Sechzehn
Holly sprang aus dem Bett, warf sich ein paar Sachen über und fuhr zum nächsten Zeitungskiosk. Da sie nicht wusste, in welcher Zeitung sie die Sensationsmeldung finden würde, von der Sharon gesprochen hatte, fing sie an zu blättern, aber der Mann hinter der Theke hustete laut, und als Holly aufblickte, meinte er böse: »Das ist keine Leihbibliothek hier, junge Frau.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete sie, raffte einfach alle Tageszeitungen zusammen, die der Laden hatte, knallte sie auf die Theke und grinste den Verkäufer freundlich an.
Der Verkäufer begann, die einzelnen Blätter in die Kasse einzutippen, während sich hinter Holly allmählich eine Schlange bildete.
»Sonst noch was?«, fragte er sarkastisch.
»Nein danke, das ist alles«, antwortete Holly, bezahlte und fingerte eine Weile mit ihrem Portemonnaie herum, weil sich das Wechselgeld nicht verstauen ließ.
»Bitte schön?«, fragte der Verkäufer den Kunden hinter Holly.
»Hallo, ich hätte gern eine Benson and … «
»Entschuldigung«, unterbrach Holly ihn. »Könnte ich bitte eine Tüte bekommen?«, sie blickte viel sagend auf den Stapel vor ihrer Nase.
»Moment«, erwiderte der Ladenbesitzer barsch, »jetzt kümmere ich mich erst mal um diesen Gentleman hier. Ja, bitte, Sir, Zigaretten?«
»Ja, bitte«, antwortete der Kunde und sah Holly entschuldigend an.
»Also«, wandte sich der Ladenbesitzer dann wieder Holly zu. »Und was kann ich für Sie noch tun?«
»Ich hätte gerne eine Tüte«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Das wären dann zwanzig Cent, bitte.«
Holly seufzte laut und wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie.
»Mark, übernimm bitte mal die andere Kasse«, rief der Verkäufer mit einem genervten Augenaufschlag. Aus einem der Gänge erschien ein pickliger Teenager mit einem Auspreisgerät in der Hand.
Inzwischen hatte Holly ihr Geld gefunden, knallte eine Münze auf den Ladentisch, packte die Zeitungen ein und wandte sich zum Gehen, als Mark sie plötzlich mit dem Ruf aufschreckte: »Hey, ich kenne Sie! Sie sind doch die Frau aus dem Fernsehen!«
Überrascht wirbelte Holly herum. Die unvermittelte Bewegung gab dem ohnehin über Gebühr beanspruchten Plastikhenkel ihrer Tüte den Rest, und die Zeitungen flogen in alle Richtungen.
Der junge Mann hinter ihr bückte sich und half ihr, sie einzusammeln, während der Rest der Kundschaft amüsiert zuschaute und sich fragte, wer die Frau aus dem Fernsehen wohl sein mochte.
»Das sind doch Sie, oder?«, hakte Mark inzwischen nach.
Mit einem schwachen Lächeln blickte Holly vom Boden zu ihm hoch.
»Ich wusste es!«, rief der Knabe und klatschte aufgeregt in die Hände. »Cool!«
Holly wurde knallrot und räusperte sich nervös. »Hmm … entschuldigen Sie, könnte ich vielleicht eine neue Tüte kriegen?«
»Ja, das macht … «
»Bitte schön«, unterbrach ihn der junge Mann freundlich und legte eine Zwanzigcentmünze auf den Ladentisch. Der Verkäufer machte ein verblüfftes Gesicht, bediente aber wortlos weiter.
»Ich bin Rob«, stellte sich der Mann vor, und streckte Holly die Hand hin.
»Ich heiße Holly«, erwiderte sie, ein bisschen verlegen, weil er so freundlich war, und nahm seine Hand. »Und ich bin zeitungssüchtig.«
Er lachte.
»Danke für Ihre Hilfe«, fügte sie hinzu und rappelte sich auf.
»Kein Problem«, wehrte er ab und hielt ihr die Tür auf. Holly fand, dass er ziemlich gut aussah, vielleicht ein paar Jahre jünger als sie selbst, mit einer seltsamen Augenfarbe – eine Art Graugrün. Verstohlen sah sie noch einmal hin.
Er räusperte sich, und Holly wurde plötzlich bewusst, dass sie ihn anstarrte. Sie wurde knallrot, ging rasch zu ihrem Auto weiter und stellte die Tüte auf den Rücksitz. Rob war ihr gefolgt, und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer.
»Hallo noch mal«, lachte er. »Hmm … ich hab mich gefragt, ob Sie vielleicht Lust hätten, mit mir was trinken zu gehen?« Dann lachte er wieder und blickte auf seine Armbanduhr. »Für den Pub ist es ja noch ein bisschen früh, aber wie wäre es mit Kaffee?«
Er machte einen selbstbewussten Eindruck, wie er da, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, am Auto lehnte und Holly mit seinen seltsamen Augen unverhohlen musterte – als wäre es das Normalste der Welt, eine wildfremde Frau einfach so zum Kaffee einzuladen. Aber er wirkte so entspannt, dass Holly sich kein bisschen unbehaglich fühlte.
»Hmm … « Holly dachte nach. Was war dagegen einzuwenden? Rob war nett zu ihr gewesen, und außerdem sah er auch noch sehr gut aus. Und Holly sehnte sich nach Gesellschaft. Sharon und Denise hatten beide einen Job, Hollys Mutter war auch nicht ständig verfügbar, also musste sie irgendwann neue Leute kennen lernen. Viele von Gerrys und Hollys gemeinsamen Freunden waren Arbeitskollegen oder sonstige Bekannte von Gerry gewesen und ließen sich seit seinem Tod kaum mehr blicken. Zumindest wusste sie seither, wer ihre wirklichen Freunde waren.
Gerade wollte sie Rob zusagen, als er zufällig auf ihre Hand hinabschaute und sein Lächeln schlagartig verschwand. »Oh, tut mir Leid, ich hab gar nicht bemerkt … « Er wich zurück, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. »Ich muss sowieso los«, meinte er und eilte auch schon die Straße hinunter.
Verwirrt starrte Holly ihm nach. Sie blickte auf ihre Hand hinunter und sah dort ihren Ehering glitzern. Sie seufzte müde und rieb sich das Gesicht. Resigniert schlug sie die Autotür zu und schaute sich um. Sie mochte nicht nach Hause fahren, denn sie hatte genug davon, jeden Tag die Wände anzustarren und mit sich selbst zu reden. Es war erst zehn Uhr, und der Tag sonnig und warm. Auf der anderen Straßenseite befand sich eins ihrer Lieblingscafés, The Greasy Spoon; dort stellten sie gerade Tische und Stühle raus. Holly knurrte der Magen. Ein schönes großes irisches Frühstück war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie holte ihre Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, klemmte den Stapel Zeitungen unter den Arm und schlenderte über die Straße. Eine rundliche Frau säuberte gerade die Tische. Ihre Haare waren zu einem dicken Knoten zurückgesteckt, eine rotweiß karierte Schürze bedeckte ihr Blümchenkleid. Holly hatte das Gefühl, direkt in eine Bauernstube marschiert zu sein. »Ist eine Weile her, seit diese Tische das Sonnenlicht gesehen haben«, meinte sie fröhlich zu Holly.
»Ja, heute ist ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«, erwiderte Holly, und sie blickten beide in den wolkenlosen blauen Himmel empor. Kein Wunder, dass schönes Wetter in Irland immer gleich zum Thema des Tages avancierte. Es kam eben so selten vor.
»Wollen Sie sich hierher setzen?«
»Ja, gerne. Man sollte die Sonne ausnutzen, vielleicht fängt es in einer Stunde schon wieder an zu regnen«, lachte Holly und nahm Platz.
»Immer schön positiv denken«, meinte die Frau. »Ich hole Ihnen erst mal die Speisekarte.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Nein, warten Sie«, rief Holly ihr nach. »Ich weiß schon, was ich möchte! Ein schönes irisches Frühstück.«
»Alles klar«, lächelte die Frau. Dann fiel ihr Blick auf den Zeitungsstapel, den Holly vor sich hingelegt hatte. »Wollen Sie einen Kiosk aufmachen?«, kicherte sie.
Holly blickte auf den Stapel hinunter und musste ebenfalls lachen: Die oberste Zeitung war der »Arab Leader«.
»Um ehrlich zu sein«, sagte die Frau, während sie den Nebentisch abwischte, »es wäre uns allen nur recht, wenn Sie dem miesepetrigen alten Mistkerl da drüben das Wasser abgraben würden.« Holly lachte, und die Frau wuselte wieder zurück ins Café.
Eine Weile saß Holly einfach nur da und ließ die Welt an sich vorüberziehen. Sie liebte es, Gespräche anderer Leute zu belauschen – man bekam immer so interessante Einblicke in ihr Leben. Dann überlegte sie, womit sie wohl ihr Geld verdienten, wohin sie unterwegs waren, wo sie wohnten, ob sie verheiratet waren … Oft spielte sie dieses Rätselraten zusammen mit Sharon, wenn sie in Bewley’s Café saßen und auf die Grafton Street hinausschauten. Im Moment allerdings war Holly sehr oft alleine mit solchen Dingen beschäftigt.
Sie blätterte die mitgebrachten Zeitungen durch, und ein Artikel erregte sofort ihre Aufmerksamkeit.
»Girls and the City«, der Überraschungs-Quotenhit.
Von Tracey Coleman
Für alle die Unglücklichen, denen die unglaublich komische Dokumentation »Girls and the City« letzten Mittwoch entgangen ist, eine frohe Botschaft: Nicht verzagen, die Sendung wird demnächst wiederholt.
Die witzige Dokumentation des Iren Declan Kennedy begleitet fünf junge Dublinerinnen einen Abend lang beim exzessiven Feiern. Die Freundinnen verschaffen sich Zutritt in die mysteriöse Welt der Promis im Szeneclub »Boudoir« und erschüttern dabei dreißig Minuten lang unser Zwerchfell.
Bei der Erstausstrahlung am letzten Mittwoch auf Channel 4 hatte die Sendung einen sensationellen Erfolg mit 4 Millionen Zuschauern. Am Sonntagabend um 23 Uhr wird der Film nun wiederholt. Ein Muss, das Sie sich nicht entgehen lassen sollten! »Girls and the City«, Sonntag 23 Uhr, Channel 4
Holly bemühte sich, ruhig zu bleiben. Für Declan war das natürlich ein großer Erfolg, aber für sie eher eine Katastrophe. Jetzt wurde die Sendung auch noch wiederholt! Sie hatte wirklich genug am Hals, um sich auch noch über so was Gedanken zu machen.
Sie blätterte die anderen Zeitungen durch. Überall gab es Artikel über die Sendung, und ein Blatt hatte sogar ein älteres Foto von Denise, Sharon und Holly veröffentlicht. Zum Glück gab es auch einige richtige Neuigkeiten, sonst hätte sich Holly wirklich Sorgen um die Welt gemacht. Besonders glücklich war sie über Bezeichnungen wie »willenlose Weiber« oder »trinkfeste Partyqueens« nicht gerade.
Schließlich kam Hollys Frühstück. Auf dem Teller häuften sich Würstchen, Schinkenspeck, Eier, Leberwurst und Blutwurst, gebackene Bohnen, Bratkartoffeln, Pilze, Tomaten und fünf Scheiben Toast. Wie in aller Welt sollte sie das alles in sich reinstopfen? »Damit Sie ein bisschen Fleisch auf die Knochen kriegen«, meinte die rundliche Frau, die es vor sie auf den Tisch stellte. »Das können Sie brauchen, Sie sind viel zu dünn!«
Anscheinend hatte Holly länger im Greasy Spoon gesessen, als sie dachte, denn als sie in Portmarnock eintrudelte, war es schon fast zwei. Ganz entgegen ihrer Prophezeiung war das Wetter nicht schlechter geworden, sondern die Sonne strahlte immer noch von einem wolkenlosen Himmel. Holly blickte über den Strand zum Horizont; man konnte kaum ausmachen, wo der Himmel aufhörte und das Meer begann. Überall tummelten sich die Leute, in der Luft lag ein feiner Duft nach Sonnenmilch. Teeniegruppen saßen mit Ghettoblastern auf dem Grasstreifen und hörten lautstark die neuesten Hits. Die Klänge und Gerüche riefen in Holly angenehme Kindheitserinnerungen wach.
Sie klingelte, aber auch nach dem vierten Mal öffnete niemand. Aber es musste jemand da sein, denn im oberen Stockwerk standen die Schlafzimmerfenster offen. Wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren, ließen sie nie ein Fenster offen, vor allem, wenn so viele Strandbesucher durch die Gegend wanderten. Also ging Holly über den Rasen und drückte das Gesicht an die Scheibe des Wohnzimmerfensters, um zu sehen, ob es irgendwelche Lebenszeichen gab. Gerade wollte sie aufgeben, als sie plötzlich hörte, wie Declan und Ciara sich anbrüllten.
»Ciara, mach endlich die verdammte Tür auf!«
»Nein, hab ich gesagt. Ich habe zu tun!«, schrie sie zurück.
»Ich auch!«
Holly klingelte noch einmal.
»Declan!« Ein Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Geh doch selber, du faule Sau!«
»Das sagt ja der Richtige!«
Holly nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Eltern.
»Ciara, geh ans Telefon!«
»Nein!«
»Verdammt noch mal«, schimpfte Holly vor sich hin und versuchte es mit Declans Nummer.
»Ja?«
»Declan, mach die Tür auf, oder ich trete sie ein«, knurrte Holly.
»Oh, tut mir Leid, Holly, ich dachte, Ciara hätte längst aufgemacht«, log er.
In Boxershorts kam er zur Tür, und Holly stürmte hinein. »Was ist denn hier los? Ich hoffe nur, ihr beiden veranstaltet nicht jedes Mal so ein Theater, wenn es klingelt.«
Declan zuckte die Schultern. »Mum und Dad sind nicht da«, verkündete er und machte sich auf den Weg nach oben.
»Hey, wo willst du hin?«
»Wieder ins Bett.«
»Nein, du bleibst hier«, sagte Holly bestimmt. »Setz dich hin, dann können wir uns mal über ›Girls and the City‹ unterhalten.«
»Warum denn ausgerechnet jetzt?«, ächzte Declan. »Ich bin wirklich total müde.« Zum Beweis rieb er sich mit den Fäusten die Augen.
»Setz dich!«, wiederholte Holly nur und zeigte auf die Couch.
Ächzend befolgte er ihren Befehl, streckte sich aber in voller Länge aus, sodass für Holly kein Platz mehr blieb. Genervt zog sie sich den Lieblingssessel ihres Vaters heran.
»Ich fühl mich schon wie beim Seelenklempner«, lachte Declan, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte zu ihr empor.
»Gut so, dann kann ich dir auch gleich eine Gehirnwäsche verpassen.«
Declan zuckte zusammen. »Ach Holly, müssen wir uns denn wirklich deswegen streiten?«
»Komm schon, Declan«, fuhr sie in etwas sanfterem Ton fort. »Ich bin deine Schwester, ich will nicht an dir rumnörgeln. Ich möchte nur wissen, warum du uns nicht vorher gesagt hast, dass du uns filmst.«
»Ich hab euch doch gesagt, dass ich filme«, verteidigte er sich.
»Ja, für eine Doku übers Dubliner Nachtleben!«
»Es ging doch auch ums Nachtleben«, lachte Declan.
»Oh, du hältst dich wohl für superschlau«, fauchte Holly und er hörte auf zu lachen.
»Also Declan«, sagte sie dann etwas ruhiger, »meinst du nicht, dass ich momentan genug durchmache? Ich verstehe einfach nicht, warum du mich nicht vorher gefragt hast!«
Declan richtete sich auf, wurde ernst und klang zur Abwechslung mal wie ein Erwachsener. »Ich weiß, Holly, ich weiß, dass du eine schreckliche Zeit hinter dir hast, aber ich dachte, der Film würde dir Spaß machen. Ich wollte eigentlich wirklich nur den Club filmen. Aber als ich angefangen hab, das Material zu schneiden, fanden es alle so komisch, dass ich was draus machen musste. Holly, ihr wart einfach zum Schreien!« Er lachte wieder.
»Okay, aber es hätte ja wohl nicht gleich ins Fernsehen gemusst, oder?«
»Ich wusste nicht, dass das zum Preis gehört, ehrlich«, beteuerte er mit großen Augen. »Keiner wusste das, nicht mal die Dozenten!«
»Na gut, okay«, räumte Holly ein und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
»Ich hab wirklich gedacht, es würde dir gefallen«, lächelte er. »Ich hab sogar Ciara gefragt, und die meinte auch, dass du es witzig finden würdest. Tut mir Leid, wenn ich dich geärgert habe«, fügte er leise hinzu.
Holly nickte. Anscheinend hatte ihr Bruder wirklich die besten Absichten gehabt. Aber was hatte er da gerade gesagt? Sie setzte sich aufrecht in den Sessel. »Declan, hast du gerade gesagt, dass Ciara es gewusst hat?«
Declan erstarrte und suchte verzweifelt nach einer Ausrede. Schließlich warf er sich wieder der Länge nach auf die Couch und steckte den Kopf unter ein Kissen. Ihm war bewusst, dass er soeben den dritten Weltkrieg heraufbeschworen hatte.
»Oh, Holly, sag ihr nicht, dass du’s weißt, die bringt mich um!«, tönte es erstickt unter dem Kissen hervor.
Aber Holly sprang vom Sessel, rannte nach oben und hämmerte gegen Ciaras Zimmertür.
»Bleib draußen!«, brüllte Ciara.