KAPITEL 9
DIE OFFENE ORGANISATION
Um Dinge auf neue Art herzustellen, muss man auch Firmen auf andere Art aufbauen.
Mitte der 1930er-Jahre dachte der frischgebackene Absolvent der London School of Economics, Ronald Coase, über eine Frage nach, die vielen Menschen wahrscheinlich albern erschien: Wozu existieren Firmen? Warum verpflichten wir uns einer Institution und versammeln uns in einem Gebäude, um Dinge zu erledigen? Die Antwort, die er schließlich fand, veröffentlichte er in seinem wegweisenden Artikel »The Nature of the Firm« aus dem Jahr 1937: Firmen existieren, weil sie die »Transaktionskosten« minimieren – Zeit, Ärger, Missverständnisse und Fehler.33
Wenn Menschen ein gemeinsames Ziel haben, etablierte Rollen, Zuständigkeiten und Kommunikationswege, sind Aufgaben schnell erledigt. Man dreht sich einfach zu der Person am Arbeitsplatz nebenan um und fordert sie auf, ihre Arbeit zu tun.
Bei einem Interview aus dem Jahr 1990 deckte Bill Joy, Mitgründer von Sun Microsystems, mit einer beiläufigen Bemerkung eine Schwachstelle in Coases Modell auf: »Egal, wer man ist, die klügsten Leute arbeiten für jemand anderen«, bemerkte er. Dieser Ausspruch wurde später als »Joy’s Law« bekannt. Er meinte damit, dass wir um einer Minimierung der Transaktionskosten willen nicht mit den besten Leuten zusammenarbeiten, sondern mit denen, die unsere Firma einstellen konnte. Selbst bei den besten Firmen ist dieses Verfahren bestürzend ineffizient.
Joy griff mit seiner Bemerkung nur die Arbeit eines Zeitgenossen von Coase auf, Friedrich von Hayek. Während Coase die Existenz zentralisierter Organisationen erklärte, brachte Hayek Argumente dafür vor, warum es sie nicht geben sollte. In seinem eigenen richtungsweisenden Aufsatz »Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft« von 1945 wies Hayek auf die ungleiche Verteilung von Wissen unter den Menschen hin und darauf, dass zentral geplante und koordinierte Organisationen niemals auf verteiltes Wissen zurückgreifen können.34 (Seiner Meinung nach können das nur freie Märkte.)
Ein halbes Jahrhundert später, als Joy sich ähnlich äußerte, war Sun Microsystems eine der erfolgreichsten Hightech-Firmen der Welt. Mit seiner Bemerkung warnte er davor, sich auf den eigenen Lorbeeren auszuruhen. Sun glaubte zwar, die besten Ingenieure und die beste Technologie zu haben, aber es gab mehr gute Leute außerhalb der Firma als innerhalb. Ganz gleich, was Sun unternahm, es bestand immer die Möglichkeit, dass die Konkurrenz von außen besser war. Gegen offene Innovationen kamen auch die stärksten Einzelfirmen nicht an. Und tatsächlich wendete sich das Blatt für Sun, und heute ist die Firma kein unabhängiges Unternehmen mehr. (Sun gehört jetzt zu Oracle. Joy hat die Firma verlassen und ist heute Risikoinvestor.)
Das Prinzip gilt heute noch. Man muss sich dazu nur einmal ansehen, wie selbst die besten Firmen bei der Personalsuche vorgehen, zum Beispiel Apple: Zunächst einmal befindet sich der Firmensitz in den Vereinigten Staaten, und die meisten Mitarbeiter hat die Firma in Cupertino, Kalifornien. Also haben Menschen, die bereits in den Vereinigten Staaten leben oder legal im Land arbeiten können, schon einmal bessere Chancen, und ebenso jene, die in der Gegend um San Francisco leben oder bereit sind, dort hinzuziehen. (In Cupertino ist es wunderschön, aber wenn Ihr Partner die Familie in Rom oder Chiang Mai nicht verlassen will, zählt das mehr.)
Wie alle Firmen stellt auch Apple lieber jemanden ein, der im fraglichen Bereich bereits Erfahrung hat. Auch Abschlüsse von guten Universitäten sind gern gesehen, weil sie auf Intelligenz und eine positive Arbeitsmoral hindeuten. Steve Jobs war zwar ein genialer Schulabbrecher, aber bei Apple gibt es nicht viele Angestellte mit einer ähnlichen Biografie. Die Firma mag mit »Think different« werben, aber ihr Personal wählt sie genauso aus wie jedes andere gute Unternehmen: nach beruflicher Qualifikation.
Sie kann auch nur Menschen einstellen, die eingestellt werden wollen. Damit fallen all jene weg, die ihren Job bei einer anderen Firma nicht aufgeben wollen. Kinder werden kaum eingestellt, ebenso wenig ältere Menschen und Straftäter, egal, wie klug sie sind. Es wird auch niemand eingestellt, der keine Geheimnisse bewahren kann und sich nicht an die Bedingungen im Arbeitsvertrag halten will, und so weiter.
Doch in jeder dieser Ausschlusskategorien gibt es kluge, sogar brillante Menschen. Doch Apple ist eine Firma und keine offene Gruppe, daher gilt Joy’s Law auch für sie.
Gruppen sind eher egalitär, was zumindest zum Teil daran liegt, dass sie nicht denselben gesetzlichen Verpflichtungen und Risiken unterliegen wie eine Firma. Sie müssen im Gegensatz zu Firmen keine Referenzen überprüfen und auch keinen Vertrag mit jemandem abschließen, bevor er oder sie sich beteiligen kann. Gruppen können mit ihren Mitgliedern größere Risiken eingehen, weil die Konsequenzen, wenn es mal nicht funktioniert, sehr viel geringer sind, wenn man niemandem ein Gehalt zahlen muss. (Was nicht bedeutet, dass man für diese Arbeit nie Geld bekommen kann. Aber Belohnungen kommen in der Regel erst nach getaner Arbeit und nicht als Monatsgehalt.)
Natürlich können Gruppen nicht alles, und die Weltwirtschaft ist auch nicht durch ehrenamtliche Arbeit allein aufrechtzuerhalten. Joy wies nur darauf hin, dass sich der Arbeitsmarkt verändert. Dank des Internets muss man sich nicht mehr mit der Person begnügen, die nebenan sitzt. Sie können die am besten geeignete Person finden und mit der Arbeit beauftragen, selbst wenn Sie in Detroit sitzen und die andere Person in Dakar. Vor allem aber finden diese Menschen Sie. In Open-Innovation-Gruppen wählen die Teilnehmer selbst aus, wo sie mitarbeiten. Menschen werden von coolen Projekten und cleveren Menschen angezogen, und wenn das Projekt in der Öffentlichkeit stattfindet, dann können sie es finden. Ich habe das in meiner eigenen Robotik-Community selbst erlebt.
Ein höchst ungewöhnlicher CEO
Wenige Monate nach dem Start von DIY Drones, als wir erst wenige Hundert Mitglieder hatten, meldete sich ein Typ namens Jordi Muñoz an und postete einen Link zu einem coolen Projekt, das er mit einem neuen Open-Source-Mikroprozessorboard namens Arduino durchgeführt hatte: Er hatte herausgefunden, wie man damit einen Spielzeughelikopter über einen Nintendo-Spielecontroller steuern konnte.
Sein erstes Posting im Forum begann so: »Englisch ist nicht meine Muttersprache, sorry, falls ich bei der Beschreibung des Projekts Fehler gemacht habe. Ich habe Beschleunigungssensoren aus einem Nintendo-Wii-Nunchuk ausgebaut und damit einen Autopiloten für meinen RC-Helikopter gebastelt.« Er hängte ein paar Fotos des Helikopters an, der mit Leiterplatten und einem Drahtgewirr aufgerüstet war, und kurz danach postete er ein Video des Helikopters im Flug.
Sein Posting erregte schnell Aufmerksamkeit. In einem Antwortbeitrag wurde er ermutigt: »Dein Englisch ist sehr gut; mach dir keine Gedanken wegen der Übersetzung; ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und [das] Video ist toll. Du hast da einen großartigen Helikopter zusammengebaut. Es ist toll, dass Menschen auf so unterschiedliche Ideen kommen, und sie am Ende tatsächlich funktionieren.«
Ich war ebenfalls beeindruckt. Ich hatte Arduino noch nie benutzt, aber nach Muñoz’ Bericht sah ich mir die Plattform etwas genauer an. Ich nahm Kontakt mit ihm auf und stellte ihm ein paar Fragen über Arduino. Mir gefiel seine Energie, und mich beeindruckten seine mutigen Experimente und die Leichtigkeit, mit der er Konzepte der Programmierung erfasste, die ich nur mühsam verstanden hatte. Ich hatte das Gefühl, dass er an einer großen Sache dran war. Instinktiv fand er immer aufregendere Technologien, von Sensoren, auf die er stieß und für die er Anwendungen fand, bis zu Algorithmen, die er in obskuren Veröffentlichungen fand.
Schließlich machten wir bei DIY Drones ein paar Projekte zusammen, zuerst einen Flugzeugautopiloten und dann ein Controllerboard für ein Luftschiff. Wir tauschten Designs für Leiterplatten aus und verbrachten beide die Abende mit einem Lötkolben in der Hand über unsere jeweiligen Arbeitstische gebeugt, fügten Komponenten ein und testeten sie. Er brachte mir bei, wie man Arduino programmiert, und er verriet mir, wo man am besten Komponenten kaufen und die Boards bauen lassen konnte. Ich schrieb die Beiträge für den Blog über unsere Fortschritte und dokumentierte die Projekte in Online-Tutorials.
Am Anfang waren wir nur zwei Hobbyelektroniker, die ihre Projekte mit anderen Bastlern teilten. Wir veröffentlichten Links zu den Bezugsquellen für die Einzelteile, die man brauchte, um unsere Projekte nachzubauen. Aber dazu musste man seine eigenen Platinen herstellen lassen und alle Komponenten selbst von den Online-Händlern kaufen. Daher benutzten nur ein paar Dutzend andere Mitglieder der Community unsere Designs.
Wenn mehr Menschen sich an solchen Projekten beteiligen sollten, mussten wir es einfacher für sie machen. Statt nur die Designs zu veröffentlichen und die Mitglieder die Teile selbst kaufen zu lassen, sollten wir komplette Bausätze anbieten. Dazu mussten wird die Einzelteile in großen Mengen einkaufen, die einzelnen Bausätze zusammenstellen und eine Möglichkeit finden, um Bestellungen entgegenzunehmen.
Dafür mussten wir allerdings eine richtige Firma gründen. Ich bat Jordi, mich dabei zu unterstützen, und als er einwilligte, wollte ich etwas mehr über ihn erfahren.
Er erzählte mir Folgendes: Als er sein erstes Posting ins Forum stellte, war Jordi Muñoz Bardales (wie sein vollständiger Name lautete) 19 Jahre alt. Er wurde in Encinada in Mexiko geboren und hatte die Highschool in Tijuana besucht. Er war gerade erst nach Riverside gezogen, einem Vorort von Los Angeles. Seine Freundin aus der Highschool, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besaß, war schwanger, und so hatten sie vor Kurzem geheiratet. Er spielte in ihrer Wohnung in Riverside mit dem Helikopter herum, weil er noch auf seine Greencard wartete und sonst nichts anderes zu tun hatte. Er war nie auf ein College gegangen.
Natürlich war all das völlig egal. Wichtig war nur sein Können, und das hatte er schon mit durchschlagendem Erfolg unter Beweis gestellt. Heute ist Jordi Geschäftsführer von 3D Robotics Inc., einem mehrere Millionen Dollar schweren Unternehmen mit einer supermodernen Fabrik in San Diego. Er ist heute 24 Jahre alt.
Wie konnte es zu dieser Verwandlung kommen? In drei Schritten:
- Ein schlauer junger Mann, der zufällig nicht in den Vereinigten Staaten geboren wurde, nicht sehr gut Englisch sprach und auch in der Schule nicht allzu gut war, hatte Zugang zum Internet. Er war neugierig und ehrgeizig, und so verwandelte er sich mithilfe der größten Informationsquelle der Geschichte in einen führenden Experten auf dem Gebiet der Flugrobotik. Er folgte nur seiner Leidenschaft, aber dabei erarbeitete er sich ganz nebenbei einen »Doktortitel an der Google-Universität«.
- Als ich beschloss, allen Widrigkeiten zu trotzen und eine Firma für Luftrobotik zu gründen, hatte ich dabei als Partner den größten Experten auf diesem Gebiet, den ich kannte. Ich habe nie einen Lebenslauf von ihm gesehen. Ich brauchte ihn nicht. Der Mann hatte sein Können schon unter Beweis gestellt durch die außergewöhnlichen Dinge, die er vollbrachte.
- Mit jeder Menge Unterstützung durch die Community, sehr viel Mut und weiterer Google-Recherche lernte Jordi die Grundlagen der Elektronikfertigung und der Produktion. Er stellte ein Team aus amerikanischen und mexikanischen Ingenieuren mit bikulturellem Hintergrund ein, die alle in den 20ern waren.35 Wie Muñoz lernten auch sie online schnell alles, was sie wissen mussten, indem sie recherchierten, aber auch andere Leute fragten. 18 Monate später leiteten sie eine der weltbesten Fabriken für Robotertechnik.
Wie groß wären wohl die Chancen vor 20 Jahren gewesen, dass der Herausgeber der Zeitschrift Wired seine neue Flugrobotikfirma zusammen mit einem 19-jährigen Highschool-Absolventen aus Tijuana aufbaut? Und doch erscheint es heute selbstverständlich. Warum sollte man eine Firma nicht gemeinsam mit Menschen aufbauen, mit denen man bereits gut zusammengearbeitet hat, und die sich dabei bewährt haben? Warum sollte man dann ein Risiko eingehen und auf jemanden setzen, den man nicht kennt, nur weil die Person einen Abschluss von einer guten Schule hat?
Das ist der Long Tail der Talente. Durch das Internet haben Menschen die Chance, zu zeigen, was sie können, unabhängig von ihrer Ausbildung oder Berufserfahrung. Gruppen können sich einfach ohne betrieblichen Rahmen bilden und zusammenarbeiten, egal, ob es sich dabei um »bezahlte Arbeit« handelt oder nicht. Diese informellen Organisationen unterliegen auch weniger geografischen Einschränkungen. Talentierte Menschen können überall leben und müssen nicht ihren Wohnsitz wechseln, um einen Beitrag leisten zu können.
Der Kolumnist der New York Times, Thomas Friedman, schrieb: »Früher waren billige Arbeitskräfte aus dem Ausland nur für einfachste Tätigkeiten leicht verfügbar. Jetzt sind billige Genies aus dem Ausland genauso leicht verfügbar.« Sie sind nicht nur billig, weil sie für weniger Geld arbeiten; sie sind billig, weil sie oft völlig ohne Bezahlung als globale Freiwillige an einem Projekt mitarbeiten, an das sie glauben, während ein anderer Job das Essen auf den Tisch bringt.
Heute werden in unserer Firma für Robotertechnik Produkte hergestellt, die aus den Beiträgen von etwa 100 Menschen entstanden. Etwa 20 von ihnen sind fest in der Firma angestellt und arbeiten vor allem in der Hardwareentwicklung und -herstellung in der Fabrik. Die anderen 80 sind Ehrenamtliche, die an der Software arbeiten. Die Ehrenamtlichen haben alle noch reguläre Jobs, sind Ingenieur bei Apple oder Konditor, aber einige von ihnen stecken in manchen Wochen die Arbeit eines Vollzeitangestellten in die Roboterprojekte. Manche sind professionelle Programmierer, die eine neue Herausforderung suchen, andere sind Amateure, die solche Projekte als Hobby machen und sich alles Notwendige selbst beigebracht haben.
Wären wir eine Firma nach dem Coase-Modell, hätten wir vielleicht ein paar Vertreter der ersten Kategorie gesucht und eingestellt: die Profis, die bereits in der Branche arbeiten. Mit Sicherheit übersehen hätten wir jedoch den Konditor, den Grafiker, der für eine brasilianische Werbeagentur arbeitet, den Typ, der die italienische Firma für Rettungsfunk leitet, den pensionierten Inhaber eines Autohauses, den Spanier, der für einen Energiekonzern auf den Kanarischen Inseln arbeitet, und all die anderen, die ihrer Leidenschaft in das Projekt gefolgt sind, obwohl ihre berufliche Laufbahn sie in ganz andere Richtungen geführt hat.
Wir arbeiten als Firma nicht nach dem Coase-Modell, und deswegen arbeiten mehr und schlauere Menschen für uns. Wir minimieren die Transaktionskosten durch Technologie, nicht durch räumliche Nähe. Ein soziales Netzwerk bildet das gemeinsame Dach über unseren Köpfen. Skype ist der »Arbeitsplatz nebenan«. Unser gemeinsames Ziel ist tatsächlich ein Gemeinschaftsziel, und kein von oben diktiertes.
Joy gewinnt: Das Modell der offenen Produktion
Joy’s Law und die neuen Firmen und Gruppen, die auf dem Internetprinzip des freien Zugangs aufbauen, haben das coasesche Gesetz auf den Kopf gestellt. Inzwischen verursacht die Arbeit in einer traditionellen monolithischen Firma, wie Coase sie vorschwebte, oft höhere Transaktionskosten als ein Online-Projekt. Warum sollte man sich an die Person wenden, die zufällig im Büro nebenan sitzt, selbst wenn sie die beste Wahl für den Job sein könnte, wenn man sich genauso einfach online an jemanden aus dem globalen Talentmarkt wenden kann?
In Firmen herrschen Bürokratie, feste Arbeitsabläufe und Genehmigungsverfahren vor. Diese Struktur soll die Integrität der Organisation bewahren. Gruppen hingegen bilden sich durch gemeinsame Interessen und Bedürfnisse, und es gibt nur so viele Prozessabläufe wie nötig. Die Gruppe existiert für das Projekt, nicht um die Firma zu tragen, in der das Projekt abläuft.
Doch Online-Communitys können selbst keine physischen Güter herstellen. Jemand anders muss die Produktion übernehmen, das Lager verwalten, die Haftpflichtversicherung abschließen und den Kundenservice anbieten. Doch dazu benötigt man Geld, eine Rechtsstruktur, und man muss Tag für Tag echte Verantwortung übernehmen. Sprich: Man braucht eine Firma.
Das neue Industriemodell verlangt also auch ein neues Firmenmodell. Eine solche Firma muss über alle Fähigkeiten und alles Know-how eines herkömmlichen Industriebetriebs verfügen – engmaschige Qualitätskontrollen, effiziente Verwaltung von Lager und Versorgungsketten –, um grundsätzlich bei Preis und Qualität wettbewerbsfähig zu sein. Aber darüber hinaus braucht der neue Industriebetrieb viele Merkmale der Internetfirmen, vor allem bei der Gründung und Nutzung einer Community rund um die Produkte, mit deren Hilfe die Firma neue Produkte schneller, besser und billiger entwickeln kann. Der Industriebetrieb nach dem neuen Modell muss also die beste Hardwarefirma und die beste Softwarefirma in sich vereinen. Atome und Bits.
Maryam Alavi, Prodekanin der Goizueta Business School an der Emory University, vertritt die Ansicht, dass Firmen zukünftig nur dann niedrigere Transaktionskosten haben werden als der offene Markt, wenn sie auf den zunehmend komplexeren Markt außen reagieren und intern komplexer werden. Im Bericht des Aspen Institute »The Future of Work« führt sie aus, dass dies aus dem »Gesetz der erforderlichen Varietät« der Systemtheorie folge, nach dem ein System mindestens so komplex sein muss wie seine Umgebung: »Teile der Organisation werden hierarchischer werden wegen der Unisicherheiten, der sich die Organisation stellt oder nicht stellt. Andere Teile der Organisation werden überaus dynamisch sein müssen, offen und im ständigen Wandel.«36
Das neue industrielle Organisationsmodell berücksichtigt dies. Es ist um »kleine Teile, die lose miteinander verbunden sind«, aufgebaut. Die Firmen sind kleiner, virtuell und formlos. Die meisten Mitarbeiter sind nicht bei der Firma angestellt. Sie formieren sich und reformieren sich nach Bedarf und werden von Können und Bedürfnissen angetrieben, nicht von Zugehörigkeit und Verpflichtung. Es ist gleichgültig, für wen die besten Leute arbeiten; wenn das Projekt interessant genug ist, werden die besten Leute es finden.
Die offene Versorgungskette
Wie würde eine amerikanische Industrie aussehen, die auf diesen Prinzipien aufgebaut ist?
Auf den ersten Blick scheint diese Frage sinnlos zu sein: Wenn man die täglichen Schlagzeilen liest, gewinnt man leicht den Eindruck, dass die amerikanische Industrie überhaupt keine Zukunft mehr hat. Schließlich gibt es mehr Probleme als nur die niedrigeren Lohnkosten im Ausland. Noch schwerwiegender ist, dass auch das Ökosystem aus Zulieferern und Know-how ins Ausland abgewandert ist.
In einem aufschlussreichen Artikel in der Harvard Business Review von 2009 über die Wettbewerbsfähigkeit Amerikas37 legen Gary Pisano und Willy Shih dar, warum Amazon einen Kindle 2 nicht in den Vereinigten Staaten herstellen kann:
- Die Steckverbindungen für die flexiblen Leitungen werden in China hergestellt, weil die Lieferantenbasis aus den Vereinigten Staaten nach China abgewandert ist.
- Das elektrophoretische Display wird in Taiwan hergestellt, weil das Fachwissen, das aus der Produktion von LCD-Flachbildschirmen gewonnen wurde, mit der Halbleiterproduktion nach Asien abgewandert ist.
- Das hochglanzpolierte Spritzgussgehäuse wird in China hergestellt, weil die Lieferantenbasis in den Vereinigten Staaten wegbrach, als die Produktion von Spielzeug, Unterhaltungselektronik und Computern nach China abwanderte.
- Die WLAN-Karte wird in Südkorea hergestellt, weil das Land zum Produktionszentrum für Bauteile von Mobiltelefonen und kabellosen Festnetztelefonen geworden ist.
- Das Controllerboard wird in China hergestellt, weil US-Firmen die Produktion von Leiterplatten schon vor langer Zeit nach Asien ausgelagert haben.
- Die Lithium-Polymer-Batterie wird in China hergestellt, weil die Entwicklung und Produktion von Batterien zusammen mit der Entwicklung und Produktion von Unterhaltungselektronik und Notebooks nach China abgewandert ist.
Nach Ansicht von Pisano und Shih hat sich nur noch Apple »die Möglichkeit für hochklassige Entwicklungen in den Vereinigten Staaten bewahrt, weil die Firma weite Bereiche nach wie vor selbst abdeckt, etwa bei der Auswahl der Komponenten, im Industriedesign, bei der Softwareentwicklung sowie bei der Konzeption der Produkte und deren Abstimmung auf die Bedürfnisse der Benutzer.« Aber sogar Apple lässt in China produzieren.
Das ist ernüchternd. Dennoch ist die amerikanische Industrie, aller Schwarzmalerei der letzten Jahrzehnte zum Trotz, immer noch die größte der Welt (auch wenn sie bald von China übertroffen werden wird). Die Produktionsleistung der Vereinigten Staaten in inflationsbereinigten Dollars hat sich seit 1975 mehr als verdoppelt und liegt derzeit nur knapp unter ihrem Rekordhoch.
Was wird heute noch in den Vereinigten Staaten produziert? Verschiedene größere Waren, die im Land verkauft werden (wie Autos), hochwertige Güter, bei denen die Arbeitskosten im Vergleich zum Preis kaum ins Gewicht fallen (wie Flugzeuge), und Spezialerzeugnisse, für die es kaum andere Anbieter gibt (etwa medizinisches Gerät).
Unternehmen wie General Electric, Procter & Gamble, 3M, Boeing und Lockheed Martin und selbst wirtschaftliches Urgestein wie US Steel gehören weiterhin zu den größten Industrieproduzenten der Welt. US-Automobilhersteller, wie Ford und GM, vollziehen gerade eine beeindruckende Trendwende (dank staatlicher Eingriffe und harter Reformen). Zusammen mit den ausländischen Automobilherstellern, die in den Vereinigten Staaten produzieren, erreichte die Produktionsleistung in der Automobilindustrie im Jahr 2011 fast ihr Rekordhoch aus den beiden Jahren um die NASDAQ-Blase von 2000.
Das industrielle Amerika funktioniert also in einigen Branchen immer noch, trotz Chinas Aufstieg.
Das beweist, dass die Produktionsgeografie nicht nur vom Wettrennen um die niedrigsten Arbeitslöhne bestimmt wird. Apple hat bewiesen, dass bei einer größeren Nähe zum Kunden die Produkte einer Firma besser zu den Bedürfnissen der Kunden passen. Auch wenn auf der Rückseite eines iPhones »Designed in California, Made in China« steht, bleibt über die Hälfte des Geldes, das für ein iPhone bezahlt wird, in den Vereinigten Staaten. Dies haben Nachforschungen aus dem Jahr 2011 durch Kenneth Kraemer von der University of California in Irvine und zwei weitere amerikanische Wirtschaftswissenschaftler ergeben. Sie schreiben:
»Diese Produkte, einschließlich der meisten Bauteile, werden zwar in China produziert, dennoch profitiert vor allem die US-Wirtschaft von ihnen, weil Apple immer noch Produktdesign, Softwareentwicklung, Produktmanagement, Marketing und andere gut dotierte Funktionsbereiche in den Vereinigten Staaten behalten hat. China spielt eine weit kleinere Rolle, als die meisten bei flüchtiger Betrachtung glauben. Angesichts steigender Transportkosten, des politischen Risikos von Handelskriegen und Zöllen sowie der versteckten Kosten von Lieferverzögerungen und -ausfällen sowie der riesigen Lagerbestände, die notwendig sind, um solche Störungen zu puffern, könnte die Abwanderung der Produktion nach Osten ihren Höhepunkt bereits überschritten haben.«38
Können Maker Arbeitsplätze schaffen?
Die Anzahl der Jobs in der Industrie ist in den letzten Jahren allerdings nicht gestiegen. Während sich die Produktionsleistung in den vergangenen vier Jahrzehnten verdoppelte, sank die Zahl der Beschäftigten in der Industrie im selben Zeitraum um etwa 30 Prozent. Die Produktionssteigerung war ein Ergebnis verbesserter Produktionseffizienz (überwiegend durch Automatisierung), die zu mehr Produktivität pro Arbeiter führte, aber nicht zu mehr Arbeitern.
Die größten Jobmotoren in der amerikanischen Wirtschaft sind kleine bis mittelgroße Betriebe, also exakt die Sorte Betrieb, die in der Industrie in den vergangenen Jahrzehnten immer seltener wurde, als Unternehmen nach Einsparmöglichkeiten durch Massenproduktion suchten, um mit den niedrigen Lohnkosten in Übersee konkurrieren zu können.
Dass die kleinen Betriebe Jobs schaffen, stimmt allerdings nur eingeschränkt. Denn kleine Betriebe vernichten einen Großteil der Jobs, die sie schaffen, auch wieder, weil die meisten von ihnen innerhalb von drei Jahren wieder aufgeben müssen. Und selbst diejenigen, die es schaffen, sind meistens Einzelunternehmen, in denen also nur der Eigentümer arbeitet, und das oft noch nicht einmal in Vollzeit.
Die richtigen Jobmotoren sind kleine Firmen, die zu größeren Unternehmen heranwachsen. Aber im Gegensatz zur ersten industriellen Revolution müssen diese Unternehmen heute keine Industriegiganten sein mit ganzen Armeen an Arbeitern. Der Großteil der Internetwirtschaft besteht aus Firmen mit wenigen Hundert Angestellten, wie Twitter oder Tumblr. Dasselbe gilt für Industriebetriebe, die nach dem Maker-Modell entstanden.
Ein Beispiel: Aliph stellt die geräuschunterdrückenden kabellosen Jawbone-Headsets her. Die Firma wurde im Jahr 1999 von zwei Stanford-Absolventen gegründet, Alex Asseily und Hosain Rahman, und verkauft inzwischen mehrere Millionen Headsets und tragbare JamBox-Lautsprechersysteme pro Jahr. Eigene Fabriken besitzt Aliph nicht, die gesamte Produktion ist ausgelagert. Aliph erstellt die Bits, die Partnerfirmen produzieren die Atome, und gemeinsam sind sie eine ernsthafte Konkurrenz für Sony.
An der Entwicklung der Jawbone-Headsets sind über 1000 Menschen beteiligt, aber Aliph hat nur knapp über 100 Angestellte. Die übrigen arbeiten bei den Produktionspartnern. Bei den meisten anderen erfolgreichen Firmen, die diesen Weg eingeschlagen haben, ist es ähnlich. Die Umsätze und Profite haben den Rahmen eines »Kleinbetriebs« überschritten, nicht jedoch die Anzahl der Angestellten. Weil sich diese Firmen am Web als Vorbild orientieren, bleiben sie eher schlank.
Allerdings gibt es auch ziemlich viele von ihnen, weil die Einstiegshürden so niedrig sind. Bei so vielen kleinen Herstellern und Unternehmen steigen die Chancen, dass manche groß werden. Alle Start-ups werden in der Hoffnung gegründet, sie könnten das nächste Facebook werden, und dieses Silicon-Valley-Modell ist der eigentliche Wachstumsmotor der Wirtschaft. Selbst wenn kaum ein Start-up es so weit bringt, schaffen die wenigen, die es tun, möglicherweise mehrere Milliarden Dollar schwere Industriezweige und Zehntausende von Arbeitsplätzen.
Firmen, die nach dem webbasierten Maker-Modell aufgebaut werden, haben das Potenzial dazu. Warum? Aus drei Gründen:
Erstens machen die meisten ihre ersten Schritte als offene Gruppe und bringen das enorme Wachstumspotenzial der Netzwerkeffekte von Anfang an mit. Die Gruppen sorgen nicht nur für eine schnellere und billigere Produktentwicklung, sondern sie bieten gleichzeitig auch ein oft besseres, günstigeres Marketing. Über Mundpropaganda verkauft sich alles am besten, und wer könnte besser Mundpropaganda betreiben als die Menschen, die an der Entstehung des Produkts beteiligt waren oder sie zumindest miterlebt haben?
Zweitens orientieren sich diese Firmen am Internet. Sie benutzen das Internet für alles, von der Suche nach den günstigsten Zulieferern bis zur eigentlichen Herstellung über Dienstleister. Webzentrierte Firmen können einfach besser mit den wichtigsten Werkzeugen umgehen, die es gibt, um Geld zu sparen und die Produktentwicklung zu beschleunigen.
Darüber hinaus wurden diese Firmen online geboren, und damit sind sie auch von Anfang an global. Sie bedienen in der Regel einen Nischenmarkt, der über Ländergrenzen hinausgeht. Damit sind sie von Anfang an für den Export prädestiniert. Üblicherweise verkaufen diese Firmen im Internet und sind dadurch nicht den üblichen Beschränkungen von Vertrieb und Geografie unterworfen. Dadurch können sie nicht nur schneller wachsen, sondern sich auch leichter gegen Wettbewerber durchsetzen. Schließlich verkaufen sie schon auf dem Weltmarkt, sodass Importe ihnen kaum gefährlich werden können.
Die Konkurrenz aus Niedriglohnländern ist inzwischen möglicherweise gar nicht mehr so gefährlich, wie sie einst schien. Die Produktion in China wird zumindest teurer. Die Löhne in den Industrieprovinzen wie Guangdong steigen um 17 Prozent pro Jahr, und die schleichende Aufwertung des Yuan verstärkt diesen Effekt. Amerikanische Arbeiter sind außerdem bis zu dreimal produktiver (nicht unbedingt weil sie es besser können oder härter arbeiten, sondern weil sie meist von mehr Automatisierungstechnik unterstützt werden, die die Produktivität jedes Einzelnen steigert). Nach Schätzungen der Boston Consulting Group werden die Nettokosten für die Produktion in China im Jahr 2015 genauso hoch sein wie in den Vereinigten Staaten.39
Je leistungsfähiger die Automaten in den Fabriken werden, umso kleiner wird der Anteil der Arbeit an einem durchschnittlichen Produkt. Damit verliert das übliche Argument des »Lohnkostenvorteils« für die Verlagerung der Produktion nach Übersee an Schlagkraft. Derzeit machen Lohnkosten weniger als 15 Prozent des Preises eines Fahrzeugs aus (nach Angaben der United Auto Workers Union sind es nur zehn Prozent, aber sie berücksichtigen nur die Arbeiter direkt in der Produktion ohne die Angestellten im Büro, im Management und in Forschung und Entwicklung). Die Roboter werden immer besser und zahlreicher werden: Die Arbeit in der Fabrik wird von immer weniger Arbeitern verrichtet, die die Roboter immer mit den benötigten Bauteilen versorgen, und einer Versandabteilung.
Amerikanische Firmen kaufen Roboter zum selben Preis wie Chinesen. Ein Modell des globalen Handels, das auf die Anfänge der industriellen Revolution zurückgeht, basiert auf Lohnkostenvorteilen. Nach diesem Modell wird die produzierende Industrie immer von Niedriglohnländern angezogen. Das neue, auf Automation basierende Modell legt aber nahe, dass die Vorteile billiger Arbeitskräfte an Bedeutung verlieren, während andere Faktoren – Nähe zum Endverbraucher, Transportkosten (einschließlich eventueller CO2-Abgaben), Flexibilität, Qualität und Zuverlässigkeit – an Bedeutung gewinnen.
Der Baumaschinenhersteller Caterpillar, zum Beispiel, verdreifacht seine Baggerproduktion in Texas und schafft dort zusätzliche 500 Arbeitsplätze, weil Texas näher an den Kunden und den Versorgungsketten liegt. Die NCR Corporation verlagert ihre Produktion von Geldautomaten aus China zurück nach Columbus in Georgia, um die Automaten schneller auf den Markt bringen zu können und die firmeninterne Zusammenarbeit zu verbessern. Und auch der Spielzeughersteller Wham-O verlagert die Hälfte seiner Frisbee-Produktion aus China zurück, dank der zunehmend automatisierten und effizienten US-Fabriken.
Die Hersteller von Nischenprodukten suchen ohnehin die Nähe zu ihren Kunden. Sie bieten Spezialanfertigungen oder übernehmen Eilaufträge für Kunden, die bereit sind, dafür zu bezahlen. Ein Konzept, das sich bei Regionalentwicklern zunehmender Beliebtheit erfreut, deren Job es ist, Unternehmen in ihre Stadt zu locken, ist das »Economic Gardening«: So wie kleine Gartenparzellen neben großen industriellen Landwirtschaftsbetrieben bestehen können, so können auch kleine produzierende Betriebe bestehen, wenn sie flexibel und innovativ sind.
In New York City wird in kleineren Betrieben immer noch alles Mögliche hergestellt, von Briefumschlägen (Kunden können die Fabrik besichtigen und sich die Entwürfe anschauen, bevor sie in Produktion gehen) bis zu in Handarbeit hergestellten BMX-Rädern bei Brooklyn Machine Works (bei 2800-Dollar-Rahmen haben niedrige Löhne keine hohe Priorität). In San Francisco repräsentiert eine erfolgreiche Gruppe namens SFMade mehrere Dutzend Einzelunternehmer, die vor Ort produzieren, von Timbuk2-Taschen bis Mission-Motors-Motorrädern.
Die Branchen, die die Nähe zu ihren Absatzmärkten nutzen, reichen von maßangefertigten Möbeln, die den direkten Kundenkontakt brauchen, bis zu Luxusmatratzen (Produktion auf Bestellung senkt die Kosten) und Nischenmode (mein eigenes Bürogebäude im angesagten Hightech-Distrikt South of Market beherbergt auch einige Textilfabriken, in denen chinesische Einwanderer mit vor Ort hergestellten Designs arbeiten). Das alles ist nicht neu, aber heute sind diese Firmen nicht mehr nur lokal. Wenn sie innovativ genug sind, dann können sie auch weltweit verkaufen, über das Internet.
Ein Beispiel hierfür ist der Edelschokoladenhersteller Tcho in San Francisco. Diese komplette Fabrikproduktion von der Kakaobohne bis zur Schokolade wird von den Gründern von Wired auf einer umgebauten Pier in der Bucht von San Francisco betrieben. Sie begannen mit lokalen Verkäufen und befriedigten dieselbe exklusive Nachfrage nach handwerklich hergestellten Produkten, die auch schon Luxuskaffeehändlern wie Peet’s (ebenfalls ursprünglich aus San Francisco) Jahrzehnte vorher zum Aufstieg verhalf. Doch Tcho ist ein Kind des Internetzeitalters, und deshalb wagte sich die Firma schneller auf den globalen Markt, sowohl über E-Commerce als auch über Mundpropaganda im Internet. Heute, fünf Jahre nach der Gründung, werden Tcho-Produkte von über 400 Einzelhändlern im ganzen Land verkauft. Die von Internetpionieren geleitete Fabrik am Pier in San Francisco stellt rund um die Uhr Schokolade her, um die Nachfrage befriedigen zu können.
Geografie als Kalkulationsfaktor
Wahrscheinlich werden Firmen auch in Zukunft weiterhin Produktionen nach China oder in andere Niedriglohnländer auslagern. Für viele Branchen ist die Kombination aus relativ billigen Arbeitskräften und der Lieferantenkonzentration in Guangdong einfach unschlagbar. Aus diesem Grund werden in Amerika keine Handys hergestellt, und China ist das Weltzentrum der Spielzeuge.
Aber der Weg ins Ausland ist offensichtlich nicht die einzige Lösung. Bei bestimmten Produktionsmengen wird die Produktion in riesigen chinesischen Fabriken wohl auch weiterhin nicht zu toppen sein. Aber bei anderen Größenordnungen könnte eine Produktion im eigenen Land mit minimalen Verzögerungen und maximaler Flexibilität die bessere Wahl sein. Und mit fortschreitender Automatisierung wird das wirtschaftliche Gefälle zwischen einer Produktion in China und einer Produktion in den Vereinigten Staaten immer kleiner werden.
Die Kalkulation einer »Produktion hier« im Vergleich zur »Produktion dort« könnte zum Beispiel so aussehen:
Eine imaginäre neue Firma, WindCo, stellt ihr erstes Produkt her, eine kleine Windkraftanlage für den Garten hinter dem Haus. Den ersten Prototyp, plus ein paar mehr, um sie an Partner zu verschicken, stellt die Firma selbst her. Als Nächstes muss die Produktion anlaufen. Aber die Firma ist so klein, dass sie die notwendigen Produktionskapazitäten selbst nicht hat. Also beauftragt sie eine chinesische Fabrik mit der Produktion.
So kommt das Produkt auf den Markt. Aber sobald die Verkaufszahlen den dreistelligen Bereich erreichen, werden die Grenzen dieses Modells deutlich. Zunächst einmal ist es unflexibel: Wenn das Produkt ausverkauft ist, dauert es Monate, bis eine neue Lieferung ankommt. Außerdem arbeitet die chinesische Fabrik lieber mit großen Losgrößen, also kommen bei WindCo riesige Mengen pro Lieferung an, die mit der Zeit und Stück für Stück abverkauft werden müssen. Dadurch ist sehr viel Kapital in Lagerbeständen gebunden, die auf ihren Verkauf warten.
Inzwischen rechnet es sich einfach, lokal zu produzieren. Also richtet WindCo im eigenen Land eine Fabrik ein, in der Turbinen auf Bestellung produziert werden. Dadurch wird es viel einfacher, die Lagerbestände der Firma zu verwalten und Verbesserungen am Produkt auf Rückmeldungen und Nachfrage der Kunden hin durchzuführen.
Wenn nun aber die Verkaufszahlen weiter steigen in den fünfstelligen Bereich? Dann ist China wieder der attraktivere Produktionsort. Die 30 Prozent Preisunterschied zwischen inländischer Produktion und einer Produktion in Guangdong, die bei kleineren Stückzahlen nicht so entscheidend waren wie Zeit und Flexibilität, sind jetzt unwiderstehlich. Wenn ein Konkurrent den Markt betritt und zu einem niedrigeren Preis verkauft, mit dem man mithalten muss, ist diese Verlockung sogar noch stärker. Und schon wandert die Produktion wieder nach China.
So haben Unternehmen zunehmend die Möglichkeit, ihre Produktion dorthin zu verlegen, wo es am sinnvollsten ist. Sie können es, weil die Entwicklungsdaten digital sind, neue Produktionen mit minimalem Kostenaufwand neu eingerichtet werden können, und alle dieselben automatisierten Herstellungswerkzeuge benutzen, die man überall kaufen kann.
In dieser Welt ist Amerika wettbewerbsfähig. Und China ebenso. Und Deutschland und Mexiko und Polen. Digitale Herstellung sorgt für gerechtere Bedingungen im globalen Wettbewerb. Jedes Land kann Waren produzieren. Die Frage ist nur, was ein Land besser produzieren kann als alle anderen.
Eine hochmoderne Fabrik
Wenn man genau genug sucht, findet man überall Beispiele dafür. Im Silicon Valley, natürlich, aber auch an Orten, an denen man fortschrittliche Industrien nicht unbedingt erwartet: einer umgebauten Autoreparaturwerkstatt in Brooklyn, einem Gewerbepark in einem Vorort von Las Vegas, einer ländlichen Kleinstadt in Wisconsin. An all diesen Orten wollten Unternehmer, die eigene Firmen gründeten, einfach leben. Diese Firmen mussten nicht mehr in der Nähe einer Bahnstrecke oder einer Autobahn liegen wie Fabriken früher, sie brauchten auch keine großen Flächen mehr oder billige Arbeitskräfte. Produziert werden kann inzwischen überall, wo FedEx und UPS abholen können.
Ein gutes Beispiel ist SparkFun. Im Jahr 2003 absolvierte Nathan Siedle gerade sein Grundstudium in Ingenieurwissenschaft an der University of Colorado in Boulder, einer gepflegten Universitätsstadt etwa eine Stunde von Denver entfernt. Er hatte Schwierigkeiten, die elektronischen Bauteile aufzutreiben, die er für seine Projekte brauchte, bis er schließlich im Internet einige Lieferanten ausfindig machte. Nun hätte er sich einfach darüber freuen und sein Studium beenden können. Aber wie viele andere Maker in diesem Buch beschloss auch er, seine Entdeckungen mit anderen zu teilen. Er richtete einen kleinen Online-Shop ein, um dort die Teile zu verkaufen, die schwer aufzutreiben waren, und reizte seine Kreditkarte bis zum Limit aus, um sein Lager zu füllen. Er nannte den Laden SparkFun, ein augenzwinkernder Verweis auf das, was oft genug passiert, wenn man die falschen Teile zusammenbringt: Man darf zusehen, wie sie in einem Funkenregen verglühen. Als er die offizielle Bestätigung für eine Befreiung von der Umsatzsteuer erhielt, und somit eine »echte Firma« hatte, raste er auf seinem Motorrad so schnell nach Hause, dass er nicht nur einen Strafzettel erhielt, sondern auch noch vor Gericht erscheinen musste.
Als Siedle seinen College-Abschluss machte, war SparkFun schon zu einem richtigen Unternehmen herangewachsen. Statt sich irgendwo anders einen Job zu suchen, beschloss Siedle, es mit seiner eigenen Firma zu wagen. Er mochte Boulder, und so mietete er eine Gewerbefläche im Erdgeschoss eines Gebäudes in einem örtlichen Büropark und richtete sich dort ein.
Heute hat SparkFun mehr als 120 Angestellte und einen Jahresumsatz von etwa 30 Millionen Dollar, und die Firma wächst um 50 Prozent pro Jahr. Die Produktionsfläche im Erdgeschoss ist so groß wie ein Basketballfeld und wird beherrscht von automatischen, elektronischen Fertigungslinien, die Tag und Nacht in Betrieb sind. Tägliche Blogposts und Tutorials haben aus dem Online-Shop eine gut besuchte Community gemacht, mit über 50000 Besuchern pro Tag.
Das alles findet im kostspieligen Boulder in Colorado statt, einem der teuersten Immobilienmärkte in Amerika, noch dazu in der Elektronikbranche, einem Markt, der schon lange als an China verloren galt. Wie schafft es SparkFun, mit solchen Billigproduktionen mitzuhalten? Durch Automatisierung, enge Anbindung an die Kunden und ihre Bedürfnisse (die Wurzeln der Firma im Bastlermilieu verleihen ihr dort große Glaubwürdigkeit), eine Community, die um die täglichen Tutorials auf der Firmenwebsite herum entstand, und durch Posts der Angestellten (die inzwischen unter den Makern selbst kleine Berühmtheiten sind). SparkFun hat bewiesen, dass Erfolg in der Industrie nicht unbedingt davon abhängt, wer die niedrigsten Lohnkosten hat.
Wenn man die Leute über den Zustand der amerikanischen Industrie befragt, zitieren die meisten dieselbe deprimierende Statistik: US-amerikanische Mobiltelefone, unter anderen das iPhone von Apple, die Android-Telefone von Google sowie Motorola, sind zwar höchst erfolgreich, aber keines dieser Telefone wird in Amerika produziert. Wir sind vielleicht bei der Technologie führend, aber wir produzieren nur die Bits (das Produktkonzept und die Software), nicht aber die Atome (die greifbaren Telefone selbst). Es stimmt tatsächlich: »Designed in California, Made in China«.
Aber bei einem Besuch in der SparkFun-Fabrik bietet sich ein ganz anderes Bild. Im Gegensatz zu einigen größeren Wettbewerbern auf dem Markt für elektronische Bauteile stellt SparkFun einen Großteil der Produkte, die die Firma verkauft, selbst her, direkt in Boulder. Das Unternehmen besitzt mehrere Bestückungsmaschinen, die Chips und andere Komponenten schneller exakt auf einer Platine platzieren, als man es mit den Augen verfolgen kann. Über ein Förderband werden die bestückten Platinen in einen automatisch kontrollierten Ofen transportiert, um die Lötpaste unter den Chips zu schmelzen und sie so auf den Platinen zu befestigen. Andere computergesteuerte Maschinen füllen Komponenten nach und präparieren die Boards. Drei Arbeiter überwachen die Anlage, die rund um die Uhr in Betrieb ist.
Elektronik kann also durchaus in Amerika produziert werden, solange es sich um Spezialelektronik handelt, die in tausendfacher Ausfertigung verkauft wird, nicht millionenfach.
Für Kindle 2 und iPhone werden immer die neuesten Bildschirme und die schnellsten Speicherchips gebraucht, die nur von wenigen Herstellern in Asien in Serie produziert werden. Aber für die meisten elektronischen Geräte müssen es nicht unbedingt die neuesten, kleinsten, leichtesten und schnellsten Teile sein. Diese Elektronik kann man am ehesten mit einem intelligenten Temperaturregler zu Hause oder mit dem Armaturenbrett eines Autos vergleichen. Sie brauchen nicht die Leistungsfähigkeit eines Apple-Geräts. Ihr Wert liegt in der Software, die auf den Standardbauteilen läuft, und die man überall aufspielen kann.
Bei derartigen Spezialgütern ist die Verdienstspanne in der Regel größer, und die Konkurrenz durch andere Hersteller ist klein. Es ist eine klassische Marktnische für ein Mittelstandsunternehmen. Das Unternehmen sollte groß genug sein, um auf dem Weltmarkt verkaufen zu können und eine Marke zu etablieren, aber nicht so groß, dass die Firma in die Todesfalle der hauchdünnen Verdienstspannen gerät und zu stark durch Konjunkturschwankungen und wechselnden Verbrauchergeschmack gefährdet ist.
Das Gegenbeispiel hierzu ist die chinesische Firma Foxconn, die das Apple iPhone und viele andere Elektronikprodukte des Massenmarktes herstellt und etwa eine Million Beschäftigte hat. Sie ist damit nach Zahl der Beschäftigten das zweitgrößte nicht staatliche Unternehmen der Welt (nach Wal-Mart).40 Es existieren ganze firmeneigene Städte, und die Arbeitsbedingungen (und Selbstmorde) machen Schlagzeilen. Foxconn entwickelt seine Produkte nicht selbst; die Firma übernimmt ausgelagerte Produktionen anderer Firmen. Dadurch sind die Verdienstspannen minimal. Nach Schätzungen von Ökonomen verdient Foxconn nur 6,50 Dollar an der Montage eines Telefons, das für 300 Dollar verkauft wird.41 Bei den meisten asiatischen Produzenten von Bauteilen für das iPhone sieht es ähnlich aus. Der Löwenanteil des Profits geht an Apple, den Entwickler. In welchem Geschäft wären Sie lieber?
SparkFun hingegen entwirft die meisten Produkte selbst und stellt sie auch selbst her nach dem in diesem Buch beschriebenen Modell: Ein offener Innovationsprozess entsteht um eine Gruppe von Firmenkunden. Die meisten SparkFun-Produkte sind »Open-Source-Hardware«, also Hardware, deren Designdaten öffentlich zugänglich sind und verändert werden können. Viele Produkte wurden von Kunden entworfen, und von SparkFun-Ingenieuren lediglich geprüft und überarbeitet, um ihre Produktion zu vereinfachen.
Es ist ein klassisches, Community-zentriertes Unternehmen. Auf der Startseite der Firmenwebsite stehen keine Produkte, sondern ein Blog mit unterhaltsamen Tutorials und Videos der Mitarbeiter. In den Foren wimmelt es von Kunden, die sich gegenseitig helfen. Jedes Jahr veranstaltet die Firma ein Wettrennen für autonome Fahrzeuge. Bei der Veranstaltung spielt eine Liveband selbst geschriebene Songs über Roboter, und Kinder rennen scharenweise den selbstfahrenden Autos hinterher. (Ich habe seit dem ersten Rennen jedes Jahr in der Kategorie für Luftfahrzeuge teilgenommen, bisher aber noch nie gewonnen.) Bei Maker-Festivals im ganzen Land bringen Ingenieure von SparkFun Menschen das Löten bei, was übrigens sehr viel mehr Spaß macht, als es sich vielleicht anhört.
Die Mitarbeiter von SparkFun sind jung, engagiert und scheinen ihre Arbeit wirklich zu lieben. Bei der Arbeit wird Hunden und Hobbys gefrönt (wenn auch nicht in der Produktionshalle), Tätowierungen und Indie-Punkrock spiegeln die Firmenkultur wider. Weiter entfernt von »Satans schwarzen Mühlen« kann man nicht sein.
Dies ist eine Erfolgsgeschichte aus der amerikanischen Maker-Industrie des 21. Jahrhunderts. Diese Industrie gedeiht angesichts der asiatischen Konkurrenz. Sie wächst rasant und schafft Arbeitsplätze. Sie ist äußerst profitabel. Ebenso wichtig aber ist, dass sie einen »Multiplikatoreffekt« hat. Man geht üblicherweise davon aus, dass durch jeden neuen Arbeitsplatz in der herkömmlichen Industrie vier weitere Arbeitsplätze in der Kommune entstehen. Weil SparkFun Technologie verkauft, die anderen dabei hilft, ihre eigenen Firmen aufzubauen, ist der Faktor in diesem Fall sogar noch höher.
Wie hoch genau, ist schwer zu sagen, aber hier ist ein Beispiel: Facebook hat derzeit etwa 2500 Mitarbeiter. Die Hauptgeschäftsführerin Sheryl Sandberg schätzt jedoch, dass mehr als 30000 Menschen ihren Lebensunterhalt hauptsächlich über das »Ökosystem Facebook« bestreiten, das alle Firmen und Dienstleistungen miteinschließt, die auf Facebook aufsetzen, von Zynga-Spielen wie Farmville bis zu all jenen »Social-Media-Experten«, die Firmen dabei helfen, sich auf Facebook zurechtzufinden. Das ist mindestens ein Multiplikationsfaktor zehn.
Pisano und Shih forderten in ihrem Artikel in der Harvard Business Review über die amerikanische Wettbewerbsfähigkeit einen Wiederaufbau der »Industrial Commons«, der kollektiven Fähigkeiten für Forschung und Entwicklung, Ingenieurwesen und industrielle Fertigung, durch die Innovationen entstehen. Nicht einfach nur die Fähigkeit, Dinge herzustellen, sondern auch die Fähigkeit, sie zu erfinden, die Fähigkeit, die einzelnen Teile herzustellen, aus denen diese Dinge bestehen, und die Fähigkeit, eine Generation auszubilden, die all dies auch umsetzt.
Erfolgreiche Technologiefirmen schaffen das. Ihr Trickle-down-Effekt bemisst sich nicht nach den chemischen Reinigungen und den Pizzalieferdiensten, die die Familien ihrer Arbeiter versorgen, sondern nach den Werkzeugen, die sie verkaufen und die andere Firmen in ihrem Umfeld leistungsfähiger machen. Sie schaffen also nicht einfach neue Arbeitsplätze, sondern sie schaffen neue Firmen, die mehr Arbeitsplätze schaffen. SparkFun, eine hochmoderne Fabrik, steht im Zentrum der neuen Industrial Commons. Wie weit sich diese Idee der Maker-Bewegung verbreitet, bleibt jedoch abzuwarten.