Dreizehn

Holly befestigte das Laken mit ein paar Wäscheklammern an der Leine und dachte darüber nach, wie sie den Rest des Mais herumgebracht und dabei versucht hatte, ihrem Leben irgendeine Art von Ordnung zu geben. An manchen Tagen war sie richtig zufrieden und voller Zuversicht gewesen. Aber dann war dieses Gefühl ebenso plötzlich verschwunden, wie es gekommen war, und sie spürte, wie die Traurigkeit zurückkehrte. Sie sehnte sich danach, sich wieder in ihrem Körper und ihrem Leben aufgehoben zu fühlen, statt wie ein Zombie umherzuirren und ihrer Umwelt beim Leben zuzuschauen, während sie darauf wartete, dass ihres herumging. Stundenlang saß sie im Wohnzimmer und versuchte, sich jede einzelne Erinnerung an Gerry ins Gedächtnis zu rufen. Unglücklicherweise dachte sie dabei auch an jeden Streit und wünschte sich, sie könnte ihn ungeschehen machen, könnte jedes gemeine Wort zurücknehmen, das sie ihm je an den Kopf geworfen hatte. Sie quälte sich, weil sie manchmal so egoistisch gewesen und zum Beispiel einfach mit ihren Freundinnen weggegangen war, wenn sie sich gerade über ihn geärgert hatte. Sie schalt sich dafür, dass sie oft tagelang gegrollt hatte, statt ihm zu verzeihen, dass sie sich an manchen Abenden einfach müde zur Wand gedreht hatte, statt mit ihm zu schlafen. Am liebsten hätte sie nur Erinnerungen an die guten Zeiten gehabt, aber die schlechten ließen sie nicht in Ruhe. Warum hatte ihnen niemand gesagt, dass sie nur so wenig Zeit zusammen haben würden?

Dann gab es gute Tage, an denen sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht herumspazierte und sich dabei erwischte, wie sie vor sich hinkicherte, wenn ihr mitten auf der Straße ein Witz von Gerry einfiel. Tagelang verfiel sie in tiefschwarze Depressionen, dann fand sie endlich die Kraft, die Dinge positiv zu sehen, und war ein paar Tage fröhlich. Aber die kleinsten Kleinigkeiten konnten den nächsten Tränenstrom auslösen. Es war so ermüdend, und meistens hatte sie keine Lust, mit ihren Gedanken zu kämpfen. Denn die waren sowieso viel stärker als ihr Körper.

Freunde und Familie kamen und gingen; manchmal half es, mit ihnen zu weinen, manchmal brachten sie sie zum Lachen, aber selbst dann fehlte ihr etwas. Richtig glücklich war sie nie, sie vertrieb sich nur die Zeit, während sie auf etwas wartete. Wozu sollte sie leben, wenn dieses Leben leer und sinnlos war? Solche Fragen gingen ihr ständig im Kopf herum, bis sie zu dem Punkt kam, an dem sie nicht mehr aus ihren Träumen erwachen wollte, die sich so real anfühlten.

Sie las Gerrys Briefe immer und immer wieder, analysierte jedes Wort, jeden Satz und entdeckte jeden Tag eine neue Bedeutung. Aber sie konnte nachdenken, so viel sie wollte, konnte zwischen den Zeilen lesen und sich verborgene Botschaften ausdenken – Tatsache blieb, dass sie niemals wirklich wissen würde, was Gerry gemeint hatte, denn sie würde nie wieder mit ihm sprechen. Damit zurechtzukommen war das Allerschwerste, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie daran zugrunde gehen würde.

Aber dann kam wieder ein guter Tag …

Der Mai ging vorüber, der Juni zog ins Land. Nun waren endlich die langen, warmen Sommerabende gekommen, die wunderschönen, frischen Morgen. Man versteckte sich nicht mehr im Haus, man lag nicht mehr bis zum Nachmittag im Bett herum. Es schien, als wäre ganz Irland aus dem Winterschlaf erwacht, hätte sich gereckt und gestreckt und finge jetzt endlich wieder richtig an zu leben. Es war Zeit, die Fenster aufzureißen, frische Luft ins Haus zu lassen und die Gespenster der Dunkelheit zu vertreiben. Es war Zeit, morgens mit den Vögeln aufzustehen und spazieren zu gehen, den Leuten in die Augen zu schauen und Hallo zu sagen, statt sich unter Klamottenschichten zu vergraben, die Augen auf den Boden zu richten, von einer Erledigung zur nächsten zu hasten und die Welt zu ignorieren. Es war Zeit, aus dem Schatten zu treten, den Kopf zu heben und der Wahrheit ins Auge zu blicken.

Außerdem hatte der Juni natürlich auch einen weiteren Brief von Gerry gebracht.

Holly hatte in der Sonne gesessen, die Helligkeit genossen und voller Aufregung den vierten Umschlag geöffnet. Sie liebte es, wie die Karte sich anfühlte, wenn sie die Finger über die getrocknete Tinte gleiten ließ. In seiner ordentlichen Handschrift hatte Gerry all die Dinge aufgelistet, die ihm gehörten und nach seinem Tod im Haus geblieben waren, und bei jedem einzelnen folgte eine genaue Anweisung, auf welche Weise sich Holly sich seiner entledigen sollte. Ganz unten stand:

P.S. Ich liebe Dich, Holly, und ich weiß, dass Du mich auch liebst. Du brauchst meine Sachen nicht, um Dich an mich zu erinnern, Du brauchst sie nicht aufzuheben als Beweis, dass ich existiert habe und in Deinen Gedanken immer noch existiere. Du brauchst nicht meine Pullover anzuziehen, um mich zu spüren. Ich bin bei Dir … und halte Dich für immer in den Armen.

Holly hätte sich fast gewünscht, Gerry hätte noch einmal von ihr verlangt, Karaoke zu singen. Sie wäre für ihn aus einem Flugzeug gesprungen oder tausend Meilen zu Fuß gelaufen, sie hätte alles getan. Aber seinen Schrank auszuräumen und die letzten Spuren seiner Gegenwart zu beseitigen … Trotzdem, es war richtig, das wusste sie. Sie konnte nicht ewig an den Sachen hängen. Sie konnte sich nicht einzureden versuchen, dass er zurückkommen und sie abholen würde. Gerrys Körper war nicht mehr da, er brauchte seine Kleider nicht mehr. Aber sein Geist würde sie überall begleiten.

Es war furchtbar anstrengend für sie, und sie brauchte mehrere Tage. An jedem Kleidungsstück und jedem Papierfetzen hingen Millionen von Erinnerungen, und Holly musste jeden Gegenstand an sich drücken, bevor sie sich von ihm verabschieden konnte. Sie musste bewusst loslassen, denn nichts würde zurückkommen. Genau wie Gerry selbst. Eigentlich wollte Holly dabei allein sein, aber Jack bot ihr ein paar Mal seine Hilfe an, und schließlich nahm Holly sie an. Zu jedem Gegenstand gehörte eine Geschichte, und die Geschwister redeten und lachten gemeinsam über die damit verbundenen Erinnerungen. Jack war für Holly da, wenn ihr die Tränen kamen, er war da, als sie sich schließlich den Staub von den Händen klopfte.

Dank Gerrys Hilfe lief alles glatt. Holly musste die wichtigen Entscheidungen nicht alleine treffen, denn Gerry hatte ja alles vorbereitet. Er half ihr mit seinen Anweisungen, aber diesmal hatte Holly auch das Gefühl gehabt, ihm helfen zu können.

Das Klingeln des Handys holte Holly ruckartig in die Gegenwart zurück; schnell stellte sie den Wäschekorb auf der Wiese unter der Leine ab und rannte durch die Terrassentür in die Küche.

»Hallo?«

»Ich mach dich zum Superstar!«, kreischte Declan hysterisch am anderen Ende, ehe seine Worte in einem Lachanfall untergingen.

»Declan, bist du betrunken?«

»Vielleicht ein kleines bisschen, aber das spielt überhaupt keine Rolle«, stieß er abgehackt hervor.

»Declan, es ist zehn Uhr morgens!«, lachte Holly. »Warst du heute Nacht überhaupt im Bett?«

»Nein, ich sitze im Zug und komme in erst drei Stunden ins Bett.«

»In drei Stunden! Wo bist du denn?« Das Gespräch machte ihr Spaß. Es erinnerte sie daran, wie sie Jack früher manchmal zu absolut unchristlichen Zeiten und von den unmöglichsten Orten aus angerufen hatte, wenn sie mal wieder über die Stränge geschlagen hatte.

»Ich bin in Galway. Da war gestern Abend die Preisverleihung«, antwortete er, als müsste Holly das wirklich wissen.

»Entschuldige bitte meine Unwissenheit, aber was denn für eine Preisverleihung?«

»Ich hab’s dir doch gesagt!«

»Nein, hast du nicht.«

»Doch, ich hab Jack gesagt, er soll es dir ausrichten. Gestern sind die Nachwuchs-Filmpreise verliehen worden, und ich hab gewonnen!«, brüllte er, und im Hintergrund klang es, als feierte der ganze Waggon mit ihm. Auch Holly freute sich für ihren Bruder.

»Und der Preis ist, dass mein Film nächste Woche auf Channel 4 gezeigt wird! Ist das nicht toll?!«

Diesmal wurde um ihn herum noch mehr gejubelt, und Holly konnte kaum verstehen, was er sagte. »Du wirst berühmt, Schwesterherz!«, war das Letzte, was sie hörte, dann war die Verbindung weg.

Was war das für ein seltsames Gefühl, das sich da in ihrem Körper breit machte? War es … nein, das konnte nicht sein! War sie etwa glücklich?

Sie machte einen Rundruf in der Familie, um die Neuigkeit zu verbreiten, erfuhr aber, dass alle bereits einen ähnlichen Anruf erhalten hatten. Ciara plapperte wie ein aufgeregtes Schulmädchen darüber, dass sie ins Fernsehen kämen, und nach einer Ewigkeit endete die Geschichte damit, dass sie Denzel Washington heiraten würde. Die Familie beschloss, sich nächsten Mittwoch in Hogan’s Pub zu treffen und die Doku gemeinsam anzuschauen. Netterweise hatte Daniel den Club Diva dafür angeboten, sodass sie alles auf dem großen Bildschirm anschauen konnten. Holly war riesig stolz auf ihren Bruder. Zum Schluss rief sie noch Sharon und Denise an.

»Das ist ja toll!«, flüsterte Sharon aufgeregt.

»Warum flüsterst du?«, flüsterte Holly zurück.

»Ach, das alte Faltengesicht ist auf die großartige Idee gekommen, uns Privatgespräche zu verbieten«, stöhnte Sharon. »Aus unerfindlichen Gründen ist sie zu der Überzeugung gelangt, dass wir am Telefon mehr mit unseren Freundinnen reden als mit unseren Kunden, und deshalb patrouilliert sie schon den ganzen Morgen vor unseren Schreibtischen. Mit der alten Hexe vor der Nase komme ich mir vor, als wäre ich wieder in der Schule.« Plötzlich veränderte sich ihre Stimme und wurde ganz offiziell: »Darf ich denn noch Ihre Daten aufnehmen, bitte?«

»Ist sie da?«, lachte Holly.

»Ja, genau«, antwortete Sharon im gleichen Ton.

»Okay, dann will ich dich nicht länger stören. Und die Daten lauten folgendermaßen: Wir treffen uns alle am Mittwoch bei Hogan’s, und du bist herzlich eingeladen.«

»Großartig … okay.« Offensichtlich tat Sharon so, als würde sie sich den Termin aufschreiben.

»Super, das wird bestimmt lustig. Okay, wir sprechen uns dann später.«

»Vielen Dank für Ihren Anruf.«

Holly blieb noch einen Moment am Küchentisch sitzen und überlegte, was sie nächste Woche anziehen sollte; sie hätte gern etwas Neues gehabt. Zur Abwechslung wollte sie mal sexy und wunderbar aussehen, und sie hatte keine Lust auf ihre alten Sachen. Vielleicht hatte Denise etwas Schönes für sie in ihrer Boutique.

Holly wählte Denises Nummer.

»Hier Casuals, was kann ich für Sie tun?«, meldete sich Denise ausgesucht höflich.

»Hallo, Casuals, hier ist Holly. Ich weiß, ich soll dich eigentlich nicht bei der Arbeit anrufen, aber ich wollte dir nur schnell sagen, dass Declans Film irgendeinen Studentenpreis gewonnen hat und am Mittwochabend im Fernsehen kommt.«

»Oh, das ist ja cool, Holly! Kommen wir auch drin vor?«, fragte sie aufgeregt.

»Ja, ich glaub schon. Wir treffen uns alle bei Hogan’s und schauen es uns an. Kommst du auch?«

»Na klar! Wenn ich meinen neuen Freund mitbringen kann«, fügte sie kichernd hinzu.

»Welchen neuen Freund denn?«

»Tom!«

»Den Karaoke-Typ?«, fragte Holly entsetzt.

»Ja, natürlich den! Ach Holly, ich bin ja so verliebt!« Schon wieder kicherte sie wie ein kleines Mädchen.

»Verliebt? Aber du kennst ihn doch erst seit zwei Wochen.«

»Das macht nichts, es hat nur eine Minute gedauert … Liebe auf den ersten Blick, wie man so schön sagt.«

»Wow, Denise … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!«

»Du könntest sagen, dass du es großartig findest.«

»Ja … ich meine … natürlich … das ist echt toll.«

»Pass auf, dass du nicht zu enthusiastisch rüberkommst, Holly«, erwiderte Denise. »Ich kann’s gar nicht abwarten, bis du ihn kennen lernst, du wirst ihn garantiert mögen. Na ja, natürlich nicht so wie ich, aber du wirst ihn ganz bestimmt sympathisch finden … « In diesem Stil ging es noch eine Weile weiter.

»Denise, hast du vergessen, dass ich ihn schon kenne?«, unterbrach Holly sie schließlich mitten in einer Anekdote darüber, wie Tom einmal ein Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte.

»Ja, ich weiß, aber ich möchte, dass du ihn richtig kennen lernst, wenn du dich nicht gerade in einer Toilette versteckst oder in ein Mikro grölst.«

»Na gut … «

»Ja, es wird bestimmt nett! Ich war noch nie bei meiner eigenen Premiere!«, rief Denise aufgeregt.

Holly verdrehte die Augen, dann verabschiedete sie sich.


An diesem Morgen schaffte Holly kaum die allernötigste Hausarbeit, weil sie fast ununterbrochen am Telefon hing. Ihr Handy war schon heißgelaufen, und sie bekam allmählich Kopfschmerzen. Äußerst unangenehm. Jedes Mal, wenn sie Kopfschmerzen hatte, musste sie an Gerrys Krankheit denken. Wenn jemand aus ihrem Bekanntenkreis über Kopfweh oder gar Migräne klagte, wies Holly sofort eindringlich auf die Gefahren hin und drängte den Betreffenden, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und am besten gleich zum Arzt zu gehen. Allerdings jagte sie den Leuten damit eine Höllenangst ein, und inzwischen traute sich niemand mehr, ihr überhaupt noch von irgendwelchen Beschwerden zu erzählen.

Holly seufzte laut. Allmählich wurde sie der reinste Hypochonder, und sogar ihre Ärztin war mittlerweile ziemlich genervt. Wegen der kleinsten Kleinigkeit rannte Holly ihr die Praxis ein, sei es, weil ihr plötzlich das Bein wehtat oder weil sie einen Magenkrampf hatte. Letzte Woche war sie überzeugt gewesen, dass mit ihren Füßen etwas nicht stimmte – ihre Zehen sahen irgendwie komisch aus. Die Ärztin hatte sie gründlich untersucht und ihr dann unverzüglich ein Rezept ausgestellt. Voller Entsetzen sah Holly zu, wie sie in ihrer fast unleserlichen, typischen Ärztehandschrift etwas auf das Papier kritzelte. Aber dann las sie: »Kaufen Sie sich größere Schuhe.« Vielleicht sollte das komisch sein, aber sie musste vierzig Euro für das Rezept bezahlen.

Die letzten Minuten hatte Holly heute Jack zugehört, der sich über Richard ereiferte. Anscheinend hatte ihr ältester Bruder inzwischen auch ihm seine Aufwartung gemacht. Holly fragte sich, ob Richard versuchte, den Kontakt zu seinen Geschwistern wieder aufzunehmen, obwohl es dafür möglicherweise zu spät war. Wer legte schon Wert darauf, mit jemandem ein Gespräch zu führen, der nicht einmal die einfachsten Regeln der Höflichkeit beherrschte? Hör auf damit!, schrie sie sich im Stillen selbst an. Hör auf, dir unnötige Gedanken zu machen, hör auf, dir über alles Mögliche dein Hirn zu zermartern, hör auf, ständig mit dir selbst zu diskutieren. Du machst dich total verrückt!

Mit über zwei Stunden Verspätung schaffte sie es, die Wäsche fertig aufzuhängen, stopfte noch eine Ladung in die Maschine und stellte sie an. Dann drehte sie das Radio in der Küche und den Fernseher im Wohnzimmer auf und machte sich wieder an die Arbeit. Vielleicht übertönte dieser Lärm irgendwann die weinerliche kleine Stimme in ihrem Kopf.

Als Holly am Mittwoch bei Hogan’s ankam, war im Pub eine traditionelle irische Band voll in Fahrt. Die Menge grölte bei ihren Lieblingsliedern lauthals mit, und man musste sich zwischen den alten Männern und ihren Pintgläsern durchdrängeln, um nach oben in den Club Diva zu gelangen. Um halb acht war der Club offiziell noch nicht geöffnet, und der Saal wirkte leer völlig anders als beim Karaoke-Wettbewerb vor ein paar Wochen. Heute war Holly als Erste da und ließ sich an einem Tisch direkt vor dem großen Bildschirm nieder.

Lautes Gläserklirren an der Bar ließ sie zusammenzucken, und sie drehte sich rasch um. Hinter dem Tresen tauchte Daniels Kopf auf, dann sah sie, dass er Kehrblech und Besen in der Hand hatte. »Oh, hallo Holly, ich hab gar nicht gemerkt, dass jemand reingekommen ist«, rief er überrascht.

»Ich bin’s nur, ausnahmsweise mal zu früh«, erwiderte sie und ging zur Bar hinüber, um ihn zu begrüßen. Er sah heute irgendwie anders aus, fand sie.

»Mensch, du bist ja wirklich früh dran«, meinte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Die anderen kommen bestimmt erst in einer Stunde oder so.«

Verwirrt sah Holly auf ihre Uhr. »Aber es ist halb acht, und die Sendung fängt doch um acht an, oder nicht?«

»Mir hat man gesagt, um neun. Aber vielleicht hab ich mich ja geirrt … « Er kramte eine Tageszeitung unter der Theke hervor und schlug die Fernsehseite auf. »Doch, neun Uhr, Channel 4.«

Holly verdrehte die Augen. »O nein, tut mir Leid. Dann geh ich eben noch ein bisschen in die Stadt und komme später wieder«, meinte sie und rutschte von ihrem Hocker.

»Hey, sei nicht albern«, entgegnete er mit einem breiten Grinsen. »Jetzt sind die Läden doch alle zu, und du könntest mir Gesellschaft leisten. Das heißt, natürlich nur, wenn du Lust dazu hast … «

»Na ja, mir ist es recht, wenn es dir recht ist … «

»Mir ist es recht«, konstatierte er mit fester Stimme.

»Na gut, dann bleibe ich«, sagte sie, froh, sich wieder setzen zu können.

Daniel stützte sich in einer typischen Barkeeper-Haltung mit den Händen auf die Zapfhähne. »Nachdem das also geklärt ist – was möchtest du trinken?«

»Ist ja toll, ich muss nicht Schlange stehen, nicht über den Tresen brüllen und nichts«, witzelte sie, »Ich hätte gern ein Mineralwasser, bitte.«

»Nichts Stärkeres?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Sein breites Grinsen wirkte irgendwie ansteckend.

»Nein, lieber nicht, sonst bin ich schon betrunken, wenn die anderen eintrudeln.«

»Das ist ein Argument«, pflichtete er ihr bei, machte den Kühlschrank auf und holte eine Flasche Wasser heraus. Jetzt fiel Holly auch auf, warum er anders aussah: Heute trug er nicht sein typisches Schwarz, sondern eine verwaschene Bluejeans und ein offenes hellblaues Hemd über einem weißen T-Shirt, eine Farbkombination, die seine blauen Augen strahlen ließ. Die Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, und durch den dünnen Stoff sah man seine Muskeln. Als er ihr das Glas zuschob, wandte sie rasch die Augen ab.

»Darf ich dich auch zu irgendwas einladen?«, fragte sie.

»Nein danke, das geht auf mich.«

»Ach bitte«, beharrte Holly. »Du hast mir schon so viel ausgegeben, jetzt bin ich mal an der Reihe.«

»Na gut, dann nehme ich ein Budweiser. Danke.« Er lehnte sich wieder an den Tresen und starrte sie weiter an.

»Was? Soll ich es dir zapfen?«, fragte Holly lachend, sprang vom Hocker und kam um den Tresen herum. Daniel machte ihr Platz und beobachtete sie amüsiert.

»Als ich klein war, wollte ich immer in einer Bar arbeiten«, erzählte sie, nahm sich ein Pint-Glas und zog den Hebel herunter. Das gefiel ihr.

»Ich hab eine Stelle frei, falls du was suchst«, erwiderte Daniel, der ihr aufmerksam beim Arbeiten zusah.

»Nein danke, ich glaube, auf der anderen Seite des Tresen komme ich besser zurecht«, lachte sie, während sie das Glas füllte.

»Hmmm … aber wenn du je einen Job suchst, dann weißt du ja, wen du fragen kannst«, meinte Daniel, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte. »Das hast du sehr gut gemacht.«

»Na ja, es ist nicht gerade Neurochirurgie«, grinste sie, kam wieder auf die andere Seite der Theke, kramte das Portemonnaie aus ihrer Tasche und bezahlte. »Der Rest ist für dich«, lachte sie.

»Danke«, erwiderte er lächelnd, wandte sich zur Kasse um, und Holly merkte, dass sie insgeheim seinen Hintern begutachtete. Ein hübscher Hintern, schön fest, aber nicht so hübsch wie der von Gerry.

»Hat dich dein Mann heute schon wieder im Stich gelassen?«, neckte er sie, während er um den Tresen herumkam, um sich wieder neben sie zu setzen. Holly biss sich auf die Unterlippe und überlegte, was sie antworten sollte. Ihr erschien der Zeitpunkt höchst ungeeignet, um über so etwas Trauriges zu reden, vor allem, wenn ihrem Gesprächspartner so offensichtlich daran gelegen war, ein bisschen nett zu plaudern. Aber sie wollte auch nicht, dass Daniel jedes Mal nach ihrem Mann fragte, wenn sie sich begegneten. Er würde die Wahrheit sowieso irgendwann erfahren, und womöglich in einer noch viel peinlicheren Situation.

»Daniel«, sagte sie leise. »Ich möchte dich nicht in Verlegenheit bringen, aber mein Mann ist vor kurzem gestorben.«

Daniel blieb wie angewurzelt stehen und wurde ein bisschen rot. »Oh, Holly, es tut mir sehr Leid, das wusste ich nicht.« Seine Stimme klang betroffen.

»Schon okay. Du konntest es ja nicht ahnen.« Sie lächelte ihn beruhigend an.

»Ich hab ihn neulich abends nicht kennen gelernt, aber wenn mir jemand Bescheid gesagt hätte, wäre ich zur Beerdigung gekommen.« Er setzte sich neben sie.

»Aber nein, Gerry ist schon im Februar gestorben, er war neulich nicht wirklich da.«

Verwirrt sah Daniel sie an.

Holly schlug verlegen die Augen nieder. »Na ja, er war nicht hier im Club«, erklärte sie. »Nur hier drin.« Sie legte die Hand aufs Herz.

»Verstehe. Wenn man das bedenkt, warst du neulich ja noch viel tapferer«, sagte er leise. Überrascht nahm Holly zur Kenntnis, wie entspannt er insgesamt reagierte. Gewöhnlich fingen die Leute an zu stottern, wenn sie ihnen von Gerrys Tod erzählte, oder sie wechselten möglichst schnell das Thema. Auch sie fühlte sich in Daniels Gegenwart sehr wohl, und sie konnte offen mit ihm reden, ohne Angst, gleich in Tränen auszubrechen.

»Offenbar ist es dir wichtig, Sachen durchzuziehen.« Noch ein Kompliment für ihren Karaoke-Auftritt.

»Ach, ich weiß nicht«, wehrte Holly kopfschüttelnd ab und erklärte in kurzen Worten die Geschichte mit der Liste. »Aber Gerry ist wirklich ein Mensch, der zu seinem Wort steht … stand.« Sie zuckte innerlich zusammen.

Daniel schien sich für die ganze Geschichte zu interessieren und stellte immer wieder Fragen, aber nie so, dass sie sich gedrängt oder ausgequetscht fühlte. Im Gegenteil, es war sehr angenehm, die Meinung von jemandem zu hören, der weder Gerry noch sie gut kannte, auch wenn Daniel sich nur sehr zurückhaltend äußerte.

»Deshalb bin ich damals bei Declans Auftritt so schnell verschwunden«, sagte sie.

»Ach ja? Nicht weil die Knaben so schlecht waren?«, scherzte Daniel, wurde aber gleich wieder nachdenklich. »Ja, das war der 30.April, stimmt.«

»Ich konnte es nicht erwarten, den nächsten Umschlag aufzumachen«, erklärte Holly.

»Hmmm … und wann ist es jetzt wieder so weit?«

»Im Juli«, antwortete sie.

»Dann sehe ich dich am 30.Juni ganz bestimmt nicht hier«, stellte er trocken fest.

»Genau, du hast es kapiert«, lachte sie.

»Hallo, ich bin da!«, tönte in diesem Moment Denises Stimme durch den leeren Saal. Aufgebrezelt bis zum Gehtnichtmehr kam sie in dem Kleid, das sie letztes Jahr zum Weihnachtsball getragen hatte, hereingesegelt. Hinter ihr erschien Tom, der sie keinen Moment aus den Augen ließ.

»Mannomann, du hast dich aber aufgemotzt«, stellte Holly fest und musterte ihre Freundin von oben bis unten. Sie selbst hatte sich am Ende doch für Jeans, schwarze Stiefel und ein einfaches schwarzes Top entschieden. Irgendwie war sie nicht in der Stimmung gewesen, sich schick zu machen, vor allem, weil sie ja sowieso nur in dem leeren Club herumsitzen würden. Aber Denise hatte das offenbar nicht mitgekriegt.

»Schließlich komme ich nicht jeden Tag zu meiner eigenen Premiere«, kicherte Denise.

Tom und Daniel umarmten sich zur Begrüßung. »Baby, das ist Daniel, mein bester Freund«, stellte Tom vor. Daniel und Holly wechselten viel sagende Blicke. Tom nannte Denise »Baby«!

»Hallo, Tom«, sagte Holly und schüttelte ihm die Hand. Er erwiderte ihre Begrüßung mit einem Küsschen auf die Wange. »Tut mir Leid, dass ich bei unserer letzten Begegnung nicht ganz auf der Höhe war«, meinte Holly, der der Karaoke-Abend immer noch so peinlich war, dass sie errötete.

»Ach, kein Problem«, wehrte Tom lächelnd ab. »Wenn du nicht mitgemacht hättest, wäre ich Denise nicht begegnet.« Er wandte sich wieder Denise zu. Holly kletterte zurück auf ihren Hocker und stellte fest, dass sie sich mit diesen beiden Männern recht wohl fühlte und sich für ihre Freundin freute. Auch Daniel machte einen zufriedenen Eindruck.

Sie unterhielten sich angeregt, und Holly merkte, dass es ihr so gut ging wie schon lange nicht mehr. Sie tat nicht nur so, als würde sie lachen, sie war richtig fröhlich. Ein wunderbares Gefühl.

Wenig später traf der Rest der Familie Kennedy ein und mit ihm auch Sharon und John. Holly lief ihnen entgegen und begrüßte ihre Freunde. »Hallo, Süße«, rief Sharon und umarmte sie. »Bist du schon lange hier?«

»Ich dachte, die Sendung fängt um acht an, deshalb bin ich schon um halb acht eingetrudelt«, gab Holly lachend zu.

»O je!«

»Ach, es war nett, Daniel hat mir Gesellschaft geleistet«, erklärte sie und zeigte zu ihm hinüber.

»Er?«, fragte John pikiert. »Der Kerl ist irgendwie komisch, Holly. Du hättest hören sollen, wie er neulich Sharon angequatscht hat.«

Holly kicherte in sich hinein und entschuldigte sich hastig, um ihre Familie zu begrüßen. »Ist Meredith nicht mitgekommen?«, erkundigte sie sich bei Richard.

»Nein, wie du siehst«, gab er unfreundlich zurück und ging sofort zur Bar.

»Warum macht er sich eigentlich die Mühe, überhaupt zu solchen Anlässen aufzutauchen?«, stöhnte Holly und lehnte den Kopf an Jacks Brust, der ihr die Haare zauste, als wollte er sie trösten.

»Alles klar!« Declan war auf einen Hocker gestiegen. »Da Ciara sich nicht entscheiden konnte, was sie heute Abend anzieht, sind wir alle zu spät gekommen, und meine Doku wird jede Minute anfangen«, verkündete er stolz. »Wenn ihr jetzt alle den Mund halten und euch hinsetzen würdet, wäre das wirklich großartig.«

»Ach Declan, sei nicht immer so unhöflich«, tadelte ihn seine Mutter.

Holly sah sich nach Ciara um und entdeckte sie an der Bar, schon wieder an Daniels Seite. Sie grinste in sich hinein und machte es sich gemütlich, um sich in Ruhe den Film anzusehen. Alle klatschten, als er angesagt wurde, aber Declan mahnte ärgerlich zur Ruhe, damit sie nur ja nichts verpassten.

Über einer wunderschönen Nachtaufnahme von Dublin erschienen die Worte: »Girls and the City«. Auf einmal merkte Holly, wie sie nervös wurde. Dann sah man auf dem dunklen Bildschirm »The Girls«, gefolgt von einer Aufnahme von Sharon, Denise, Abbey und Ciara, allesamt auf den Rücksitz eines Taxis gequetscht. Sharon sagte: »Hallo, ich bin Sharon, und das hier sind Abbey, Denise und Ciara.«

Alle vier wurden bei der Nennung ihres Namens in Nahaufnahme gezeigt.

»Wir sind unterwegs zu unserer Freundin Holly, denn sie hat heute Geburtstag … «

Schnitt: Die jungen Frauen überfielen Holly mit ihren Glückwünschen an der Haustür. Dann kehrte die Kamera zurück zu Sharon im Taxi.

»Heute Abend sind wir Mädels unter uns, keine Männer erlaubt … «

Wieder Schnitt, und jetzt sah man Holly, wie sie ihre Geschenke aufmachte, den Vibrator in die Kamera hielt und sagte: »Na, den kann ich bestimmt gut brauchen!« Danach kam wieder Sharon im Taxi und sagte: »Heute Abend werden wir feiern, was das Zeug hält … «

Erneut erfolgte ein Szenenwechsel: Holly ließ den Sektkorken knallen, dann kippten die Freundinnen Shots, und Holly nuckelte mit einem Strohhalm den Sekt aus der Flasche, auf dem Kopf eine inzwischen ziemlich verbogene Tiara.

»Wir gehen clubben … «

Jetzt sah man die Freundinnen im »Boudoir«, wo sie peinliche Verrenkungen auf der Tanzfläche vollführten.

»Aber wir wollen nicht übertreiben! Wir sind ganz brav heute Nacht!«, verkündete Sharon sehr ernst.

In der nächsten Szene wurden sie alle von drei kräftigen Rausschmeißern unter lautem Protest aus der Kneipe geleitet.

Mit offenem Mund sah Holly zu Sharon hinüber, die genauso überrumpelt aussah. Die Männer dagegen schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel und klopften Declan anerkennend auf den Rücken. Holly, Sharon, Denise, Abbey und selbst Ciara machten sich auf ihren Hockern möglichst klein.

Was in aller Welt war in Declan gefahren?

P.S. Ich liebe Dich
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