Sechs
Holly lag auf dem Bett und knipste mit einem leicht irren Lächeln die Nachttischlampe aus und an. In einem Laden mit dem schönen Namen »Bed Knobs and Broomsticks« in Malahide hatte sie sich mit Sharon schließlich auf dieses Exemplar geeinigt. Die Lampe besaß einen wunderschön geschnitzten Fuß und einen cremefarbenen Schirm, was hervorragend zur ebenfalls in Creme und Holz gehaltenen Einrichtung des Schlafzimmers passte (natürlich war es auch die allerteuerste gewesen, aber sie konnten ja nicht einfach mit der Tradition brechen). Obgleich Gerry beim Einkaufen nicht körperlich bei ihr gewesen war, hatte sie trotzdem das Gefühl, dass sie die Lampe gemeinsam ausgesucht hatten.
Um die Neuerwerbung zu testen, hatte sie die Vorhänge im Schlafzimmer zugezogen. Im Licht der Nachttischlampe wirkte das Zimmer weicher und wärmer. Wie leicht eine Lampe die nächtlichen Wortgefechte zwischen ihnen hätte beenden können. Aber vielleicht hatten sie das beide nicht gewollt. Es war ihnen fast zu einer lieben Gewohnheit geworden, etwas Vertrautes, was sie einander noch näher brachte. Holly hätte alles darum gegeben, noch einmal so einen kleinen Streit erleben zu dürfen. Sie wäre sofort für Gerry aus ihrem gemütlichen Bett gestiegen und mit Freuden über die kalten Fliesen getappt. Es hätte ihr nicht mal etwas ausgemacht, sich im Dunkeln am Bettpfosten zu stoßen. Aber diese Zeit war vorbei, ein für alle Male.
Der Klang von Gloria Gaynors »I Will Survive« holte sie ruckartig zurück in die Gegenwart. Ihr Handy klingelte.
»Hallo?«
»Hallöchen, ich bin wieder da-aa!«, kreischte eine vertraute Stimme.
»O mein Gott, Ciara! Ich wusste gar nicht, dass du heimkommen wolltest!«
»Tja, ich eigentlich auch nicht, aber mir ist das Geld ausgegangen, und da dachte ich, ich überrasche euch alle!«
»Na, bei Mum und Dad hast du das bestimmt geschafft.«
»Ja, Dad hat vor Schreck das Handtuch fallen lassen, als er aus der Dusche kam.«
Holly schlug sich die Hand vor den Mund. »Nein, Ciara, das hast du dir ausgedacht!«
»Da konnte ich ihn nicht mal umarmen«, lachte Ciara.
»Oje, oje, wechseln wir lieber das Thema, ich kriege schon Visionen«, kicherte Holly.
»Okay, was ich dir sagen wollte – ich bin wieder da, wie du inzwischen wahrscheinlich gemerkt hast, und Mum organisiert zur Feier des Tages heute Abend ein Essen.«
»Was will sie denn feiern?«
»Dass ich noch am Leben bin.«
»Oh, okay. Ich dachte, du hast irgendwas zu verkünden oder so.«
»Ja, dass ich lebe.«
»Na schön. Wer kommt denn alles?«
»Die ganze Familie.«
»Hab ich schon erwähnt, dass ich dringend zum Zahnarzt muss? Ich kriege alle Zähne gezogen, da kann ich wirklich nicht kommen, tut mir Leid.«
»Ich weiß, ich weiß, das hab ich Mum auch schon gesagt, aber wir waren schon seit einer Ewigkeit nicht mehr alle zusammen. Weißt du überhaupt noch, wann wir Richard und Meredith das letzte Mal gesehen haben?«
»Ach, der gute alte Dick, er war echt in Hochform bei der Beerdigung. Hatte jede Menge tröstliche Ratschläge für mich, zum Beispiel ›Hast du schon mal daran gedacht, Gerrys Gehirn der medizinischen Forschung zur Verfügung zu stellen?‹ Er ist wirklich ein ganz wundervoller Bruder.«
»Ach Gott, Holly, entschuldige, die Beerdigung hatte ich ganz vergessen.« Die Stimme ihrer Schwester veränderte sich. »Tut mir Leid, dass ich nicht da war.«
»Ciara, sei nicht albern, wir haben doch beide einhellig beschlossen, dass es sich nicht lohnt, extra von Australien herzukommen und gleich wieder zurückzufliegen. Also reden wir nicht mehr darüber, in Ordnung?«, entgegnete Holly energisch.
»Ja, okay.«
Holly wechselte das Thema. »Wenn du sagst, die ganze Familie, meinst du dann …?«
»Ja, Richard und Meredith bringen unsere anbetungswürdige kleine Nichte und unseren anbetungswürdigen kleinen Neffen mit. Aber Jack und Abbey kommen auch, da freust du dich bestimmt. Declan wird körperlich, wenn auch vielleicht nicht geistig anwesend sein, Mum, Dad und ich sind natürlich da, und du musst einfach auch kommen.«
Holly stöhnte, aber so sehr sie auch an ihrer Familie herumnörgelte, hatte sie zu ihrem Bruder Jack doch ein sehr gutes Verhältnis. Er war nur zwei Jahre älter als sie, und er hatte sie immer beschützt. Ihre Mutter hatte die beiden früher »meine zwei kleinen Elfen« genannt, weil sie überall im Haus ihre Streiche spielten (die meist auf ihren ältesten Bruder Richard abzielten). Jack war Holly sowohl äußerlich als auch vom Charakter her sehr ähnlich, und ihrer Meinung nach war er auch der normalste ihrer Geschwister. Natürlich trug auch dazu bei, dass sich Holly mit Abbey, die seit sieben Jahren Jacks Freundin war, bestens verstand. Als Gerry noch lebte, hatten sie sich oft zu viert zum Essen oder in der Kneipe getroffen. Als Gerry noch lebte …
Ciara war ein ganz anderes Kaliber. Jack und Holly waren überzeugt, dass sie vom Planeten Ciara stammte, auf dem es nur ein einziges Lebewesen gab, nämlich Ciara selbst. Mit ihren langen Beinen und den dunklen Haaren kam sie nach ihrem Vater. Von ihren Reisen um die Welt hatte sie die verschiedensten Tattoos und Piercings mitgebracht. Eine Tätowierung für jedes Land, sagte ihr Vater manchmal im Scherz. Holly und Jack glaubten eher, dass es ein Tattoo für jeden Lover war.
Für solche Spinnereien hatte der Älteste der Familie, Richard (oder Dick, wie Jack und Holly ihn nannten) absolut kein Verständnis. Richard war von Geburt an erwachsen gewesen. Sein Leben drehte sich um Regeln und Vorschriften. Als Junge hatte er einen Freund gehabt, mit dem er sich, als sie beide zehn waren, zerstritt. Holly konnte sich nicht erinnern, dass er danach jemals wieder jemanden mit nach Hause gebracht, eine Freundin gehabt oder jemals etwas mit anderen unternommen hätte. Sie und Jack konnten sich nicht erklären, wie und wo er seine freudlose Frau Meredith kennen gelernt hatte. Wahrscheinlich bei einer Tagung des Anti-Spaß-Verbandes.
Nun hatte Holly durchaus nicht das Gefühl, die schlimmste Familie der Welt erwischt zu haben, es war nur so eine seltsame Mischung. Die Persönlichkeiten waren dermaßen unterschiedlich, dass es oft bei den ungünstigsten Gelegenheiten zu Zusammenstößen kam, oder, wie Hollys Eltern es nannten, zu »hitzigen Diskussionen«. Grundsätzlich kamen sie miteinander aus, aber nur, wenn alle sich ehrlich bemühten.
Holly traf sich häufig zum Mittagessen oder zu einem Drink mit Jack. Sie war gern mit ihm zusammen, und für sie war Jack nicht nur ein Bruder, sondern auch ein guter Freund. In letzter Zeit hatten sie sich zwar nicht so oft gesehen wie sonst, aber Jack wusste, dass Holly Zeit und Raum für sich selbst brauchte.
Über das Leben ihres jüngeren Bruders Declan erfuhr Holly nur etwas, wenn er zufällig allein zu Hause war. Declan redete nicht besonders viel und fühlte sich in Gegenwart von Erwachsenen nie richtig wohl, deshalb wusste Holly kaum etwas über ihn. Ein netter Junge, der aber meistens in anderen Sphären schwebte.
Ciara, Hollys Schwester, war das ganze Jahr weg gewesen, und Holly hatte sie sehr vermisst. Zwar gehörten sie nicht zu der Sorte Schwestern, die ständig Klamotten tauschen und über Jungs kichern – dafür unterschieden sich ihre Geschmäcker viel zu sehr –, aber als die beiden einzigen Mädchen der Familie verstanden sie sich trotzdem sehr gut. Ciara stand Declan sehr nahe, sie waren beide irgendwie Träumer. So blieb immer einer übrig, nämlich Richard. Er war der Außenseiter in der Familie, und Holly hatte den Verdacht, dass ihm diese Position irgendwie gefiel. Holly wartete immer schon auf seine langweiligen, nervigen Vorträge, und besonders hasste sie seine unsensiblen Fragen. Heute würde sie ihn Ciara zuliebe ertragen müssen, und wenigstens würde Jack da sein. Aber freuen tat sie sich auf den Abend wirklich nicht.
Zögernd klopfte Holly an die Tür ihres alten Zuhauses und hörte sofort das Trippeln kleiner Füßchen, die zur Tür gesaust kamen.
»Mummy! Daddy! Es ist Tante Holly, es ist Tante Holly!«
Es war ihr Neffe Timothy, es war ihr Neffe Timothy!
Doch sein Frohsinn wurde rasch unterbunden. (Es war sowieso ungewöhnlich, dass Timothy sich über Hollys Ankunft freute – heute langweilte er sich anscheinend noch mehr als sonst.) »Timothy!«, ertönte eine strenge Stimme. »Was habe ich dir über das Rumrennen im Haus gesagt? Du kannst hinfallen und dir wehtun! Jetzt stell dich in die Ecke da drüben und denk darüber nach, was ich gesagt habe. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, Mommy.«
»Ach komm, Meredith, wie soll er sich denn auf dem Teppich wehtun?«
Holly lachte in sich hinein: Kein Zweifel, Ciara war zu Hause. Die Tür ging auf, und da stand Meredith. Sie sah noch mürrischer aus als normalerweise.
»Holly«, sagte sie nur und nickte zur Begrüßung.
»Meredith«, antwortete Holly in gleicher Manier.
Im Wohnzimmer sah sie sich gleich nach Jack um, konnte ihn aber zu ihrer Enttäuschung nirgendwo entdecken. Vor dem Kamin stand Richard, erstaunlicherweise in einem farbenfrohen Pulli. Vielleicht hatte er vor, heute Abend mal richtig über die Stränge zu schlagen. Die Hände tief in den Taschen vergraben, wippte er auf den Fußballen hin und her wie ein Professor beim Seminar. Opfer des Vortrags war sein armer Vater, Frank, der unbehaglich wie ein gescholtener Schuljunge in seinem Lieblingssessel kauerte. Richard war so vertieft in seine Rede, dass er Holly nicht bemerkte. Sie warf ihrem Vater ein Kusshändchen zu, denn sie wollte auf gar keinen Fall in dieses Gespräch hineingezogen werden. Ihr Vater lächelte und fing den Kuss auf.
Declan fläzte in zerrissenen Jeans und einem South-Park-T-Shirt auf der Couch und paffte eine Zigarette, befand sich aber – offensichtlich unfreiwillig – in den Klauen von Meredith, die ihm gerade eine Gardinenpredigt über die Gefahren des Rauchens hielt. »Ach wirklich? Das wusste ich ja gar nicht«, sagte er mit besorgter Stimme und drückte die Zigarette aus. Meredith machte schon ein zufriedenes Gesicht, aber Declan griff augenzwinkernd nach der Schachtel und zündete sich den nächsten Glimmstengel an. »Erzähl weiter, ich sterbe vor Neugier.« Empört starrte Meredith ihn an.
Ciara hatte sich hinter der Couch versteckt und bombardierte Timothy, der in der Ecke stand und sich nicht umzudrehen traute, mit Popcorn. Abbey wurde von der fünfjährigen Emily und einer gemein aussehenden Puppe auf dem Boden festgehalten. Sie fing Hollys Blick auf und formte ein »Hilfe!« mit den Lippen.
»Hi, Ciara.« Holly trat auf ihre Schwester zu. »Tolle Haare.«
Sofort sprang Ciara auf und umarmte Holly fest. »Gefallen sie dir?«
»Ja, Rosa ist echt deine Farbe.«
Ciara machte ein zufriedenes Gesicht. »Das hab ich denen da drüben auch begreiflich zu machen versucht«, bemerkte sie und starrte mit zusammengekniffenen Augen zu Richard und Meredith hinüber. »Wie geht’s denn meiner großen Schwester?«, fragte sie dann leise und strich Holly liebevoll über den Arm.
»Ach, weißt du, ich mache eben irgendwie weiter«, antwortete Holly mit einem schwachen Lächeln.
»Jack hilft deiner Mum in der Küche, falls du ihn suchst, Holly«, verkündete Abbey und schloss einen weiteren lautlosen Hilfeschrei an.
Holly zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Echt? Also, ist das nicht großartig, dass Jack in der Küche hilft?«
»Ach Holly, weißt du denn nicht, wie gerne Jack kocht – man kriegt ihn kaum aus der Küche raus«, meinte Abbey sarkastisch.
Hollys Vater lachte leise, was Richard abrupt in seinem Vortrag innehalten ließ. »Was ist denn so komisch, Vater?«
Nervös rutschte Frank auf seinem Stuhl herum. »Ich finde es nur bemerkenswert, was alles in so einem kleinen Reagenzglas geschieht.«
Mit einem abschätzigen Seufzer erwiderte Richard: »Ja, aber diese Organismen sind eben auch winzig, verstehst du, Vater. Faszinierend. Sie reagieren mit den … « Und schon legte er wieder los, während sein Vater sich im Sessel zurücklehnte und verzweifelt Hollys Blick mied, um nicht wieder lachen zu müssen.
Auf Zehenspitzen schlich sich Holly in die Küche, wo ihr Bruder auf einem Stuhl saß, die Beine auf den Tisch gelegt, und irgendetwas kaute. »Ah, da ist er ja, der ›naked chef‹ persönlich.«
Jack grinste und stand auf. »Meine Lieblingsschwester!« Er zog die Nase kraus. »Wie ich sehe, hat man also auch dich hierher gelockt.« Mit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu und drückte sie fest an sich. »Wie geht es dir?«, sagte er leise in ihr Ohr.
»Ganz gut, danke«, antwortete Holly mit einem traurigen Lächeln und küsste ihn auf die Wange, ehe sie sich ihrer Mutter zuwandte. »Liebste Mum, ich bin da, um dir in dieser mühseligen Phase deines Lebens meine Hilfe anzubieten«, sagte Holly, während sie auch ihrer Mutter einen Kuss auf die erhitzten Wangen drückte. »Ach, was hab ich für ein Glück, dass ich so aufmerksame Kinder habe«, meinte Elizabeth ein wenig sarkastisch. »Ich sag dir was: Du kannst das Kartoffelwasser abgießen.«
»Mum, erzähl uns von der Hungersnot damals, als du ein kleines Mädchen warst und es keine Kartoffeln mehr gab«, sagte Jack mit einem übertriebenen irischen Akzent.
Elizabeth wedelte mit dem Geschirrtuch nach ihm und gab im gleichen Ton zurück: »Höre, mein Sohn, dies war lange vor meiner Zeit.«
»Bist du dessen ganz gewiss?«, fragte Jack.
»Ja, ganz gewisslich«, mischte sich Holly ein.
Die beiden anderen schauten sie an. »Seit wann gibt es denn das Wort gewisslich?«, lachte ihre Mutter.
»Ach, haltet doch den Mund, alle beide.« Holly setzte sich zu ihrem Bruder an den Tisch.
»Ich hoffe, ihr beiden habt keinen Quatsch vor heute Abend, ich hätte das Haus nämlich zur Abwechslung gern als streitfreie Zone.«
»Mutter, ich bin schockiert, dass du überhaupt auf solche Ideen kommst«, erwiderte Jack und zwinkerte Holly zu.
»Na schön«, meinte ihre Mutter, die ihm natürlich kein Wort glaubte. »Tja, tut mir Leid, Kinderchen, aber hier gibt’s für euch nichts mehr zu tun. In ein paar Minuten ist das Essen fertig.« Elizabeth setzte sich zu ihren Kindern an den Tisch, und sie starrten alle drei zur Küchentür und dachten das Gleiche.
»Nein, Abbey«, hörte man Emily schreien, »du musst tun, was ich dir sage!« Dann lautes Geheule. Kurz darauf hörte man Richard dröhnend lachen – wahrscheinlich hatte er einen Witz gemacht, denn er war der Einzige, der lachte.
»Alle mal herhören, das Essen ist fertig!«, verkündete Elizabeth, und alle gingen ins Esszimmer. Wie bei einem Kindergeburtstag herrschte einen Moment Chaos, weil jeder sich anstrengte, einen Platz mit netten Nachbarn zu ergattern. Holly war zufrieden; sie saß zwischen ihrer Mutter und Jack. Abbey zog eine Grimasse: Zwar hatte sie den Platz neben Jack erwischt, aber auf ihrer anderen Seite saß Richard. Declan saß Holly gegenüber, neben ihm war ein leerer Stuhl, auf dem eigentlich Timothy sitzen sollte, dann kamen Emily, Meredith und Ciara. Hollys Vater hatte den schwarzen Peter zwischen Richard und Ciara am Kopfende des Tischs, aber er war so ein entspannter Mensch, dass er dieser Aufgabe von allen am besten gewachsen war.
Unter Oohs und Aahs trug Elizabeth das Essen auf, und bald erfüllte der Duft den ganzen Raum. Holly hatte die Kochkünste ihrer Mutter schon immer geliebt; Elizabeth experimentierte immer wieder mit neuen Gewürzen und Rezepten – das hatte sie ihrer Tochter vererbt. »Hey, Timmy verhungert noch da draußen«, rief Ciara Richard zu. »Der arme Junge hat doch inzwischen wirklich genug Strafe gehabt.«
»Er heißt Timothy«, verbesserte Meredith sie steif.
»Ihr fahrt ganz schön auf diese Strafaktionen ab, was?«, bohrte Ciara weiter. Sie wusste, dass sie sich damit auf dünnes Eis begab, aber sie liebte das Risiko, und noch mehr liebte sie es, Richard zu ärgern. Schließlich war sie ein Jahr lang weg gewesen, da hatte sie viel nachzuholen.
»Ciara, es ist wichtig, dass Timothy weiß, wann er etwas falsch gemacht hat«, erklärte Richard.
»Ja, aber kannst du ihm das nicht einfach sagen?«
Der Rest der Familie musste sich das Lachen verbeißen.
»Er muss lernen, dass seine Handlungen bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen, damit sich keine unerwünschten Verhaltensweisen bei ihm einschleifen.«
»Na schön«, entgegnete Ciara und hob die Stimme, »aber jetzt verpasst er das ganze leckere Essen. Hmmmm, mjamm, mmmm«, schmatzte sie.
»Hör auf, Ciara«, schaltete sich Elizabeth ein.
»Sonst musst du in der Ecke stehen«, fügte Jack streng hinzu.
Der ganze Tisch brach in Gelächter aus, natürlich abgesehen von Meredith und Richard.
»Also, Ciara, erzähl uns doch mal was von deinen Abenteuern in Australien«, warf sich Frank rasch in die Bresche.
Ciaras Augen leuchteten auf. »Oh, es war wirklich toll, Dad, ich kann es nur jedem empfehlen.«
»Der Flug dauert so schrecklich lange«, wandte Richard ein.
»Ja, aber es lohnt sich.«
»Hast du neue Tattoos?«, erkundigte sich Holly.
»Ja, schau mal, hier.« Ciara stand auf und zog sich die Hose herunter, um einen Schmetterling auf ihrem Hinterteil zu zeigen.
Ihre Eltern, Richard und Meredith protestierten empört, während die anderen sich vor Lachen ausschütteten. Als Ciara sich endlich entschuldigt hatte und Meredith die Hände von Emilys Augen nehmen konnte, beruhigten sich alle wieder.
»Ich finde sie widerwärtig«, stellte Richard angeekelt fest.
»Ich finde Schmetterlinge hübsch, Daddy«, meinte Emily mit großen unschuldigen Augen.
»Ja, manche Schmetterlinge sind schon hübsch, Emily, aber ich spreche von Tätowierungen. Da kann man sich leicht alle möglichen Krankheiten und Probleme einhandeln.« Emilys Lächeln erlosch.
»Hey, ich hab das keineswegs in irgendeinem schmierigen Etablissement machen lassen, wo man sich die Nadeln mit den Drogendealern teilt, weißt du. Das Studio war blitzsauber.«
»Also das ist nun wirklich ein Widerspruch in sich«, meinte Meredith voller Ekel.
»Warst du in letzter Zeit denn mal in einem Tattoo-Studio, Meredith?«, erkundigte sich Ciara etwas zu heftig.
»Hmm … nnnein«, stotterte sie. »Ich war noch nie in so einem Laden, nein danke, aber ich kann mir vorstellen, wie es da aussieht.« Dann wandte sie sich Emily zu. »Solche Läden sind schmutzig und hässlich, Emily, und nur gefährliche Leute gehen hin.«
»Ist Tante Ciara auch gefährlich, Mommy?«
»Nur für fünfjährige kleine Mädchen mit roten Haaren«, antwortete Ciara und stopfte sich einen großen Bissen in den Mund.
Emily erstarrte.
»Richard, Schätzchen, meinst du nicht, Timmy würde jetzt gern reinkommen und etwas essen?«, fragte Elizabeth höflich.
»Er heißt Timothy«, mischte Meredith sich ein.
»Doch, Mutter, ich denke, das wäre in Ordnung.«
Ein sehr geknickter kleiner Timmy – oder vielmehr Timothy – kam langsam und mit gesenktem Kopf herein und setzte sich still neben Declan. Holly spürte großes Mitleid mit ihm. Es war doch gemein, ein Kind so zu behandeln … Aber ihre mitfühlenden Gedanken verflogen sofort, als Timothy unter dem Tisch schmerzhaft gegen ihr Schienbein trat.
»Also, Ciara, los, erzähl uns endlich was. Du hast doch da unten bestimmt total abgefahrene Sachen erlebt, oder?«, wandte Holly sich an ihre Schwester.
»O ja, ich hab zum Beispiel Bungeejumping gemacht, ein paar Mal. Davon gibt’s sogar ein Foto.« Sie fasste in die hintere Hosentasche, und alle wandten rasch die Augen ab, für den Fall, dass sie weitere nicht jugendfreie Körperteile zu entblößen gedachte. Aber Gott sei Dank holte sie nur ihr Portemonnaie heraus, reichte ein Foto herum und erklärte dabei weiter.
»Das erste Mal bin ich von einer Brücke gesprungen und kopfüber im Wasser gelandet … «
»O Ciara, das klingt aber richtig gefährlich«, rief ihre Mutter und schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.
»Ach was, das war überhaupt nicht gefährlich«, versicherte Ciara. »Die Sprünge werden von Profis organisiert, überhaupt kein Vergleich mit dem, was Declan damals beim Festival gemacht hat.«
Nervös schluckte Declan seinen Bissen hinunter. »Ciara, das waren auch Profis. Du glaubst doch wohl nicht, dass die Veranstalter sonst so was auf ihrem Gelände zugelassen hätten, mit Hunderten von Zuschauern.«
»Ich hab was anderes gehört«, entgegnete Ciara achselzuckend.
Endlich kam das Foto zu Holly, und sie und Jack fingen gleichzeitig an zu lachen. Ciara baumelte kopfüber an einem Seil, das Gesicht von einem Angstschrei völlig verzerrt. Ihre Haare (damals blau gefärbt) sträubten sich in alle Himmelrichtungen, als stünden sie unter Strom.
»Tolles Foto, Ciara! Mum, das musst du rahmen lassen und über den Kamin hängen«, witzelte Holly.
»O ja!« Ciara bekam leuchtende Augen. »Prima Idee.«
»Aber sicher, Schätzchen, ich hänge das Bild von deiner Heiligen Kommunion ab und nehme stattdessen das hier«, meinte Elizabeth
ironisch.
»Na ja, ich weiß jedenfalls nicht, welches gruseliger ist«, sagte Declan nachdenklich.
»Holly, was machst du eigentlich an deinem Geburtstag?«, fragte Abbey und beugte sich herüber.
»Ach, stimmt ja!«, rief Ciara. »Du wirst ja bald dreißig!«
»Ich mache überhaupt nichts«, wehrte Holly ab, »und ich möchte auch keine Überraschungsparty oder so was. Bitte.«
»Oh, du musst aber … «, setzte Ciara an.
»Nein, sie muss überhaupt nichts, wenn sie nicht will«, fiel ihr Vater ihr ins Wort und zwinkerte Holly verschwörerisch zu.
»Danke, Dad. Ich geh vielleicht einfach mit ein paar Freundinnen abends einen trinken oder so. Nichts Aufregendes.«
Richard schnalzte tadelnd mit der Zunge, als das Foto bei ihm ankam, und gab es rasch weiter an seinen Vater, der bei Ciaras Anblick leise in sich hineinlachte.
»Ja, ich bin ganz deiner Meinung, Holly«, sagte Richard. »Solche Geburtstagsfeste sind immer ein bisschen peinlich. Erwachsene Menschen benehmen sich plötzlich wie kleine Kinder und trinken viel zu viel. Du hast vollkommen Recht.«
»Eigentlich mag ich Partys, Richard«, konterte Holly. »Nur bin ich dieses Jahr absolut nicht in Feierstimmung.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann überbrückte Ciara: »Ein Mädels-Abend also, ja?«
»Kann ich mitkommen und meine Kamera mitbringen?«, fragte Declan.
»Was?«
»Ich brauche ein bisschen Material über die Kneipenszene und so fürs College.«
»Na ja, wenn es dir was bringt … aber wir gehen bestimmt nicht in diese ganzen Trendschuppen, die du so toll findest.«
»Nein, nein, es ist mir ganz egal, wo ihr hing … autsch!«, schrie er auf und starrte Timothy drohend an. Timmy streckte ihm die Zunge heraus, und das Gespräch ging weiter. Als der Hauptgang vertilgt war, verschwand Ciara und kehrte mit einer großen Tasche zurück. »Geschenke!«, verkündete sie. Timmy und Emily jubelten. Holly hoffte, dass Ciara überhaupt an die beiden gedacht hatte.
Ihr Vater bekam einen bunt angemalten Bumerang und tat so, als wollte er damit auf seine Frau werfen. Richard nahm ein T-Shirt mit der Landkarte von Australien entgegen, die er sofort seinen Kindern erklärte. Meredith ging leer aus. Jack und Declan erhielten beide ein T-Shirt mit seltsamen Bildern und der Unterschrift: »Ich war im Busch«, und Hollys Mutter freute sich über eine Sammlung mit alten Rezepten der Aborigines; Holly war richtig gerührt, denn Ciara hatte ihr einen Traumfänger aus bunten Federn und Stöckchen mitgebracht. »Damit alle deine Träume wahr werden«, flüsterte Ciara ihr ins Ohr und küsste sie auf die Wange.
Zum Glück hatte Ciara für Timmy und Emily Süßigkeiten dabei, die allerdings ziemlich große Ähnlichkeit mit den gängigen Produkten aus dem Laden um die Ecke aufwiesen und unverzüglich von Richard und Meredith konfisziert wurden, weil die Kinder sich nicht die Zähne kaputtmachen sollten.
»Na, dann gib mir das Zeug zurück, damit ich meine eigenen Zähne damit kaputtmachen kann«, verlangte Ciara.
Timmy und Emily starrten traurig auf die Geschenke der anderen und bekamen prompt einen Tadel von Richard, weil sie sich nicht ordentlich auf die Landkarte von Australien konzentrierten. Timmy zog Holly eine Grimasse, und ihr Mitleid war schon wieder wie ausgeblasen.
»Wir sollten uns auf den Weg machen, sonst schlafen die Kinder noch im Sitzen ein«, mahnte Meredith kurze Zeit später. Die angeblich so müden Kinder waren hellwach und versetzten Holly und Declan unter dem Tisch fleißig Fußtritte.
»Nun, ehe alle wieder verschwinden«, rief Hollys Vater laut über den Tisch und das allgemeine Geplapper verstummte. »Ich möchte gern einen Toast ausbringen auf unsere wunderbare Tochter Ciara, denn wir feiern heute ihre Rückkehr.« Er lächelte seine Tochter an, und Ciara sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. »Wir haben dich vermisst, Liebes, und sind froh, dass du wohlbehalten wieder zu Hause bist«, beendete Frank seine kurze Rede. Dann hob er das Glas und rief: »Auf Ciara.«
»Auf Ciara!«, wiederholten alle und tranken ihre Gläser aus.
Als sich die Tür hinter Richard und Meredith geschlossen hatte, begannen auch die anderen nach und nach aufzubrechen. Holly trat in die kühle Luft hinaus und ging allein zu ihrem Auto. Ihre Eltern standen an der Tür und winkten, aber sie fühlte sich schrecklich einsam. Sonst war sie nach solchen Einladungen immer zusammen mit Gerry nach Hause gegangen, oder er hatte daheim auf sie gewartet. Aber das war nicht mehr so, weder heute, noch morgen, noch übermorgen …