Fünfzehn
Paul und der Schnurrbartträger stürzten in den Club. »Was ist hier los?«, erkundigten sie sich. »Die Frauen, die ich im Auge behalten sollte, haben versucht, auf die andere Seite zu kriechen«, antwortete der Riese ernst. Man sah ihm deutlich an, dass es in seinem vorigen Job zu seinen Aufgaben gehört hatte, Leute zu töten, wenn sie versuchten, an ihm vorbei auf irgendeine andere Seite zu gelangen. Er nahm sich solche Regelverstöße sehr zu Herzen.
»Wo sind sie denn?«, fragte der Schnurrbartmann.
Der Bär räusperte sich und sah weg. »Sie verstecken sich, Boss.«
»Okay«, meinte der Schnurrbartmann. »Dann suchen wir sie eben.«
Die Kamera folgte den drei Männern, die den Club durchforsteten, hinter den Sofas, unter den Tischen, hinter den Vorhängen, sogar auf den Toiletten. Hollys Familie schüttete sich aus vor Lachen.
In einer Ecke des Lokals entstand plötzlich Unruhe. Die Kamera fuhr auf das gekippte Bett zu, und man sah unter den Goldlaken ein Gewühle, als kämpften darunter drei Schweine. Natürlich waren es Sharon, Denise und Holly, die dort herumrollten, einander beschimpften und nebenbei versuchten, sich so platt wie möglich zu machen, damit keiner sie bemerkte.
Die Gorillas, die sich inzwischen genähert hatten, zählten bis drei, dann zerrten sie das Laken weg. Drei sehr erschrockene junge Frauen, die aussahen wie Rehe im Scheinwerferlicht, starrten sie an, flach auf dem Bett ausgestreckt, die Arme an die Seiten gepresst.
»Wir mussten nur ein Nickerchen machen, ehe wir gehen«, verkündete Holly mit ihrem Prinzessinnenakzent.
»Na los, Prinzessin, jetzt reicht’s aber«, rief Paul. Die drei Männer schoben die Mädels nach draußen und versicherten ihnen, dass sie ab jetzt im »Boudoir« Hausverbot hatten.
»Kann ich schnell noch meinen Freundinnen in der VIP-Lounge sagen, dass wir gehen?«, fragte Sharon.
»Hören Sie, jetzt reicht es aber wirklich«, erwiderte Schnurrbartmann wütend. »Ihre Freundinnen sind nicht da drin. Machen Sie, dass Sie wegkommen.«
»Entschuldigen Sie mal«, gab Sharon ebenso ärgerlich zurück. »Ich habe zwei Freundinnen in der VIP-Bar, eine mit rosa Haaren und die andere … «
Der Schnurrbartmann hob die Stimme. »Die Sängerin mit den rosa Haaren möchte nicht gestört werden, außerdem ist sie genauso wenig Ihre Freundin wie Mette-Marit von Norwegen. Jetzt verschwinden Sie endlich, sonst kriegen Sie noch mehr Ärger.«
Im Club Diva brüllten die Zuschauer vor Lachen.
Die Szene wechselte, und auf dem Bildschirm erschien die Überschrift »Der lange Weg nach Hause«. Die Freundinnen saßen im Taxi. Abbey streckte angestrengt den Kopf aus dem Fenster. »Sie kotzen mir nicht in meinen Wagen!«, blaffte der Taxifahrer sie an. Abbeys Gesicht war puterrot, ihre Zähne klapperten vor Kälte, aber sie wollte natürlich nicht nach Hause laufen. Jack lachte. Ciara saß mit verschränkten Armen auf der Rückbank und schmollte, weil ihre Freundinnen sie nicht nur gezwungen hatten, viel zu früh aufzubrechen, sondern auch noch ihre Identität als Popstar hatten auffliegen lassen, was extrem peinlich gewesen war. Sharon und Denise schliefen, die Köpfe aneinander gelehnt. Im Saal des Club Diva lächelte John und ergriff die Hand seiner Frau.
Die Kamera schwenkte und zeigte wieder Holly auf dem Beifahrersitz. Aber diesmal plauderte sie nicht mit dem Taxifahrer, sondern hatte den Kopf an die Kopfstütze gelehnt und starrte in die dunkle Nacht hinaus. Holly wusste noch genau, was sie in diesem Moment gedacht hatte: Jetzt muss ich wieder zurück in das große leere Haus, ganz allein.
»Herzlichen Glückwunsch, Holly!«, sagte Abbey mit vor Kälte zitternder Stimme. Holly drehte sich um und sah sich direkt der Kamera gegenüber. »Filmst du immer noch? Stell das Ding endlich ab!« Damit schlug sie Declan die Kamera aus der Hand. Und der Film war zu Ende.
Als Daniel das Licht im Saal wieder anmachte, schlüpfte Holly schnell von ihrem Platz und floh in den nächstbesten Nebenraum. Sie musste ihre Gedanken ordnen, bevor alle zu reden anfingen. So fand sie sich in einem winzigen Abstellraum wieder, umgeben von Schrubbern und Eimern und leeren Fässern. Was für ein dummes Versteck, dachte sie, setzte sich aber trotzdem auf eins der Fässer und dachte über das nach, was sie gerade gesehen hatte. Sie fühlte sich wie unter Schock. Ein bisschen sauer war sie schon auf Declan – er hatte gesagt, er würde eine Doku über das Dubliner Nachtleben drehen, und jetzt hatte er seine Schwester und ihre Freundinnen gnadenlos vorgeführt.
Hier, vor allen Leuten wollte sie sich nicht mit Declan streiten. Der Film war ja auch gut gewesen – großartige Aufnahmen, einwandfrei geschnitten. Was sie störte, waren diese hinterhältig eingestreuten Aufnahmen ihrer Traurigkeit.
Große, salzige Tränen liefen über ihre Wangen, und sie schlang die Arme um sich. Im Film hatte sie gesehen, wie sie sich wirklich fühlte. Verloren und einsam. Von heftigem Schluchzen geschüttelt, weinte sie um Gerry, weinte um sich selbst, so heftig, dass es wehtat, wenn sie Luft holen wollte. Sie wollte nicht mehr allein sein, sie wollte nicht, dass ihre Familie ihre Einsamkeit bemerkte, wo sie sich doch solche Mühe gab, sie zu verbergen. Sie wollte Gerry zurück, alles andere war ihr egal. Es war ihr egal, wenn sie sich dann jeden Tag stritten, es war ihr egal, wenn sie pleite waren, kein Haus und kein Geld hatten. Sie wollte ihn nur wiederhaben. Auf einmal hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufging, dann schlangen sich starke Arme um ihren Körper. Sie weinte einfach weiter, als hätten sich Angst und Schmerz monatelang aufgestaut. Jetzt war der Damm gebrochen.
»Was ist los mit ihr? Hat ihr mein Film nicht gefallen?«, hörte sie von draußen Declans besorgte Stimme.
»Lass sie nur, Declan«, sagte ihre Mutter leise, dann schloss sich die Tür wieder, während Daniel ihr über die Haare strich und sie sanft in seinen Armen wiegte.
Als sie das Gefühl hatte, alle Tränen der Welt geweint zu haben, ließ das Schluchzen nach, und Holly ließ Daniel los. »Entschuldige«, schniefte sie und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte er sanft und gab ihr ein Tempo.
Eine Weile saß sie schweigend da und versuchte die Fassung wiederzugewinnen.
»Falls dich der Film so durcheinander gebracht hat – dafür gibt es wirklich keinen Grund«, sagte Daniel nach einer Weile und setzte sich auf einen Karton ihr gegenüber.
»Nein, bestimmt nicht«, gab sie sarkastisch zurück und wischte sich wieder die Augen.
»Nein, ehrlich«, beteuerte er. »Ich fand ihn lustig. Man hat den Eindruck, dass ihr euch super amüsiert habt.«
»Schade nur, dass ich mich gar nicht so gefühlt habe«, entgegnete sie traurig.
»Vielleicht hast du dich nicht so gefühlt, aber die Kamera fängt auch nicht unbedingt alle Gefühle ein, Holly.«
»Du musst nicht versuchen, mich zu trösten«, wehrte Holly ab, denn plötzlich war es ihr peinlich, dass Daniel, den sie doch kaum kannte, sie so gesehen hatte.
»Ich versuche gar nicht, dich zu trösten, ich sage nur, was ich denke. Ich glaube, dass keiner außer dir das im Film so wahrgenommen hat. Ich übrigens auch nicht.«
»Sicher?« Tatsächlich ging es Holly schon ein klein wenig besser.
»Absolut sicher«, antwortete er lächelnd. »Aber du musst wirklich aufhören, dich immer irgendwo in meinem Club zu verstecken, sonst nehme ich das noch persönlich!«
»Ist mit meinen Freundinnen alles okay?«, fragte Holly und hoffte, dass sie tatsächlich nur überreagiert hatte.
Wie aufs Stichwort erscholl von draußen lautes Gelächter.
»Na, du hörst ja selbst, wie’s ihnen geht«, antwortete Daniel mit einem viel sagenden Blick zur Tür. »Ciara denkt, dass sie jetzt alle für einen Star halten, Denise ist schon wieder aus der Toilette raus, und Sharon kriegt sich gar nicht wieder ein vor lauter Lachen. Nur Jack macht Abbey Vorwürfe, weil sie auf dem Heimweg gekotzt hat.«
Holly kicherte.
»Du siehst also, keiner hat was gemerkt.«
»Danke, Daniel!« Holly holte tief Luft und lächelte ihn an.
»Bereit für die Öffentlichkeit?«
»Ich glaube schon.« Sie trat hinaus in den inzwischen hell erleuchteten Saal, wo immer noch dieselbe aufgekratzte Stimmung herrschte. Holly setzte sich neben ihre Mutter, die gleich den Arm um sie legte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
»Also, ich fand den Film großartig«, verkündete Jack enthusiastisch. »Jetzt müssen wir Declan nur noch dazu kriegen, dass er immer mit euch ausgeht, damit wir endlich wissen, was ihr so treibt – findest du nicht auch, John?« Er zwinkerte Sharons Mann viel sagend zu.
»Ich kann dir versichern, dass du keinen normalen Mädelsabend gesehen hast«, beteuerte Abbey.
Aber das wollten die Männer ihr natürlich nicht abkaufen.
»Ich fand den Film richtig lustig, Holly«, kicherte Sharon. »Du und deine Operation Goldener Vorhang«, fuhr sie fort und gab Denise einen Klaps aufs Knie.
Denise verdrehte die Augen. »Aber eins kann ich euch sagen – ich werde nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren.«
Alles lachte, und Tom legte ihr den Arm um die Schultern.
»Was denn? Ich meine das ernst!«, beteuerte Denise.
»Wo wir gerade davon sprechen – was wollt ihr trinken?« Daniel stand auf. »Jack?«
»Ein Budweiser. Danke.«
»Abbey?«
»Hmmm … ein Glas Weißwein, bitte«, antwortete sie.
»Frank?«
»Ein Guinness. Danke, Daniel.«
»Ich auch«, rief John.
»Sharon?«
»Wodka-Cola, bitte. Du auch, Holly?« Sie sah zu ihrer Freundin hinüber, und Holly nickte.
»Tom?«
»Jack Daniels mit Cola, bitte, Dan.«
»Ich auch«, schloss Declan sich an.
»Denise?« Daniel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Hmmm … ich hätte gern … einen Gin Tonic bitte.«
»Ha!« Alle applaudierten.
»Was?« Sie zuckte die Achseln. »Ein kleiner Drink hin und wieder wird mich ja wohl nicht umbringen.«
Mit aufgekrempelten Ärmeln stand Holly an der Spüle und schrubbte die Töpfe, als sie eine vertraute Stimme hörte.
»Hi, Süße.«
Sie blickte auf und sah ihn an der offenen Terrassentür stehen. »Hallo du«, lächelte sie.
»Vermisst du mich?«
»Natürlich.«
»Hast du schon einen neuen Mann gefunden?«
»Na klar, er liegt oben im Bett und schläft«, lachte sie und trocknete sich die Hände ab.
Gerry schüttelte den Kopf und schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Soll ich raufgehen und ihn erwürgen?«
»Ach, lass ihm noch eine Stunde oder so«, lachte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Er hat den Schlaf bitter nötig.«
Sie musterte ihn: Gerry sah glücklich aus, fand sie, frisch im Gesicht und immer noch genauso attraktiv, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er trug ihren blauen Lieblingspulli, den sie ihm einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Mit seinen großen braunen Augen starrte er sie unter langen, dunklen Wimpern nachdenklich an.
»Kommst du ein bisschen rein?«, fragte sie.
»Nein, ich wollte nur kurz vorbeischauen, wie es dir geht. Läuft alles einigermaßen?« Die Hände in den Hosentaschen, lehnte er sich gegen den Türpfosten.
»So lala«, antwortete sie und mit einem Schulterzucken. »Könnte besser sein.«
»Wie ich gehört habe, bist du jetzt ein Fernsehstar«, grinste er.
»Aber eher unfreiwillig«, gab sie zu.
»Die Männer werden dir zu Füßen liegen.«
»Daran ist nichts auszusetzen, aber ich wünsche mir eigentlich etwas anderes.«
Er lachte.
»Ich vermisse dich, Gerry.«
»Ich bin ganz in deiner Nähe«, erwiderte er leise.
»Verlässt du mich wieder?«
»Ja, erst mal schon.«
»Dann bis bald.« Sie lächelte ihm nach, und er verschwand mit einem Augenzwinkern.
Holly erwachte mit einem Lächeln im Gesicht und fühlte sich so frisch, als hätte sie tagelang geschlafen. »Guten Morgen, Gerry«, sagte sie und starrte fröhlich hinauf zur Decke.
Neben ihr klingelte das Telefon. »Hallo?«
»O mein Gott, Holly«, schrie Sharon, »hast du schon in die Zeitung geguckt?«