KAPITEL 5
DER LONG TAIL DER DINGE
Massenproduktion ist das Richtige für die Massen. Aber was ist das Richtige für Sie?
An einem Samstag vor wenigen Wochen wollten meine beiden Töchter ihr Puppenhaus umdekorieren. Sie spielen seit einiger Zeit ein Videospiel, Sims 3, praktisch ein virtuelles Puppenhaus, das man mit einer erstaunlichen Auswahl an Möbeln einrichten kann. Auch bei den Bewohnern (den »Sims«) hat man reichlich Auswahl und kann dann ihr Leben in der Sims-Welt verfolgen. Die eine Tochter hatte ihr Sims-Haus im Stil »moderne Karrierefrau« eingerichtet, mit Fitness- und Medienräumen. Die andere Tochter hatte sich für den Stil der 1960er-Jahre entschieden, mit stromlinienförmigen Geräten, Mod-Möbeln und eckigem Swimmingpool.
Wenn die Mädchen ihre »Bildschirmzeit« ausgeschöpft hatten, wollten sie das Spiel in ihrem echten Puppenhaus weiterspielen. Das ist typisch für Kinder, die in der digitalen Welt aufwachsen, wo alles möglich und verfügbar ist. Bei den Sims gibt es Hunderte von Möbeln zur Auswahl. Warum sollte man sich in der materiellen Welt mit weniger zufriedengeben?
Aber das funktioniert im echten Leben nicht immer. Zumindest noch nicht.
Ihr erster Gedanke war, natürlich, zu mir zu kommen und mich zu bitten, neue Möbel für sie zu kaufen. Mein erster Gedanke (nachdem ich »Nein« und »wartet auf eure Geburtstage« gesagt hatte) war, mich zumindest über die vorhandene Auswahl zu informieren. Ich ging ins Internet, und dort fielen mir schnell drei Dinge auf: 1. Puppenmöbel sind teuer; 2. es gibt erstaunlich wenig Auswahl; und 3. was den Kindern am besten gefällt, hat nie die richtige Größe für das Puppenhaus. Sorry, Mädels.
Daher fragten sie mich, zu meiner großen Freude, ob wir die Möbel nicht selbst bauen könnten. Meine Freude darüber, dass sie die Einstellung eines Heimwerkers an den Tag legten, wurde jedoch etwas getrübt von Erinnerungen an frühere gemeinsame Projekte, die nach wenigen Stunden damit endeten, dass Dad allein in der Werkstatt stand und über zerbrochene Holzteile und zerschnittene Finger schimpfte. Und selbst wenn ich durchhielt, endete eine Woche mühsamer Miniaturschreinerei erfahrungsgemäß damit, dass meine unförmigen Holzkreationen im Dachgeschoss des Puppenhauses landeten, weil sie mit der gekauften Einrichtung in den anderen Stockwerken nicht mithalten konnten.
Inzwischen besaßen wir jedoch einen 3-D-Drucker, einen MakerBot Thing-O-Matic, und daher hatte die Geschichte dieses Mal ein anderes Ende. Wir gingen zu Thingiverse, einem Online-Archiv für 3-D-Entwürfe, die Menschen hochgeladen haben. Und dort war es wie bei den Sims: Es gab einfach alles, jede Art von Möbeln, die man sich vorstellen konnte, von französischer Renaissance bis Star Trek, und man konnte alles einfach herunterladen. Wir schnappten uns ein paar viktorianische Stühle und Sofas, passten den Maßstab mit ein paar Mausklicks an unser Puppenhaus an, und drückten auf »bauen«. 20 Minuten später waren unsere Möbel fertig. Sie waren umsonst, schnell fertig, und die Auswahl war sehr viel größer als in der realen Welt oder auch bei Amazon. Wir werden nie wieder Puppenmöbel einkaufen.
Jedem Spielzeughersteller sollte es bei dieser Geschichte kalt den Rücken runterlaufen.
Kodak hat gerade erst Konkurs angemeldet. Die Firma ist ein Opfer der Umstellung weg vom Fotofilm, den man kaufen und entwickeln muss, hin zur digitalen Fotografie, bei der die Fotos kostenlos sind und zu Hause auf dem eigenen Tintenstrahldrucker ausgedruckt werden können. Für Hersteller von billigem Plastikspielzeug könnte dies ein Vorgeschmack auf ihre eigene Zukunft sein.
Natürlich sind materielle Objekte komplexer als zweidimensionale Bilder. Mit unserem MakerBot können wir bisher nur Plastik in wenigen Farben ausdrucken. Die Oberflächen sind nicht so schön wie bei spritzgegossenem Kunststoff, und wir können die farbigen Details nicht genauso fein drucken, wie sie aus den Maschinen oder Schablonen in den chinesischen Fabriken kommen.
Aber das liegt daran, dass der technologische Stand der aktuellen 3-D-Drucker der Punktmatrix aus den 1980er-Jahren entspricht. Die Drucker damals waren laut, einfarbig und grobkörnig. Winzige Nadeln hämmerten gegen ein schwarzes Farbband. Diese Drucker waren kaum besser als eine elektrische Schreibmaschine. Aber heute, nur eine Generation später, gibt es billige und leise Tintenstrahldrucker, die in allen Farben und mit einer Auflösung drucken, die von professionellen Druckern kaum mehr zu unterscheiden ist.
3-D-Drucker stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung. In zehn oder 20 Jahren werden sie schnell und leise sein und viele verschiedene Materialien drucken können, von Kunststoff bis Zellstoff und sogar Lebensmittel. Sie werden mehrere Farbpatronen enthalten, wie Tintenstrahldrucker, und genauso viele Mischfarben ausdrucken können. Man wird noch detailliertere Bilder auf die Oberflächen aller möglichen Objekte drucken können als die besten Spielzeugfabriken heute. Vielleicht wird man sogar elektrische Schaltungen direkt auf Objekte aufdrucken. Dann fehlen nur noch Batterien.
Störung nach Plan
Große Veränderungen finden statt, wenn Industrien demokratisiert werden, wenn sie der Alleinherrschaft der Unternehmen, Regierungen und anderer Institutionen entrissen und an die normalen Leute übergeben werden.
Es wäre nicht das erste Mal, denn es geschieht immer, kurz bevor monolithische Industrien angesichts zahlloser kleiner Wettbewerber zerfallen, wie in der Musikindustrie und in der Zeitungsbranche. Man muss nur die Zugangshemmnisse verringern, und schon strömen die Massen herein.
Die Demokratisierung hat die Macht, die Werkzeuge in die Hände derer zu legen, die am besten damit umgehen können. Wir alle haben unsere eigenen Bedürfnisse, unsere eigenen Fachkenntnisse, unsere eigenen Ideen. Wenn wir alle Werkzeuge in die Hand bekommen, die wir brauchen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, oder sie nach unseren eigenen Ideen anpassen können, können wir gemeinsam die volle Bandbreite an Möglichkeiten eines Werkzeugs ausschöpfen.
Das Internet hat das Verlagswesen, die Fernmeldetechnik und die Kommunikation demokratisiert. Die Folge war, dass immer mehr Menschen immer stärker an der digitalen Welt teilnahmen – es entstand der Long Tail der Bits.
Jetzt geschieht dasselbe bei der Herstellung materieller Gegenstände, und der Long Tail der Dinge entsteht.
Mein erstes Buch, The Long Tail, handelte genau davon, dem kulturellen Wandel hin zu Nischenprodukten, aber vor allem in der digitalen Welt.
Im vergangenen Jahrhundert war die natürliche Bandbreite und Auswahl bei Produkten wie Musik, Filmen und Büchern meistens nicht sichtbar. Die engen »Kapazitätsgrenzen« der traditionellen Verteilungssysteme, der Ladengeschäfte, Sendekanäle und Megaplex-Kinos ließen das einfach nicht zu. Als diese Produkte aber online verfügbar wurden auf digitalen Marktplätzen mit unbegrenzten »Regalflächen«, gab es auch eine entsprechende Nachfrage: Das Monopol der Blockbuster war gebrochen. Der kulturelle Massenmarkt verwandelte sich in einen Long Tail von Mikromärkten, wie jeder weiß, der heute mit Teenagern zu tun hat. (Wir alle sind jetzt Indie!)
Oder anders ausgedrückt: Unsere Spezies hat sich als deutlich vielfältiger erwiesen, als die Märkte des 20. Jahrhunderts vermuten ließen. Die begrenzte Auswahl in den Läden unserer Jugend entsprach den wirtschaftlichen Anforderungen des Einzelhandels und nicht dem eigentlichen Geschmack der Menschen. Jeder von uns ist anders, jeder von uns will und braucht etwas anderes, und das Internet gibt all dem in einer Weise Raum, wie es die materiellen Märkte nicht vermochten.
Das gilt natürlich nicht nur für digitale Produkte. Das Internet hat auch die Angebotsvielfalt an materiellen Produkten für Verbraucher deutlich vergrößert. Aber es hat dies erreicht, indem es den Vertrieb verändert hat, nicht die Produktion.
Für materielle Waren gab es im Vertrieb des 20. Jahrhunderts drei Nadelöhre, die für die begrenzte Auswahl verantwortlich waren. Nur Waren, die alle drei Tests bestanden, kamen in den Verkauf:
- Die Nachfrage nach den Produkten musste so groß sein, dass ein Hersteller sie produzierte.
- Die Nachfrage nach den Produkten musste so groß sein, dass Einzelhändler sie in ihr Sortiment aufnahmen.
- Die Nachfrage nach den Produkten musste so groß sein, dass die Käufer sie fanden (über Werbung oder prominente Platzierung in den Läden).
Das Internet war von Anfang an bei den letzten beiden Punkten sehr hilfreich, wie Amazon gezeigt hat.
Zunächst arbeiteten Amazon und Konsorten nur mit zentralen Auslieferungslagern, ermöglichten später aber auch Drittanbietern den Zugang zu ihren Angebotsplattformen, die den Vertrieb abwickelten und so eine dezentrale Lagerhaltung ermöglichten. Durch dieses Arrangement konnten sehr viel mehr Produkte ins Angebot aufgenommen werden, als ein lokaler Einzelhändler jemals könnte. (Diese Plattformen ähnelten damit dem ursprünglichen Katalogversandhandel, nur unterlag das Angebot auch keiner Begrenzung durch die Seitenzahl der Kataloge mehr, die per Post verschickt wurden.)
Die Internetsuche wurde als Recherchewerkzeug immer beliebter, und so stieß man bald auch auf Waren, für die mangels Nachfrage im stationären Handel nicht geworben wurde.
eBay sorgte indessen für eine entsprechend große Auswahl an Gebrauchtwaren. Zahllose spezialisierte Internethändler betraten den Markt, und Google lieferte die entscheidende Zutat: die Möglichkeit, alles zu finden. Heute ist die Angebotspalette im Web für materielle Waren genauso groß wie für digitale. Die Nadelöhre 2 und 3 fallen kaum noch ins Gewicht.
Aber was ist mit dem ersten Nadelöhr? Wie kann von Anfang an eine breitere Palette von Waren produziert werden? Das Internet hat auch in diesem Punkt zu Fortschritten geführt. Die Fähigkeit des Webs, die »diffuse Nachfrage« auszuschöpfen (also die Nachfrage nach Produkten, für die an keinem einzelnen Ort genug Nachfrage besteht, als dass sie in örtlichen Geschäften geführt würden, deren Verkauf aber Sinn macht, wenn man die Nachfrage danach aus der ganzen Welt aggregiert), führte dazu, dass Hersteller einen Markt für Waren fanden, die den Test des traditionellen Vertriebssystems nicht bestanden hätten. Folglich wurden mehr Nischenprodukte hergestellt, weil online auf dem globalen Markt genug Nachfrage nach ihnen bestand.
Das war jedoch nur der Anfang, denn die wahre Internetrevolution bestand nicht darin, dass man nur eine größere Auswahl an Produkten kaufen konnte, sondern dass man eigene Produkte herstellen und sie an andere verkaufen konnte. Die zunehmende Verbreitung von Digitalkameras führte zu einer Explosion von Videos auf YouTube, digitale Desktop-Tools bewirkten dasselbe für Musik, Verlagswesen und Software. Mit etwas Talent konnte jeder alles herstellen. Niemand wurde mehr von der Teilhabe ausgeschlossen, weil der Zugang zu geeigneten Maschinen oder Vertriebsstrukturen fehlte. Mit Talent und Ehrgeiz fand jeder ein Publikum, selbst wenn man nicht bei der richtigen Firma arbeitete oder den richtigen Bildungsabschluss hatte.
Im Web bestehen die »Waren« immer noch überwiegend aus Kreativität und ihren digitalen Ausdrucksformen, vor allem Text, Bild und Video. Sie konkurrieren mit den Handelsgütern zwar nicht um Verkäufe, aber um Zeit. Ein Blog mag kein Buch sein, aber letzten Endes sind beide nur unterschiedliche Arten der Unterhaltung oder Information. Die größte Veränderung des letzten Jahrzehnts bestand darin, dass die Menschen mehr Zeit damit verbrachten, privat erstellte Medieninhalte zu konsumieren, als mit dem Konsum professioneller Inhalte. Der Aufstieg von Facebook, Tumblr, Pinterest und ähnlicher Websites bedeutet eine gewaltige Verschiebung der Aufmerksamkeit von den kommerziellen Inhaltslieferanten des 20. Jahrhunderts hin zu den privaten Inhaltslieferanten des 21. Jahrhunderts.
Jetzt geschieht dasselbe bei den materiellen Gütern. Statt Kameras und Musikbearbeitungstools geht es heute um 3-D-Drucker und andere Desktop-Prototyping-Werkzeuge. Mit ihnen können Einzelstücke für den eigenen Gebrauch hergestellt werden. Rufus Griscom, ein Webunternehmer und der Gründer von Babble.com, nannte es »die Renaissance des Dilettantismus«.
Gleichzeitig beschreiten die Fabriken der Welt neue Wege. Sie bieten über das Internet eine Produktion auf Abruf als Dienstleistung an für jeden mit einem digitalen Entwurf und einer Kreditkarte. Sie ebnen einer völlig neuen Klasse von Entwicklern den Weg in die Produktion. Entwickler haben so die Möglichkeit, ihre Prototypen in Produkte zu verwandeln, ohne eine eigene Fabrik bauen oder auch nur eine eigene Firma besitzen zu müssen. Industrielle Herstellung ist nur noch ein weiterer »Cloud Service«. Er ermöglicht es, per Webbrowser einen winzigen Teil der gewaltigen industriellen Infrastruktur zu nutzen, wie und wann man ihn braucht. Geleitet werden diese Fabriken von anderen; wir greifen nur bei Bedarf auf sie zurück, so wie wir auch auf die riesigen Serverfarmen von Google oder Apple zurückgreifen, um unsere Fotos zu speichern oder unsere E-Mails zu verarbeiten.
Die globalen Lieferketten sind »größenunabhängig« geworden und können jetzt kleine und große Kunden beliefern, den Bastler in der Garage und Samsung. So drücken es zumindest die Wissenschaftler aus. Alle anderen sagen dazu: Alles ist möglich. Die Macht über die Produktionsmittel liegt jetzt in den Händen der Menschen. Eric Ries, Autor von The Lean Startup, sagt, Marx habe unrecht gehabt: »Entscheidend ist nicht mehr, wer die Produktionsmittel besitzt. Entscheidend ist, wer die Produktionsmittel mietet.«
Die offenen Lieferketten erinnern an die Entwicklung von Web-Publishing und E-Commerce von vor zehn Jahren. Das Internet, von Amazon bis eBay, legte einen Long Tail der Nachfrage nach materiellen Nischenprodukten offen. Heute ermöglichen demokratisierte Produktionswerkzeuge auch einen Long Tail des Angebots.
Der industrielle Kunsthandwerker
Den Long Tail der Dinge gibt es schon seit Jahren, nur nicht in dieser Größenordnung. Sie stoßen drauf, sobald Sie online etwas suchen, das Sie besonders interessiert. Sie besitzen einen Oldtimer, einen alten MG Roadster vielleicht? Ein paar Klicks im Browser, und schon sind Sie auf der Website eines Spezialanbieters, der nichts anderes herstellt als Bowdenzüge für Motorhauben von Automodellen, die seit einer Generation nicht mehr hergestellt werden. Oder Sie suchen einen Schmuckbaum, um Halsketten daran aufzuhängen? Sie beginnen Ihre Suche vielleicht bei Crate & Barrel, aber nur fünf Mausklicks später landen Sie bei Etsy und kaufen dort etwas viel Tolleres und Interessanteres (aber nicht Teureres) von einem Metallkünstler aus Texas. Die ganze Vielfalt ist jetzt frei zugänglich.
Durch den Aufstieg der »Handwerker«-Bewegung und der handwerklichen Produktion in großem Maßstab entstand eine breitere Nachfrage nach Spezialgütern. Derzeit gibt es in Brooklyn jede Menge Anbieter von selbst eingelegtem Gemüse. Hier in Berkeley boomt der Markt für handgemachten Senf; und sogar bei Wal-Mart gibt es inzwischen über 100 verschiedene Senfsorten zu kaufen, darunter viele steingemahlene Sorten. Die örtlichen Schokoladenhersteller, wie Tcho, wetteifern darum, wer die weitreichendste moralisch vertretbare Wertschöpfungskette hat. Viele Firmen behaupten, ihre Produkte seien »Bio« und »Fair Trade«, aber gilt das auch schon für die einzelnen Kakaobohnen? Und werden sie direkt in Ghana eingekauft? Und sind zumindest einige Pflücker namentlich bekannt? Für jemanden, dem das wichtig ist, sind Handwerker die idealen Handelspartner, weil auch ihnen wahnsinnig wichtig ist, was sie tun.
Was zeichnet diese materiellen Nischenprodukte aus, die von Menschen und Gruppen hergestellt werden, die sich nicht nach den wirtschaftlichen Anforderungen der Großindustrie richten?
Zunächst einmal erzielen Nischenprodukte für eine anspruchsvolle Zielgruppe höhere Preise. Die besten Beispiele hierfür sind Designermode und gute Weine.
Spezialgüter mit einzigartigen Eigenschaften polarisieren: Für den einen sind sie perfekt, für andere nicht. Aber Menschen, auf die solche Waren perfekt zugeschnitten sind, sind oft bereit, dafür auch entsprechend zu bezahlen. Exklusivität hatte schon immer ihren Preis, von maßgeschneiderter Bekleidung bis zu schicken Restaurants.
Die Designerfirma i.materialise nennt das »die Macht des Einzigartigen«. In einer Welt, in der Einheitskonsumgüter vorherrschen, ist der beste Weg, um aus der Masse herauszustechen, die Herstellung von Produkten, die individuelle Bedürfnisse befriedigen, keine allgemeinen. Nach Maß angefertigte Fahrräder passen besser. Im Moment ist es noch ein Privileg der Reichen, weil solche Produkte in Handarbeit hergestellt werden müssen. Aber was wäre, wenn sie digital hergestellt werden könnten, sodass durch Komplexität oder bei kleinen Fertigungsserien keine zusätzlichen Kosten entstehen?
Wenn Computer die Fertigungsmaschinen steuern, gibt es inzwischen bei der Produktion jeweils unterschiedlicher Einzelstücke kaum noch Mehrkosten. Jeder Katalog und jede Zeitschrift in der Post mit einer personalisierten Nachricht an den Empfänger ist ein Beispiel dafür, wie eine vormals auf einheitliche Produktion ausgelegte Fertigungsmaschine – die Druckerpresse – durch eine Maschine ersetzt wurde, die auf individualisierte Produktion ausgelegt ist, in diesem Fall einen großen Bruder des Desktop-Tintenstrahldruckers. Ein weiteres Beispiel ist ein Kuchen mit einer raffinierten Zuckerglasur aus dem Supermarkt. Die Glasur wird von einem Roboterarm aufgetragen, der für jede Kuchenglasur gleich lange braucht, egal, ob jeder Kuchen anders verziert wird oder alle gleich. Die individualisierte Kuchenglasur kostet in der Produktion nicht mehr, aber der Supermarkt kann einen höheren Preis dafür verlangen, weil ein solcher Kuchen als wertvoller wahrgenommen wird. Die alten, teuren Spezialmaschinen, die ein Produkt in hohen Stückzahlen produzieren mussten, um die Kosten der Umrüstung zu rechtfertigen, sind ein Auslaufmodell.
Diese Nischenprodukte werden von den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen bestimmt, nicht von den Wünschen und Bedürfnissen der Firmen. Natürlich müssen Firmen gegründet werden, um diese Waren in den benötigten Mengen herzustellen. Aber solche Unternehmer halten an ihren Wurzeln fest und bestätigen häufig, dass sie sich vor allem in den Dienst der Gemeinschaft stellen wollen, und erst an zweiter Stelle das Geldverdienen steht. Waren, die von leidenschaftlichen Kunden hergestellt werden, die den Schritt ins Unternehmertum gewagt haben, strahlen eher handwerkliche Qualität aus und weniger effiziente Massenproduktion.
In gewisser Hinsicht ist dies nur ein Extrembeispiel für die Spezialisierung, die Adam Smith in Der Wohlstand der Nationen als Schlüssel zu einem effizienten Markt erkannte. Menschen sollten nur das tun, was sie am besten können, schrieb er, und dann mit anderen spezialisierten Herstellern handeln. Kein Mensch und keine Stadt sollte versuchen, alles selbst herzustellen, weil eine Gesellschaft als Ganzes durch effiziente Arbeitsteilung mehr erreichen kann: komparativer Vorteil plus Handel ist gleich Wachstum. Was im 18. Jahrhundert gut war, ist im 21. Jahrhundert sogar noch besser. Denn jetzt haben Spezialisten Zugang zu globalen Versorgungsketten, um das Ausgangsmaterial für ihre Waren zu beziehen, und sie haben auch Zugang zu globalen Verbrauchermärkten, um ihre Nischenprodukte zu verkaufen.
Vor fast 30 Jahren sagten zwei Professoren des MIT, Michael Piore und Charles Sabel, diese Veränderungen in ihrem Buch Das Ende der Massenproduktion voraus. Sie vertraten die Auffassung, dass das Modell der Massenproduktion, das die industrielle Produktion des 20. Jahrhunderts bestimmte, nicht unvermeidlich war, und dass es zu weiteren neuen Entwicklungen im Bereich Warenproduktion kommen würde.
»Unter anderen historischen Bedingungen hätten Firmen, die mit einer Kombination aus handwerklichem Können und flexibler Ausstattung arbeiten, eine zentrale Rolle im modernen Wirtschaftsleben einnehmen können. Stattdessen wurden sie in fast allen Bereichen der Industrie von Konzernen verdrängt, die auf Massenproduktion setzten. Hätte sich dieses mechanisierte Handwerk durchgesetzt, stünden Industriebetriebe für uns heute für bestimmte Gemeinschaften und wären nicht die unabhängigen Organisationen, die durch die Massenproduktion allgegenwärtig scheinen.«20
Heute hat die digitale Desktop-Fertigung tatsächlich das »mechanisierte Handwerk« ermöglicht, von dem Piore und Sabel nur träumen konnten. Die Maker-Bewegung führte nicht zu einer Rückkehr zu den Nähmaschinen und lokalen Werkstätten, die vor 100 Jahren von den großen Fabriken aus dem Markt gedrängt wurden. Stattdessen basiert die Maker-Bewegung auf digitaler Hightech-Fertigung und erlaubt es gewöhnlichen Menschen, nach Bedarf große Fabriken für die eigene Herstellung zu nutzen. So werden lokale Erfindungen mit globaler Produktion perfekt kombiniert und Nischenmärkte versorgt, die von Geschmack bestimmt werden, nicht von Geografie. Diese neuen Produzenten werden auf keinen Fall dieselben Einheitsprodukte herstellen, die für die Ära der Massenproduktion typisch waren. Sie werden stattdessen mit Einzelanfertigungen für Einzelkunden anfangen, dann darauf aufbauen und herausfinden, wie viele andere Kunden dieselben Interessen, Leidenschaften und besonderen Bedürfnisse teilen.
Glückswirtschaft
Interessanterweise führt eine solche Hyperspezialisierung nicht notwendigerweise zu maximalem Profit. Sie maximiert eher die Bedeutung. Adam Davidson beschrieb dies im The New York Times Magazine als natürliche Evolution eines wohlhabenden Staates, in dem die Grundbedürfnisse der Mittelschicht höherer Gesellschaftsschichten mehr als befriedigt sind:
»In der Glücksforschung wird recht überzeugend argumentiert, dass Menschen, sobald sie ein gewisses Maß an Wohlgefühl erreicht haben, bereit sind oder sogar danach streben, mögliche Einkünfte durch einen gut bezahlten, aber wenig anregenden Job gegen eine schlechter (aber ausreichend gut) bezahlte, aber befriedigendere Arbeit einzutauschen. Forschungsergebnisse des Wirtschaftswissenschaftlers Erik Hurst aus Chicago legen nahe, dass die Hälfte aller Unternehmer mit ihrer Firmengründung ebenso nach Glück strebt wie nach Profit.«21
Außerdem schätzen Kunden Produkte eher mehr, die ihnen das Gefühl geben, an der Entstehung beteiligt gewesen zu sein, egal, ob sie dafür einen Bausatz zusammengebaut oder die Entwickler nur online ermutigt haben. Forscher nennen dies den »IKEA-Effekt«, und er entstand ursprünglich in der Hauswirtschaft. Der Verhaltensökonom Dan Ariely und Kollegen von der Duke University schrieben darüber in einem Aufsatz:
»In den 1950er-Jahren kamen Fertigbackmischungen für Kuchen auf den Markt. Sie waren Teil breit angelegter Bemühungen, das Leben der amerikanischen Hausfrau zu erleichtern, indem die manuelle Arbeit minimiert wurde. Aber die Hausfrauen lehnten diese Produkte zunächst ab: Die Mischungen machten das Kochen zu einfach und werteten ihre Arbeit und ihre Fähigkeiten ab. Daraufhin änderten die Hersteller das Rezept ab, sodass jetzt ein Ei hinzugegeben werden musste. Vermutlich gibt es verschiedene Gründe, warum diese Veränderung zu einer größeren Akzeptanz führte, aber der eigene Arbeitsbeitrag schien eine entscheidende Zutat zu sein.«22
Die Autoren des Aufsatzes hatten eine Studie mit IKEA-Möbeln durchgeführt. Als die Teilnehmer der Studie vor die Wahl gestellt wurden, entweder IKEA-Möbel zu kaufen, die sie selbst zusammengebaut hatten, oder solche, die andere zusammengebaut hatten, boten sie für ihre Eigenbauten 67 Prozent mehr. Derselbe Versuch wurde mit Lego-Bausätzen und Origami-Figuren durchgeführt. In allen Fällen waren die Testpersonen bereit, mehr für etwas zu bezahlen, zu dem sie mit ihrem eigenen Schweiß beigetragen hatten. Das ist die Maker-Provision, der ultimative Schutz vor Kommerzialisierung.
Egal in welcher Nische – Ersatzteile für Mountainbikes, Zubehör für Oldtimer, Schutzfolien für Handys oder andere Spielereien: In allen Bereichen entsteht eine Welle neuer Mikrounternehmen, die online verkaufen. Zwar ist jeder Markt anders, aber eines haben diese neuen Kreativen alle gemeinsam: Sie waren einst Konsumenten, die etwas haben wollten, das es noch nicht gab. Statt sich mit dem zufriedenzugeben, was auf dem Markt angeboten wurde, erschufen sie selbst etwas Besseres. Und sobald das erste Exemplar fertiggestellt war, wurde es immer einfacher, mehr davon herzustellen. So entstanden aus den Reihen leidenschaftlicher Konsumenten neue kleine Unternehmen.
Welche Bedeutung hat »Handwerk« in einer digitalen Welt? Mario Carpo, ein italienischer Architekturhistoriker, schrieb in seinem Buch Alphabet und Algorithmus aus dem Jahr 2012: »Variabilität ist das Kennzeichen aller handgefertigten Produkte.« Das überrascht niemanden, der schon einmal einen maßgeschneiderten Anzug gekauft hat. Aber er fährt fort:
»Heute kann derselbe Differenzierungsprozess sehr viel stärker im Voraus festgelegt, programmiert und bis zu einem gewissen Grad gestaltet werden, als in den Zeiten der manuellen Technik vorstellbar war. Variabilität wird jetzt zum Bestandteil einer automatisierten Planungs- und Produktionskette.«23
Ein gutes Beispiel hierfür ist das Internet selbst. Jeder von uns erlebt das Internet anders. Wenn wir die Websites großer Internethändler wie Amazon besuchen, wird die Startseite speziell für uns angepasst. Sie zeigt dann das an, von dem die Algorithmen der Website annehmen, dass wir es mögen. Selbst auf Seiten mit statischen Inhalten sind die Werbeanzeigen unterschiedlich. Sie werden durch Software eingefügt, die unser Verhalten in der Vergangenheit auswertet und unsere zukünftigen Handlungen vorhersagt. Wenn wir durchs Internet surfen, durchsuchen wir es eigentlich. Dabei benutzen wir nicht nur unterschiedliche Suchbegriffe, sondern jeder Nutzer erhält mit denselben Suchbegriffen unterschiedliche Ergebnisse, je nach persönlicher Suchhistorie.
Carpo schreibt: »Das ist, vereinfacht ausgedrückt, die goldene Formel, die Google zu einem sehr reichen Unternehmen gemacht hat. Variabilität, die in einer traditionell mechanischen Umgebung zum Problem werden konnte … wurde in der neuen digitalen Umgebung zu einem Aktivposten – sogar zu einem der gewinnträchtigsten.«
Information enthalten
Maßgeschneiderte Anzüge und Bauernmärkte gab es schon immer. Was ist jetzt anders? Die einfache Antwort lautet: Die Heimwerkerkultur traf plötzlich auf die Internetkultur, und digitales Design bildet die Schnittstelle zwischen diesen beiden Kulturen: materielle Produkte, die zunächst auf dem Bildschirm entstehen.
Ein Blick in einen Apple-Store genügt schon: All die glänzenden Objekte, alle wunderschön gestalteten und produzierten Stücke aus Titan, hochwertigem Kunststoff und Schaltkreisen begannen ihre Existenz irgendwo auf einem Bildschirm. Dasselbe gilt für einen Nike-Store oder einen Autohändler.
Materielle Produkte sind immer öfter nur digitale Information, die mit Robotertechnologie wie CNC-Fräsen und Bestückungsautomaten, die Leiterplatten drucken, in eine physische Form überführt werden. Diese Information besteht aus einem Entwurf, der in Anweisungen für automatisierte Produktionsanlagen übersetzt wird. Man könnte sagen, dass Hardware heutzutage überwiegend aus Software besteht und Produkte kaum mehr sind als geistiges Eigentum, das in Konsumgüter integriert wird. Dabei kann es sich um Code handeln, der Standardchips in Kleingeräten steuert, oder Dateien mit 3-D-Entwürfen, die eine Produktionslinie steuern.
Je mehr Produkte zu Information werden, umso mehr kann man sie wie Information behandeln: Sie können von allen gemeinschaftlich erzeugt, online und weltweit veröffentlicht, neu zusammengestellt oder völlig überarbeitet werden, sie können verschenkt oder auch geheim gehalten werden. Kurz: Atome sind die neuen Bits, weil sie immer mehr zu Bits gemacht werden.
Das Ergebnis ist, dass wir heute das erleben, was Joseph Flaherty, der Autor des Replicator-Blogs, das »mooresche Gesetz der Atome« nennt. Das originale mooresche Gesetz, benannt nach dem Intel-Ingenieur Gordon Moore, beschreibt die Verdopplung der Rechenleistung pro Dollar alle 24 Monate, von der die Computerindustrie seit den 1970er-Jahren geprägt wurde. Dieses exponentielle Wachstum ist eine Folge der sogenannten »zusammengesetzten Lernkurve«: Bahnbrechende Entwicklungen in der Halbleiterforschung gibt es häufig (etwa alle drei Jahre). Sie bauen jeweils aufeinander auf und erhöhen so die Fortschrittsgeschwindigkeit erheblich.
Warum kommt es dann nicht in allen Branchen so schnell zu Fortschritten? Weil die wissenschaftliche Forschung über Halbleiter noch relativ jung ist. Sie basiert auf den Durchbrüchen in der Quantenmechanik- und Materialforschung des frühen 20. Jahrhunderts, einer bemerkenswerten Zeit voller Entdeckungen, die einen völlig neuen Teilbereich der Physik eröffneten. »Es gibt viel Spielraum nach unten«, lautet ein berühmtes Zitat von Richard Feynman über die atomare Ebene der Materie, und wir sind immer noch dabei, diesen Spielraum auszuloten.
Die industrielle Entsprechung hiervon ist nicht mit einer völlig neuen Physik vergleichbar. Es handelt sich dabei nur um die Kombination von Technologien, die das originale mooresche Gesetz uns beschert hat: Computer, digitale Information, das Internet und, vor allem, miteinander verbundene Menschen.
Remix der materiellen Welt
Wie umfangreich diese Veränderungen sind, wird leicht unterschätzt, denn auf den ersten Blick scheint sich der Herstellungsprozess nicht sehr verändert zu haben. Mein Großvater entwarf seine Maschinen auf Papier und baute die Prototypen von Hand in seiner Werkstatt. Ich erstelle meine Entwürfe mit CAD, und wenn ich einen Prototyp haben will, schicke ich meine Daten an meinen Desktop Fabricator oder an den Industrieroboter eines Dienstleisters. Aber am Ende beider Prozesse steht bei uns beiden ein Prototyp. Was ist dann so großartig an meiner Vorgehensweise?
Die Antwort liegt in den einzigartigen Eigenschaften digitaler Information. Es handelt sich um einen scheinbar kleinen Unterschied: Ob Produkte als physische Objekte mit anderen geteilt werden oder als digitale Beschreibungen von physischen Objekten. Schließlich ist es doch egal, welche Form die Anleitung hat, wenn man die Produkte so oder so herstellen muss?
Doch in den letzten Jahrzehnten stellte sich heraus, dass es sehr wohl einen Unterschied gibt: Digitale Daten können praktisch kostenlos und ohne Qualitätsverlust kopiert und mit anderen geteilt werden. Entscheidender ist jedoch, dass sie genauso leicht verändert werden können. Wir leben in einer »Remix«-Kultur: Alles wird von etwas inspiriert, das vorher schon da war, und Kreativität zeigt sich sowohl in der Neuinterpretation vorhandener Werke als auch in der Schöpfung neuer Werke. Das war schon immer so (die Griechen behaupteten, es gebe nur sieben verschiedene Handlungen, und alle Geschichten unterschieden sich nur in einzelnen Details von einer dieser Handlungen), aber es war noch nie so einfach wie heute. Mit dem Werbeslogan »Rip. Mix. Burn.« ermutigte Apple Musikfans dazu, Musik zu kopieren, neu zu mischen und zu brennen. Analog dazu predigt Autodesk jetzt »Rip. Mod. Fab.« (Objekte mit 3-D-Scanner erfassen, sie in einer CAD-Anwendung verändern und dann mit einem 3-D-Drucker ausdrucken).
Die Möglichkeit, einfach ein »Remix« digitaler Daten herzustellen, fördert die Bildung von Gruppen. Sie lädt zum Mitmachen ein. Man muss mit einer Erfindung nicht bei null anfangen und auch keine völlig neue Idee haben. Man kann einfach als Teil einer Gemeinschaft zur Verbesserung bestehender Ideen oder Entwürfe beitragen. Die Zugangshindernisse für eine Teilnahme sind niedriger, weil es einfacher ist, digitale Daten zu verändern, als sie selbst völlig neu zu erstellen.
Mein Großvater arbeitete allein an seinen Erfindungen, nicht weil er besonders ungesellig war, sondern weil es keine einfache Möglichkeit gab, sie mit anderen zu teilen. Ich bin wahrscheinlich nicht extrovertierter als er, aber weil mein Medium digital ist, ist das Teilen für mich selbstverständlich. Durch Teilen entstehen Gemeinschaften. Und die Stärke von Gemeinschaften sind Remixe, auszuloten, was ein Produkt alles sein kann, es dadurch zu verbessern und es zu verbreiten, schneller, als jeder Einzelne oder eine einzelne Firma es könnte.
Man darf sich den digitalen Entwurf eines Produkts nicht als Bild davon vorstellen, wie es aussehen soll, sondern als mathematische Gleichung des Herstellungsprozesses. Das ist keineswegs metaphorisch gemeint, denn so funktioniert ein CAD-Programm tatsächlich. Wenn man am Bildschirm ein 3-D-Objekt zeichnet, schreibt der Computer eine Serie geometrischer Gleichungen, die eine Maschine anweisen kann, das Objekt in jeder Größe und aus jedem Material zu reproduzieren, unabhängig davon, ob es Pixel am Monitor sind oder Kunststoff aus einem Drucker. Diese Gleichungen beschreiben zunehmend nicht nur die Form des Produkts, sondern auch seine physikalischen Eigenschaften, welcher Teil biegsam oder steif ist, welcher Teil Elektrizität leitet und welcher Teil Hitze isoliert, wo es glatt und wo es rau ist.
Alles ist jetzt also ein Algorithmus. Und genau wie jede Google-Suche einen Algorithmus benutzt, um für jeden Anwender ein anderes Ergebnis auszugeben, so können Algorithmen auch Produkte an die Bedürfnisse der Kunden anpassen.
Der Architekt Greg Lynn entwarf für sein Projekt 99 Teapots eine Teekanne mit einem CAD-Programm und ließ die Software dann 99 Remixe davon erstellen. Für jede einzelne Kanne wurde eine Gießform aus Grafit hergestellt, in der Titan zur Explosion gebracht wurde, um jede Teekanne einzigartig zu machen. (Bei einem Stückpreis von bis zu 50000 Dollar handelte es sich dabei eher um Kunstwerke als um Teegeschirr, aber der Herstellungsprozess war dabei genauso interessant wie das Produkt.)
Lynn erklärte, die Erschaffung solcher Formvariationen sei die eigentliche Aufgabe moderner Designer. In einer Rede bei der TED-Konferenz im Jahr 2005 sprach er über die Herausforderungen, vor der die Designer von BMW ständen: Das Unternehmen arbeitet immer mit mehreren Dutzend Designs gleichzeitig, von der 3er-Reihe für 30000 Dollar bis zur 7er-Reihe für 70000 Dollar. Alle BMW-Autos sollen »aussehen wie BMWs«, das heißt, es soll eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen ihnen bestehen. Aber wenn der doppelt so hohe Preis der 7er-Reihe gegenüber der 3er-Reihe gerechtfertigt sein soll, dürfen sie sich nicht zu ähnlich sein. Stattdessen sollte ein 7er mehr den anderen Modellen der 7er-Reihe ähneln.
Was macht einen BMW zu einem BMW? Und was macht einen 7er-BMW zu einem 7er-BMW? An den technischen Daten allein kann es nicht liegen. Es muss ein gemeinsames ästhetisches Element geben, das sich nicht in Worte fassen lässt, aber leicht erkannt wird. Vor Jahrzehnten zeichnete die Fähigkeit dazu einen Meisterdesigner aus, und wenn man für BMW oder Apple arbeitet, also Unternehmen, die sich über ein unverwechselbares Design definieren, ist das wahrscheinlich auch heute noch so. Aber heute übernimmt in den meisten Firmen ein Algorithmus diese Aufgabe. Software wird immer mehr zur treibenden Kraft hinter dem Designprozess. Die Grundzüge werden von Menschen festgelegt, aber die Details und Variationen werden von Programmen ergänzt, die den Vorgaben von Materialeigenschaften und effizienter Produktion folgen und leicht für zahllose Varianten abgewandelt werden können.
Carpo erklärt es konkret: »Algorithmen, Software, Hardware und numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen stellen die neuen Standards im Produktdesign dar … Beim mechanischen Prägedruck wird mehreren Objekten dieselbe Form eingeprägt, während bei einem algorithmischen Prägedruck Form und Tiefe des Drucks von einem Objekt zum anderen verändert und abgewandelt werden können.«
Das klingt vertraut? Es klingt nach der »individualisierten Massenfertigung«, die die erste Welle des Internethandels vor zehn Jahren versprach. Wenn ein Produkt nach Wunsch gebaut werden kann, warum sollte es dann nicht auch nach Wunsch entworfen werden? Zumindest könnte man dem Kunden die Möglichkeit bieten, das Produkt an seinen Geschmack anzupassen. Dells Erfolg mit kundenspezifischen Computern schien eine Ära einzuläuten, in der alles auf diese Weise hergestellt und verkauft würde, von Autos bis Kleidung.
Aber diese Ära gab es nicht, zumindest nicht im erwarteten Umfang. Autos werden, zum Beispiel, vor allem nach Verlässlichkeit ausgesucht. Je mehr unterschiedliche Alternativen es im Produktionsprozess gibt, umso eher steigt die Fehlerquote. Ohne ein perfektes 3-D-Modell der Kunden (und ein telepathisches Wissen über ihre Vorlieben) kann man Kleidung nur schwer nach Maß fertigen, weswegen Schneider auch heute noch bei Männern die Beininnenlänge messen.
Die bekanntesten Beispiele für individualisierte Massenfertigung sind auch heute noch trivial, und vor allem schon lange nicht mehr neu: NikeiD-Schuhe (wo man eigene Muster für Standardsportschuhe entwerfen kann), individuell bedruckte M&Ms und Ähnliches mehr. Dass der eigene Name auf die Rückseite eines iPad gedruckt wird, ist schwerlich eine industrielle Revolution.
Selbst bei Dell gibt es kaum noch individualisierte Massenfertigung. Heute kann man nur noch unter den Standardmodellen auswählen mit zwei oder drei Wahlmöglichkeiten für Speicher, CPU, Festplatte und Grafikkarte, und wenn man sich nicht für die beliebteste Kombination entscheidet (die Dell auf bewährte Art in Serie herstellt), verzögert sich die Auslieferung um zwei zusätzliche Wochen. Autohersteller machen es genauso. Sie alle stellten fest, dass mehr Auswahl zu mehr Qualitätsschwankungen führt und die Lagerbestände schwerer kalkulierbar macht. Wenn Konsumenten vor die Wahl gestellt werden zwischen unbegrenzt vielen Varianten und Produkten, die billig, verfügbar und verlässlich sind, entscheiden sich die meisten für die sichere Alternative: die Einheitsversion.
Entsprechend selten sind auch die Angebote, wo Kunden ihre eigenen Produkte online entwerfen können. Threadless (T-Shirts), Lulu (Veröffentlichungen von Büchern im Selbstverlag), CafePress (Kaffeetassen und anderer Kleinkram) und ähnliche Firmen sind gut im Geschäft, aber sie sind weniger Musterbeispiele für individualisierte Massenfertigung als Plattformen für Kreativität. Sie ermöglichen den Kunden lediglich, kleine Chargen von standardisierten Grundprodukten herstellen zu lassen, von T-Shirts, Tassen und gebundenem Papier.
Daher werde ich über die »individualisierte Massenfertigung« auch nicht mehr viele Worte verlieren. Was das neue Industriemodell allerdings hervorgebracht hat, ist ein Massenmarkt für Nischenprodukte. Dabei geht es nicht um Stückzahlen von zehn Millionen (Masse) oder eins (individualisierte Masse), sondern 10000. Man muss nicht mehr große Mengen eines Produkts verkaufen, damit es den Weltmarkt und ein großes Käuferpublikum erreicht, denn diese Produkte liegen nicht in den Regalen von Wal-Mart. Stattdessen läuft der Handel über E-Commerce-Seiten, wo immer anspruchsvollere Kunden, von sozialen Medien und Mundpropaganda beeinflusst, Spezialprodukte online kaufen.
Neil Gershenfeld, der MIT-Professor, in dessen Buch Fab: The Coming Revolution on Your Desktop die Grundsätze der Maker-Bewegung schon zehn Jahre zuvor beschrieben wurden, beschrieb seine Erkenntnis in einer Rede bei der Maker Faire 2011 folgendermaßen:
»Ich erkannte, dass die Killer-App für die digitale Herstellung die Personal Fabrication ist. Nicht die Möglichkeit, etwas herzustellen, das man bei Wal-Mart kaufen konnte, sondern etwas herzustellen, das man nicht bei Wal-Mart kaufen konnte.
Das ist genau wie bei der Umstellung von Großrechnern auf Personal Computer. Sie wurden nicht für dasselbe benutzt – Personal Computer gibt es nicht für die Inventur oder für Gehaltsabrechnungen. Stattdessen wurden Personal Computer für persönliche Angelegenheiten benutzt, von E-Mails bis Videospielen. Bei Personal Fabricators wird das genauso sein.«24
Small Batch
Der Blogger Jason Kottke suchte lange nach einer Bezeichnung für diese neue Art des Unternehmertums, diese Heimindustrie mit globaler Reichweite, die auf Nischenmärkte mit verteilter Nachfrage ausgerichtet ist. »Boutique« klang zu pompös, und »Indie« traf es nicht ganz. Bei anderen las er: »Handwerker, Kunsthandwerker, maßgeschneidert, cloudless, Studio, Atelier, Long Tail, agil, Bonsai-Unternehmen, Krämer, kleiner Maßstab, spezial, anatomisch, großes Herz, GTD-Firma, Dojo, Haus, Tempel, Koterie und Disco Business«. Aber nichts davon schien den Kern der Bewegung wirklich zu erfassen.
Also schlug er »Small Batch« (wörtlich: kleine Charge) vor, ein Begriff, der meistens im Zusammenhang mit Bourbon Whiskey gebraucht wird, und dann für sorgfältiges Handwerk steht. Aber es kann sich auch allgemein auf Firmen beziehen, die mehr Wert auf die Qualität ihrer Produkte legen als auf Verkaufszahlen. Sie machen lieber etwas mit Leidenschaft als für die Masse. Heute hat jeder Zugang zu Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten und damit durchaus diese Wahlmöglichkeit. Wal-Mart, mit allen damit verbundenen Kompromissen, ist nicht mehr der einzige Weg zum Erfolg.
Eine Million Bastler in ihren Garagen mit ihrem gesammelten Potenzial stehen an der Schwelle zu den globalen Märkten, denn ihre Ideen gehen jetzt direkt in Produktion, sie brauchen keine Finanzierung und keine Werkzeuge mehr dazu. »Drei Typen mit Laptops« war eine gebräuchliche Beschreibung für ein Internet-Start-up. Jetzt trifft diese Beschreibung auch für Hardwarefirmen zu. »Hardware wird immer mehr wie Software«, schrieb der MIT-Professor Eric von Hippel.
Das Internet war nur die Feuerprobe dafür, wie ein offenes, auf Zusammenarbeit beruhendes Industriemodell nach dem Bottom-up-Prinzip aussehen konnte. Jetzt erreicht die Revolution die reale Welt.