Achtunddreißig
Wie angewurzelt stand Holly vor Daniels Zimmertür und glotzte von Laura zu Daniel und wieder zurück zu Laura.
Sein Handtuch fest umklammert stand Daniel da, zur Salzsäule erstarrt, das Gesicht schreckverzerrt. Laura dagegen funkelte Holly wütend an. Eine ganze Weile sagte keiner ein Wort. Holly konnte förmlich hören, wie ihre Gehirne tickten. Dann endlich sagte jemand etwas, aber Holly wäre ein anderer Jemand lieber gewesen. »Was haben Sie denn hier zu suchen?«, zischte Laura.
Holly klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Daniel furchte die Stirn, während er verwirrt von einer Frau zur anderen blickte. »Kennt ihr euch?«
Holly schluckte.
»Ha!« Laura verzog verächtlich das Gesicht. »Kennen ist wohl das falsche Wort! Ich hab die kleine Schlampe erwischt, wie sie meinen Freund geküsst hat!«, schrie sie und brach ab, als ihr klar wurde, was sie soeben gesagt hatte.
»Deinen Freund?«, wiederholte Daniel. Endlich kam Bewegung in ihn, und er näherte sich ebenfalls der Tür.
»Entschuldige, meinen Ex-Freund natürlich«, murmelte Laura und starrte zu Boden.
Ein kleines Lächeln schlich sich über Hollys Gesicht. »Ja, Stevie hieß er doch, stimmt’s? Ein guter Freund von Daniel, wenn ich mich recht entsinne.«
Daniel wurde knallrot, während er noch immer ratlos zwischen den beiden hin und her blickte. Laura starrte ihn an.
»Daniel ist ein guter Bekannter von mir«, erklärte Holly und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du hast Stevie geküsst?«, schaltete sich jetzt Daniel ein.
»Nein, ich habe Stevie nicht geküsst«, antwortete Holly und verzog noch bei der Erinnerung an ihr Erlebnis angewidert das Gesicht.
»Wohl hat sie ihn geküsst!«, schrie Laura und hörte sich an wie ein trotziges Kind.
»Würden Sie freundlicherweise mal die Klappe halten?«, entgegnete Holly. »Und überhaupt – was kümmert es Sie denn? Anscheinend sind Sie doch wieder mit Daniel zusammen, da könnte man doch meinen, dass alles nach Ihren Wünschen läuft!«
Wäre die Atmosphäre nicht so angespannt gewesen, hätte Holly über diese irrsinnige Situation beinahe lachen können.
»Nein, Daniel«, fuhr sie fort. »Ich habe Stevie nicht geküsst. Als wir zu Denises Junggesellinnenparty in Galway waren, hat Stevie zu viel getrunken und versucht, sich an mich ranzumachen«, erklärte sie ruhig.
»Ach, die lügt doch«, widersprach Laura. »Ich hab genau gesehen, was passiert ist.«
»Und Charlie ebenfalls.« Holly ignorierte Laura und wandte sich weiterhin nur an Daniel. »Du kannst ihn gerne fragen, wenn du mir nicht glaubst, und wenn du mir glaubst, ist es mir auch egal. Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, während sie demonstrativ auf das Handtuch starrte, das Daniels Blöße nur knapp bedeckte, »eigentlich wollte ich mich ein bisschen mit dir unterhalten, Daniel, aber du bist ja offensichtlich beschäftigt. Ich seh euch dann beide später bei der Hochzeit.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte den Korridor hinunter zu den Aufzügen, ihren Koffer im Schlepptau.
Erleichtert drückte sie auf den Knopf und schloss die Augen. Sie war nicht einmal richtig wütend auf Daniel, ja, auf eine kindische Art war sie sogar froh, dass das Gespräch nicht zustande gekommen war. Nun hatte er sie sitzen lassen und nicht umgekehrt, wie sie es erwartet hatte. Na ja, dann musste sie ihm wenigstens nicht wehtun … aber sie fand es trotzdem idiotisch von ihm, dass er sich wieder mit Laura eingelassen hatte …
»Willst du jetzt einsteigen oder nicht?«
Erschrocken schlug Holly die Augen auf. Sie hatte gar nicht gehört, dass der Aufzug gekommen war. »Leo!«, begrüßte sie ihren Bekannten lächelnd und stieg zu ihm ein. »Ich wusste ja gar nicht, dass du auch hier bist!«
»Ich mache der Bienenkönigin heute die Haare«, lachte er.
»Ist sie so schlimm?«, fragte Holly.
»Ach, sie war nur völlig aufgelöst, weil Tom sie am Hochzeitstag gesehen hat. Sie glaubt, das bringt Unglück.«
»Das bringt nur Unglück, wenn sie daran glaubt, dass es ihr Unglück bringt«, meinte Holly, die Vernunft in Person.
»Ich hab dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen«, sagte Leo und warf einen viel sagenden Blick auf Hollys Haare.
»Oh, ich weiß«, seufzte Holly und verdeckte schnell mit der Hand ihren Haaransatz. »Ich hatte diesen Monat bei der Arbeit so viel zu tun, dass ich nicht dazu gekommen bin.«
Leo zog die Augenbrauen hoch und machte ein belustigtes Gesicht. »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass du jemals in diesem Ton über deine Arbeit sprichst. Du hast dich sehr verändert.«
Holly lächelte. »Ja«, räumte sie nachdenklich ein. »Ja, ich glaube, da hast du Recht.«
»Na, dann komm«, schlug Leo beim Aussteigen vor. »Die Trauung ist erst in ein paar Stunden. Ich stecke dir die Haare hoch, dann sieht man den Ansatz nicht.«
»Würdest du das wirklich für mich tun?«, fragte Holly etwas schuldbewusst.
»Ja, gern sogar«, winkte Leo ihre Bedenken beiseite. »Wir können doch nicht zulassen, dass du mit diesen Haaren Denises Hochzeitsfotos verschandelst, oder?«
Im Festsaal des Hotels klirrte eine Gabel gegen ein Glas, und Denise sah gespannt um sich. Die Reden sollten beginnen. Nervös rieb Holly sich die Hände, während sie im Kopf ihre Ansprache noch einmal durchging. Den anderen Rednern hörte sie kaum zu. Der Form halber hatte sie ein permanentes Lächeln aufgesetzt, und sobald Gelächter an ihr Ohr drang, lachte sie mit.
Hätte sie sich doch bloß Notizen gemacht! Sie war so aufgeregt, dass ihr der Anfang nicht mehr einfiel. Ihr Herz begann wild zu pochen, als Daniel sich nach seinem Beitrag wieder setzte und alles applaudierte. Jetzt war sie an der Reihe, und diesmal konnte sie sich nicht auf der Toilette verstecken. Sharon drückte ihr beruhigend die Hand, und Holly lächelte zittrig. Dann kündigte Denises Vater ihre Rede an, und alle wandten sich ihr zu. Ein Meer von Gesichtern. Daniel zwinkerte verschwörerisch. Sie lächelte zu ihm hinüber, und ihr Herz beruhigte sich etwas. Alle ihre Freunde waren da. John hielt aufmunternd die Daumen in die Höhe, und wie durch ein Wunder formte sich in Hollys Kopf eine ganz andere Rede als die, die sie vorbereitet hatte. Sie räusperte sich.
»Bitte verzeiht, wenn ich ein bisschen emotional werde, aber ich freue mich einfach so sehr für Denise. Sie ist meine beste Freundin … « Sie machte eine kurze Pause, sah demonstrativ zu Sharon hinunter und ergänzte: » … eine meiner besten Freundinnen.«
Gelächter im Saal.
»Deshalb bin ich heute sehr, sehr stolz auf sie und freue mich, dass sie die Liebe ihres Lebens gefunden hat, in Gestalt eines so wundervollen Mannes wie Tom.«
Mit einem Lächeln sah sie, wie Denise die Tränen in die Augen traten. Dabei weinte sie doch fast nie.
»Einen Menschen zu finden, den man liebt, und der einen ebenfalls liebt, ist ein wunderschönes Gefühl. Aber einen wahren Seelenverwandten zu finden, ist sogar noch besser. Ein Seelenverwandter ist jemand, der einen besser versteht als alle anderen, der einen liebt wie kein anderer, der immer für einen da ist, komme, was da wolle. Man sagt, dass nichts für ewig ist, aber ich glaube fest daran, dass für manche Menschen die Liebe selbst dann weitergeht, wenn sie tot sind. Davon verstehe ich etwas, und ich weiß, dass Denise in Tom einen Seelenpartner gefunden hat. Denise, ich freue mich, dir sagen zu können, dass ein solches Band ewig hält.« Auf einmal hatte sie einen Kloß im Hals, und sie musste sich einen Moment fassen, ehe sie fortfuhr: »Ich freue mich sehr, dass ich diesen wunderbaren Tag mit euch teilen darf, und ich wünsche euch noch viele schöne Tage!«
Alle applaudierten und griffen nach ihren Gläsern.
»Aber … « Holly hob die Stimme und die Hand. Sofort wurde es leise und die Blicke richteten sich wieder auf sie.
»Einige der hier anwesenden Gäste kennen die Liste, die ein ganz besonderer Mann sich ausgedacht hat«, fuhr sie fort und blickte zu Johns Tisch hinüber, während Sharon und Denise zustimmende Laute von sich gaben. »Und zu den Regeln, die auf dieser Liste zusammengestellt sind, gehört auch, dass man niemals ein teures weißes Kleid tragen sollte.«
Denise prustete schon vor Lachen.
»Ich vergebe dir in Gerrys Namen die Verletzung dieser Regel. Aber nur deshalb, weil du absolut hinreißend aussiehst. Und ich möchte euch alle bitten, auf Tom und Denise anzustoßen, und auf Denises weißes Kleid, das sehr, sehr teuer war – das weiß ich nämlich, weil ich mit ihr in jedem Brautkleidladen von ganz Irland war!«
Die Gäste hoben ihre Gläser und wiederholten: »Auf Tom und Denise und auf Denises sehr, sehr teures weißes Kleid!«
Holly nahm wieder Platz, und Denise umarmte sie mit Tränen in den Augen. »Das war wunderbar, Holly!«
An Johns Tisch wurden die Gläser jetzt auf Hollys Wohl erhoben, und sie strahlte. Dann begann die Party.
Als Holly Tom und Denise zum ersten Mal als Mann und Frau zusammen tanzen sah, traten ihr die Tränen in die Augen, denn sie konnte sich an diesen Moment noch so gut erinnern. Aufregung, Hoffnung, Glück und Stolz, das Gefühl, dass man zwar nicht wusste, was die Zukunft bringen würde, aber bereit war und sich fähig fühlte, allem die Stirn zu bieten. Dieser Gedanke machte sie froh; sie würde nicht darüber weinen, sie würde ihn annehmen und würdigen, sie würde ihm Raum geben. Sie hatte jede Sekunde ihres Lebens mit Gerry genossen. Jetzt war es Zeit weiterzugehen. Zeit, das nächste Lebenskapitel in Angriff zu nehmen, das ganz sicher viele schöne Erlebnisse und Erinnerungen für sie bereithielt, aus denen sie etwas lernen konnte, und die ihr helfen würden, ihre Zukunft zu bewältigen. Es fühlte sich nicht mehr so schwer an wie noch vor wenigen Monaten, und bestimmt würde es in ein paar Monaten sogar noch leichter sein.
Sie hatte ein wundervolles Geschenk erhalten: das Leben. Und sie hatte begriffen, dass nicht jedem dieses Glück gewährt wurde – manchen Menschen wurde das Leben grausam und viel zu früh entrissen. Aber es kam darauf an, was man damit anfing, nicht darauf, wie lange es dauerte.
»Darf ich um diesen Tanz bitten?« Eine Hand erschien vor ihr, und als sie aufblickte, sah sie in Daniels lächelndes Gesicht.
»Na klar«, lächelte sie und nahm seine Hand.
»Darf ich dir sagen, dass du heute Abend sehr schön aussiehst?«
»Das darfst du, danke.« Holly war selbst sehr zufrieden damit, wie sie aussah; Denise hatte ein schönes fliederfarbenes Kleid mit einem eng geschnittenen Oberteil ausgesucht, unter dem ihr Weihnachtsbäuchlein einfach verschwand. Leo hatte ihr die Haare hochgesteckt, sodass ihr nur ein paar Strähnen locker ums Gesicht fielen. Sie fühlte sich schön. Prinzessin Holly. Bei dem Gedanken musste sie unwillkürlich grinsen.
»Deine Rede war toll«, meinte Daniel. »Mir ist übrigens klar geworden, wie egoistisch ich war. Du hast mir gesagt, dass du noch nicht bereit bist, aber ich habe dir nicht zugehört.«
»Schon okay, Daniel, ich glaube, ich bin noch lange nicht bereit. Aber danke, dass du so schnell über mich hinweggekommen bist«, setzte sie mit einem Blick zu Laura hinzu, die allein und mit mürrischer Miene am Tisch saß.
Daniel biss sich auf die Lippe. »Oh, ich weiß. Mir tut es wirklich Leid, Holly. Ich hab versucht, dich zu benachrichtigen, aber du warst unter keiner Nummer zu erreichen. Ich hab sogar mit deiner Mutter gesprochen … «
»Wann?«, fragte Holly erstaunt.
»Vor ein paar Tagen. Sie hat mir gesagt, wie du über die Sache mit uns denkst, und ich schwöre dir, ich wäre niemals mit Laura hierher gekommen, wenn deine Antwort positiv ausgefallen wäre«, beteuerte er.
Ungläubig schüttelte Holly den Kopf; ihre Mutter war manchmal ganz schön hinterhältig. »Tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, Daniel. Ich hab ein bisschen Zeit für mich gebraucht. Aber ich finde immer noch, dass du ein Idiot bist«, ergänzte sie und schüttelte den Kopf, als sie Lauras wütenden Blick auf sich ruhen sah.
Daniel seufzte. »Ich weiß. Aber sie und ich haben in nächster Zeit eine Menge zu besprechen, und wir werden es langsam angehen lassen. Wie du gesagt hast, für manche Menschen lebt die Liebe weiter.«
Holly schlug die Augen zum Himmel auf. »Hör bloß auf, mich zu zitieren«, lachte sie. »Solange ihr damit glücklich werdet … Obwohl ich das nicht für sehr wahrscheinlich halte.« Sie seufzte theatralisch, und Daniel lachte ebenfalls.
»Ich bin glücklich, Holly, aber anscheinend kann ich ohne Drama nicht leben«, erklärte er und schaute ebenfalls zu Laura hinüber, die ihm lächelnd zuwinkte, und sein Blick wurde weich. »Und was ist mit dir? Bist du glücklich?«, fragte er und forschte in ihrem Gesicht.
Holly überlegte. »Heute Abend bin ich glücklich, ja. Wegen morgen mache ich mir dann morgen Gedanken.«
Als der Countdown zum neuen Jahr nahte, gesellte sich Holly zu Sharon, John, Denise und Tom.
»Fünf … vier … drei … zwei … eins! Frohes neues Jahr!« Alles jubelte, und Ballons in allen Regenbogenfarben fielen von der Decke des Festsaals.
Holly umarmte ihre Freunde, und alle hatten sie Tränen in den Augen.
»Frohes neues Jahr«, sagte Sharon, drückte sie an sich und küsste sie auf die Wange.
Holly legte eine Hand auf Sharons Bauch und die andere auf Denises Schulter. »Ein frohes neues Jahr uns allen!«