkeit bei Glas zu halten, sind hohe und vor allem konstante Temperaturen notwendig. Dazu braucht man riesige Öfen mit Keramikwänden, die die Hitze speichern und für eine gleichmäßige Wärmeverteilung sorgen. Es dauert vier Tage, bis ein Glasofen Betriebstemperatur erreicht, und er darf niemals abkühlen, weil sonst die Wände Risse bekommen. Man muss konstant nachheizen. Das sei der Grund, sagt McKelvey, warum es in der Gegend um Venedig keine Wälder gibt. Die Bäume wurden alle für venezianisches Glas verbrannt.
Für die Glasherstellung brauchte man immer schon Anlagen im industriellen Maßstab, wie jene, in denen heute Tiffany-Lampen hergestellt werden. Aber wie bei allen Industrieanlagen können auch dort nur solche Mainstream-Produkte hergestellt werden, die für eine Fabrik wirtschaftlich sind. Die Kreativität wurde eingeschränkt durch die Notwendigkeit, große Stückzahlen verkaufen zu müssen.
Aber in den frühen 1960er-Jahren entdeckten zwei Glaskünstler, Harvey Littleton und Dominick Labino, die Rezeptur für Niedertemperaturglas, und sie erfanden einen kleinen propanbetriebenen Ofen, um es zu schmelzen. Jetzt konnte ein einzelner Mensch Glas bearbeiten mit einer Ausrüstung, die sich kleine Ateliers oder Kulturzentren leisten konnten.
Das entsprach dem Laserdrucker des PC-Zeitalters oder dem Lasercutter und 3-D-Drucker von heute. Billigere, kleinere und leistungsfähigere Werkzeuge ermöglichten normalen Menschen immer anspruchsvollere Tätigkeiten. Diese Erfindungen demokratisierten in den 1960er-Jahren die Produktionsmittel, die zur Geburt einer lebendigen Glaskunstbewegung führten, deren Teil McKelvey heute ist. Er war Vorsitzender der weltweit größten Vereinigung von Glaskünstlern, hat Lehrbücher über das Handwerk geschrieben, und er leitet ein Atelier, die Third Degree Glass Factory in St. Louis.
McKelvey ist ein klassischer Maker, der aus einem einstigen Hobby ein Unternehmen machte. Dieselben Instinkte brachten ihn 20 Jahre später, als er und Dorsey Square gründeten, dazu, die Hardware in Handarbeit selbst herzustellen. Dadurch kam Square als besseres Produkt früher auf den Markt. Sie konnten den Entwurf immer weiter verbessern und kannten seine Stärken und Schwächen genau, weil sie es selbst gebaut hatten.
Heute ist Square derart erfolgreich, dass einige der weltweit größten Zahlungsdienstleister einen Werbefeldzug gegen Square gestartet haben und ihren Kunden von einem Wechsel abraten. VeriFone, ein Hersteller von Kreditkartenlesegeräten für Kassensysteme, hält die Square-Methode für weniger sicher als die eigene. In einer Werbeanzeige der Firma heißt es: »Der Glasbläser hat ihre Kreditkarte gestohlen.« McKelvey liebt diese Anzeige. Sie erinnert ihn an seine Wurzeln – und an die Gefahr, in die sich große Firmen begeben, wenn sie Maker unterschätzen.