Zehn

Sharon, Denise und Holly saßen in Bewley’s Café am Fenster und schauten hinaus auf die Grafton Street. Sie trafen sich oft hier, um auf Dublins belebter Fußgängerzone die Welt an sich vorüberziehen zu sehen.

»Ich glaub das nicht, dass Gerry das alles organisiert hat!«, stieß Denise hervor, als sie die Neuigkeit hörte.

»Ich weiß«, meinte Holly, »ich fasse es auch nicht!«

»Aber es wird bestimmt ein Riesenspaß, oder?« Sharon war schon ganz aufgeregt.

»O Gott!« Schon beim Gedanken daran, was ihr bevorstand, wurde Holly übel. »Ich will es eigentlich immer noch nicht machen, aber ich habe das Gefühl, ich muss das, was Gerry für mich angefangen hat, zu Ende bringen.«

»Sehr gut, Holly!«, spornte Denise sie an. »Und wir kommen alle, um dich anzufeuern!«

»Jetzt warte mal einen Moment, Denise«, entgegnete Holly, und ihr feierlicher Ton war spurlos verschwunden. »Ich möchte nur dich und Sharon dabei haben, sonst keinen. Ich möchte nicht, dass das an die große Glocke gehängt wird.«

»Aber Holly, es ist doch eine Sensation!«, protestierte Sharon. »Niemand hätte es für möglich gehalten, dass du noch mal Karaoke singst, nachdem du … «

»Sharon!«, rief Holly warnend. »Dieses Thema ist tabu. Die Wunden sind noch längst nicht verheilt.«

»Wann ist denn der große Tag?«, fragte Denise.

»Nächsten Dienstag«, stöhnte Holly, beugte sich vor und ließ den Kopf mehrmals auf den Tisch aufschlagen. Die Leute von den Nachbartischen starrten sie neugierig an.

»Sie hat heute Ausgang«, erklärte Sharon und deutete viel sagend auf Holly.

»Mach dir keine Sorgen, Holly, dann hast du noch sieben Tage Zeit, dich in Mariah Carey zu verwandeln. Das dürfte doch kein Problem sein, oder?«, grinste Denise.

»Da schaffen wir es eher, David Beckham Ballett beizubringen«, warf Sharon ein.

Holly blickte auf. »Vielen Dank für die Ermutigung, Sharon.«

»Ooh, aber stellt euch vor, Becks in engen Strumpfhosen, wie er seinen kleinen Arsch schwingt … «, sagte Denise träumerisch.

»Konzentration, meine Damen!« Holly schnippte mit den Fingern. »Ich brauche eure volle Konzentration!« Dabei machte sie graziöse Handbewegungen auf ihren Brustkorb zu, als wollte sie alle Energie aus der Umgebung auf sich lenken.

»Na gut, Ihre Gnaden, was willst du denn überhaupt singen?«

»Ich habe keine Ahnung, deshalb habe ich ja diese Krisensitzung einberufen.«

»Mir hast du gesagt, wir wollen shoppen gehen«, sagte Sharon.

»Ach ja?« Denise sah Sharon mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und ich dachte, ihr wolltet mich nur mal in meiner Mittagspause besuchen.«

»Ihr habt beide Recht«, versicherte ihnen Holly.

»Ich glaube, ich habe da eine Idee«, rief Sharon. »Was für ein Song war das noch mal, den wir damals in Spanien dauernd gesungen haben, den wir nicht mehr aus dem Kopf gekriegt haben? Dieser total nervige Ohrwurm.«

Holly zuckte die Achseln. Ein total nerviger Ohrwurm wäre sicher eine super Wahl.

»Ich weiß nicht, ich war zu dem Urlaub nicht eingeladen«, brummte Denise.

»Ach, du weißt doch, was ich meine, Holly!«

»Ich erinnere mich überhaupt nicht daran.«

»Wie ging der bloß?« Irritiert stützte Sharon das Gesicht in die Hände. Holly zuckte wieder die Achseln. Aber auf einmal rief Sharon: »Oh, wartet mal, ich hab’s!« und begann laut zu singen: »Sun, sea, sex, sand, come on boy, give me your hand … «

»Ooh, ooh, ooh, so sexy, so sexy!«, stimmte Denise ein. Wieder reckten die Gäste an den Nachbartischen die Hälse, einige amüsiert, die meisten aber inzwischen eher verärgert, doch Denise und Sharon ließen sich nicht beirren und jodelten munter weiter. Gerade als sie zum vierten Mal den Refrain anstimmten (keine von beiden erinnerte sich an den restlichen Text), brachte Holly sie zum Schweigen.

»Das kann ich nicht singen! Außerdem rappt ein Typ dazu.«

»Dann brauchst du wenigstens nicht so viel zu singen«, kicherte Denise.

»Auf keinen Fall! Ich werde nicht bei einem Karaoke-Wettbewerb anfangen zu rappen.«

»Stimmt, das wäre nichts«, nickte Sharon.

»Na gut, welche CD hörst du denn zur Zeit am liebsten?« Denise war wieder ernst.

»Westlife«, antwortete Holly und sah ihre Freundinnen hoffnungsvoll an.

»Dann sing doch einen Song von Westlife«, ermunterte sie Sharon.

»Dann kriegst du vielleicht die Melodie nicht hin, aber wenigstens kannst du den Text!« Sharon und Denise krümmten sich vor Lachen.

Zuerst war Holly sauer, aber dann musste sie auch kichern. Sie hatten ja Recht: Holly hatte überhaupt kein musikalisches Gehör und traf so gut wie keinen Ton. Wie sollte sie dann überhaupt ein Lied finden, das sie singen konnte? Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, schaute Denise auf die Uhr und stellte unwillig fest, dass sie zurück zur Arbeit musste, und so verließen sie Bewley’s – sehr zur Freude der anderen Gäste. »Jetzt feiern die elenden Trauerklöße hier wahrscheinlich gleich eine Party«, murmelte Sharon, während sie sich zwischen den Tischen durchdrängten.

Draußen hakten die drei jungen Frauen einander unter und schlenderten die Grafton Street entlang zu der Boutique, in der Denise als Geschäftsführerin arbeitete. Der Tag war sonnig, die Luft jedoch kühl; in der Grafton Street herrschte wie immer Betrieb: Leute eilten in ihrer Mittagspause von einem Laden zum anderen, während andere langsam die Straße entlangbummelten und sich freuten, dass es nicht regnete. An jeder Ecke stand ein Straßensänger und kämpfte um die Aufmerksamkeit der Passanten. Peinlicherweise veranstalteten Denise und Sharon einen kurzen irischen Tanz, als sie an einem Fiddlespieler vorbeikamen. Er zwinkerte ihnen zu, und sie warfen ein paar Münzen in seine Tweedkappe, die auf dem Boden lag.

»Gott, ich fühle mich, als wäre ich betrunken!«, lachte Sharon. »Ich glaube, ich habe mir zu viel Kaffee hinter die Binde gegossen.«

»Ach, ich bin völlig nüchtern«, erwiderte Denise ernsthaft. »Ich tu das jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeikomme. Das bringt Glück. Okay, Ladys, ihr könnt weiter abhängen, aber ich muss zurück an die Arbeit«, verkündete Denise, während sie die Tür zu ihrem Laden aufstieß. Als die Angestellten sie erblickten, stellten sie ihre Plauderei an der Ladentheke ein und begannen, die Klamotten an den Ständern zu ordnen. Holly und Sharon verkniffen sich ein Lachen. Rasch verabschiedeten sie sich von Denise und gingen dann in Richtung Stephen’s Green weiter, um ihre Autos zu holen.

»Sun, sea, sex, sand … «, sang Holly leise vor sich hin. »Ach du Scheiße, Sharon! Jetzt hab ich dieses blöde Lied im Kopf«, beklagte sie sich.

»Jetzt fängst du schon wieder an, mich Scheiße-Sharon zu nennen.«

»Ach, sei bloß still!«, lachte Holly und knuffte sie in den Arm.


Als Holly sich endlich auf den Heimweg nach Swords machte, war es schon vier Uhr. Sharon hatte sie böswillig dazu überredet, doch noch einkaufen zu gehen, mit dem Ergebnis, dass sie einen Haufen Geld für ein albernes Top ausgegeben hatte, für das sie eigentlich viel zu alt war. Ab heute musste sie wirklich aufs Geld achten, denn ihre Ersparnisse schmolzen dahin. Sie musste sich dringend einen Job suchen. Aber sie fand es auch so schon schwer genug, morgens aus dem Bett zu kommen, und ein deprimierender Achtstundenjob würde ihre Stimmung nicht gerade verbessern. Aber helfen, die Rechnungen zu bezahlen. Holly seufzte laut. Solche Dinge musste sie jetzt plötzlich ganz alleine regeln. Nichts war mehr wie früher. Schon der Gedanke daran deprimierte sie. Sie brauchte Menschen um sich herum, wie heute Denise und Sharon. Sie rief ihre Mutter an und fragte, ob sie vorbeikommen konnte.

»Aber selbstverständlich, Liebes, du bist hier immer willkommen«, antwortete Elizabeth und senkte dann die Stimme zu einem Flüstern. »Aber du solltest wissen, dass Richard auch da ist.« Himmel, warum machte er denn plötzlich überall seine Stippvisiten?

Als sie das hörte, spielte Holly kurz mit dem Gedanken, doch lieber direkt nach Hause zu fahren, aber dann redete sie sich gut zu und kam zu dem Schluss, dass sie sich albern verhielt. Schließlich war Richard ihr Bruder, und auch wenn er ihr auf die Nerven ging, konnte sie ihm ja nicht für immer aus dem Weg gehen.

Als sie zum Haus ihrer Eltern kam, war es dort extrem laut und voll, und sie kam sich vor wie in alten Zeiten, als sie aus jedem Zimmer Geschrei und Stimmen hörte. »Ach Mum, du hättest mir sagen sollen, dass du Essen machst«, sagte Holly, während sie ihre Mutter umarmte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.

»Hast du denn schon gegessen?«

»Nein, ich bin eigentlich am Verhungern, aber ich hoffe, dass du dir nicht zu viel Mühe gemacht hast.«

»Überhaupt nicht, Liebes. Nur bekommt jetzt Declan natürlich den Rest des Tages nichts mehr«, meinte sie im Scherz zu ihrem Sohn, der gerade am Tisch Platz nahm und ihr eine Fratze schnitt.

Heute war die Atmosphäre viel entspannter als bei Ciaras Willkommensessen, aber vielleicht hatte es damals ja auch mit Hollys Stimmung zu tun gehabt.

»Na, du Workaholic, warum bist du denn heute nicht an der Uni?«, erkundigte sie sich sarkastisch.

»Ich war schon den ganzen Vormittag dort«, antwortete ihr kleiner Bruder. »Und um acht muss ich noch mal hin.«

»Das ist aber spät«, meinte ihr Vater, der gerade die für ihn typische Saucenüberschwemmung auf seinem Teller veranstaltete.

»Ja, aber es ist der einzige Termin, den ich im Schneideraum kriegen konnte.«

»Gibt es denn nur einen Schneideraum?«, meldete sich Richard zu Wort.

»Ja.« Declan war ein wahrer Meister der Konversation.

»Und wie viele Studenten sind in dem Kurs?«

»Nur ungefähr zwölf, es ist ein ganz kleiner Kurs.«

»Haben die kein Geld für mehr?«

»Wofür? Für mehr Studenten?«, stichelte Declan.

»Für einen zweiten Schneideraum.«

»Nein, es ist nur ein ziemlich kleines College, Richard.«

»Vermutlich wäre eine größere Uni für solche Dinge besser ausgerüstet.«

Auf einen solchen Seitenhieb hatten alle schon lange gewartet.

»Nein, das würde ich nicht sagen, die Bedingungen sind hier spitze. Es gibt nur einfach weniger Leute und entsprechend weniger Geräte. Die Dozenten sind aber wahrscheinlich sogar besser als an den großen Unis, weil sie nicht nur unterrichten, sondern noch selbst in Produktionen arbeiten.«

»Wahrscheinlich werden sie so schlecht bezahlt, dass sie gar keine andere Wahl haben, als auch noch Kurse am College zu geben.«

»Richard, beim Film gibt es sehr gute Jobs, die Leute haben studiert und ihren Abschluss gemacht und … «

»Ach, dafür bekommt man sogar einen akademischen Abschluss?«, staunte Richard. »Ich dachte, du machst da nur so einen Kurs mit.«

Declan hörte auf zu kauen und sah zu Holly hinüber. Dass Richard seine Umgebung mit seiner Ignoranz immer noch verblüffen konnte.

»Was glaubst du denn, wer diese ganzen Gartensendungen produziert, die du dir so gerne anschaust, Richard?«, mischte Holly sich ein. »Das sind doch nicht irgendwelche Leute, die mal so nebenbei einen Kurs gemacht haben.«

Anscheinend war Richard noch nie auf den Gedanken gekommen, dass für solche Beiträge etwas wie Können eine Rolle spielte. »Das sind schon hübsche Sendungen, stimmt«, gab er zu.

»Worum geht es denn bei deinem Projekt, Declan?«, erkundigte sich Frank.

Declan kaute fertig, dann antwortete er: »Oh, das ist noch ein bisschen zu chaotisch, um es genauer zu erklären, aber im Prinzip geht es um das Dubliner Nachtleben.«

»Kommen wir auch drin vor?«, fragte Ciara aufgeregt, die bisher ungewöhnlich still gewesen war.

»Ja, vielleicht zeige ich mal deinen Hinterkopf oder so«, witzelte er.

»Da bin ich aber gespannt«, meinte Holly aufmunternd.

»Danke.« Declan legte Messer und Gabel weg und fing an zu lachen. »Hey, was hab ich da eigentlich gehört – du willst nächste Woche bei einem Karaoke-Wettbewerb mitmachen?«

»Was?«, schrie Ciara.

Holly tat so, als wüsste sie nicht, wovon Declan redete.

»Ach komm schon, Holly!«, beharrte er. »Danny hat es mir verraten.« Damit wandte er sich an den Rest des Tischs und erklärte: »Danny gehört Hogan’s Pub, in dem wir neulich gespielt haben, und er hat mir erzählt, dass Holly für einen Karaoke-Wettbewerb angemeldet ist.«

Von allen Seiten ertönten bewundernde Rufe, aber Holly weigerte sich, die Wahrheit zuzugeben. »Declan, Daniel will dir doch bloß einen Bären aufbinden. Schließlich weiß jeder, dass ich überhaupt nicht singen kann. Also«, wandte sie sich an die Umsitzenden, »also ehrlich, wenn ich bei einem Karaoke-Wettbewerb mitmachen würde, dann hätte ich euch doch davon erzählt.« Sie lachte, als wäre schon der Gedanke daran absurd. Was er ja auch war.

»Holly!«, lachte Declan. »Ich hab deinen Namen auf der Liste gesehen. Also lüg uns nicht an!«

Jetzt legte auch Holly Messer und Gabel weg, denn auf einmal hatte sie überhaupt keinen Hunger mehr.

»Warum hast du uns denn nichts davon gesagt, dass du bei einem Wettbewerb singen wirst?«, fragte ihre Mutter.

»Weil ich gar nicht singen kann!«

»Warum tust du es dann?« Ciara prustete vor Lachen.

Da Declan sowieso wild entschlossen schien, die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln, und da sie ihre Eltern auch nicht gern anlog, beschloss Holly nun doch, der Wahrheit die Ehre zu geben. Und Richard würde es eben auch hören.

»Okay, es ist eine komplizierte Geschichte, aber kurz gesagt hat Gerry meinen Namen da schon vor Monaten eintragen lassen, weil er unbedingt wollte, dass ich singe. Und obwohl ich es überhaupt nicht möchte, habe ich trotzdem das Gefühl, dass ich es irgendwie durchziehen muss. Es ist blöd, ich weiß.«

Ciara hörte schlagartig zu lachen auf.

Nervös strich Holly sich die Haare hinter die Ohren. Sie mochte es nicht, wenn die ganze Familie sie so gespannt anstarrte.

»Also, ich finde es eine tolle Idee«, verkündete ihr Vater auf einmal.

»Ja«, schloss sich ihre Mutter an, »und wir kommen alle, um dich zu unterstützen.«

»Nein, Mum, das müsst ihr doch nicht, es ist nichts Besonderes.«

»Wenn meine Schwester bei einem Wettbewerb mitsingt, werde ich auf jeden Fall dabei sein«, erklärte Ciara.

»Na klar«, meldete sich jetzt auch Richard zu Wort. »Wir gehen alle hin. Ich war noch nie bei einer Karaoke-Veranstaltung, das wird bestimmt … « Er durchforstete sein Vokabular nach dem passenden Wort. » … bestimmt lustig.«

Holly stöhnte laut und schloss die Augen. Wäre sie doch nur direkt nach Hause gefahren! Declan lachte hysterisch. »Ja, Holly, es wird bestimmt … äh … bestimmt lustig!«, rief er und kratzte sich am Kinn.

»Wann ist es denn so weit?«, erkundigte sich Richard und holte einen Kalender heraus.

»Am Samstag«, log Holly und Richard notierte es sich.

»Quatsch!«, platzte Declan heraus. »Am Dienstag, du alte Lügnerin!«

»Scheiße!«, fluchte Richard – sehr zur Überraschung aller –, »hat jemand Tippex für mich?«


Ständig musste Holly aufs Klo rennen. Sie war nervös und hatte in der Nacht fast gar nicht geschlafen. Und so sah sie auch aus. Sie hatte tiefe Augenringe unter ihren geröteten Augen, ihre Unterlippe war rissig, weil sie auf ihr herumgekaut hatte. Der große Tag war gekommen, ihr schlimmster Albtraum drohte Wirklichkeit zu werden. Sie musste in aller Öffentlichkeit singen. Dabei gehörte sie nicht einmal zu den Leuten, die unter der Dusche ein Liedchen trällern – sie hatte Angst, der Spiegel könnte davon kaputtgehen.

Verdammt, wie viel Zeit sie heute auf dem Klo verbrachte! Es gab einfach kein besseres Abführmittel als Angst, und Holly hatte das Gefühl, heute mindestens sechs Kilo abgenommen zu haben.

Während sie die Kombination anzog, die sie nach Gerrys Anweisung letzten Monat gekauft hatte, verfluchte sie ihn im Stillen. Die Haare ließ sie offen, um ihr Gesicht dahinter zu verstecken, außerdem trug sie mehrere Schichten wasserfeste Wimperntusche auf – als könnte sie das am Weinen hindern. Sie ahnte, dass der Abend mit Tränen enden würde.

John und Sharon holten sie im Taxi ab, aber Holly weigerte sich, auch nur ein Wort mit ihnen zu wechseln. Ihr war übel, sie konnte nicht still sitzen. Jedes Mal, wenn das Taxi an einer roten Ampel anhielt, überlegte sie, ob sie rausspringen und um ihr Leben laufen sollte, aber wenn sie dann endlich den Mut dafür zusammen hatte, wurde es gerade wieder grün. Nervös fuchtelte sie am Verschluss ihrer Handtasche herum, ließ ihn auf- und wieder zuschnappen, und tat so, als suchte sie etwas, nur um sich zu beschäftigen.

»Entspann dich, Holly«, tröstete Sharon sie. »Es wird alles gut gehen.«

»Du kannst mich mal«, fauchte Holly.

Schweigend brachten sie den Rest der Fahrt hinter sich. Nicht einmal der Taxifahrer sagte etwas. Bei Hogan’s angekommen, hatten John und Sharon einige Mühe, Hollys Gejammer zu stoppen (»lieber spring ich in die Liffey«) und sie zum Hineingehen zu bringen. Zu Hollys Entsetzen war der Club auch noch gerappelt voll, und sie mussten sich zu dem Tisch durchdrängeln, den ihre Familie reserviert hatte (direkt bei der Toilette, das hatte Holly sich auserbeten).

Richard kauerte unbeholfen auf einem Hocker und wirkte extrem fehl am Platz. »Erklär mir doch bitte mal die Regeln, Dad. Was muss Holly machen?« Geduldig erläuterte Frank ihm die »Regeln« des Karaoke-Wettbewerbs, mit dem Erfolg, dass Holly nur noch aufgeregter wurde.

»He, das ist ja toll, oder nicht?«, meinte Richard und schaute sich voller Ehrfurcht um. Holly vermutete, dass er noch nie in einem Club gewesen war.

Auch der Anblick der Bühne jagte Holly Angst ein, denn sie war wesentlich größer, als sie erwartet hatte. An der Wand war ein Bildschirm, auf dem das Publikum den Text der Lieder mitverfolgen konnte. Jack hatte den Arm um Abbeys Schultern gelegt, und die beiden lächelten Holly aufmunternd zu. Holly schnitt ihnen eine Grimasse und sah dann schnell weg.

»Holly, vorhin ist was echt Lustiges passiert«, erzählte Jack. »Erinnerst du dich an diesen Daniel, den wir neulich abends kennen gelernt haben?«

Holly starrte ihn nur an und sah, wie seine Lippen sich bewegten, aber es war ihr vollkommen egal, was er sagte. »Na ja, Abbey und ich waren als Erste hier, wir haben uns geküsst, und da kam dieser Mann rüber und hat mir ins Ohr geflüstert, dass du heute Abend hier singen würdest. Er dachte, wir wären liiert und ich würde fremdgehen!« Jack und Abbey lachten laut.

»Das ist doch widerlich«, verkündete Holly und wandte sich ab.

»Nein«, versuchte Jack zu erklären. »Er wusste nicht, dass wir Bruder und Schwester sind. Ich musste ihm sagen … « Jack verstummte, als Sharon ihm einen warnenden Blick zuwarf.

»Hi, Holly«, rief Daniel, der gerade mit einem Klemmbrett auf sie zukam. »Also, die Reihenfolge heute Abend sieht folgendermaßen aus: Zuerst kommt eine Frau namens Margaret, nach ihr ein gewisser Keith und dann bist du dran. Ist das in Ordnung?«

»Ich bin also die Dritte.«

»Ja, nach ...«

»Mehr brauch ich nicht zu wissen«, fiel ihm Holly unhöflich ins Wort. Sie wollte so schnell wie möglich wieder raus aus diesem Club. Sollten sie doch alle in Ruhe lassen, damit sie Zeit hatte, ihnen irgendwelche üblen Dinge an den Hals zu wünschen. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Doch Daniel sprach weiter: »Hör mal, Holly, könntest du mir sagen, welche von deinen Freundinnen Sharon ist?« Dabei sah er sie so schüchtern an, als hätte er Angst, sie würde ihm den Kopf abbeißen. Gut so.

»Die da drüben«, antwortete Holly ärgerlich und zeigte auf Sharon.

Schon ging er auf sie zu.

»Sharon, hi, ich bin Daniel. Ich wollte mich nur für das Kuddelmuddel letzte Woche am Telefon entschuldigen.«

Holly hüpfte von ihrem Hocker.

»Kuddelmuddel?«, fragte Sharon und starrte ihn an, als hätte er zehn Köpfe.

»Ja, am Telefon.«

John legte seiner Frau schützend den Arm um die Taille.

»Wir haben am Telefon miteinander gesprochen?«, fragte Sharon.

Daniel räusperte sich nervös. »Ja, Sie haben letzte Woche im Club angerufen, erinnern Sie sich?«

Hinter Daniels Rücken gestikulierte Holly Sharon wild zu.

»Oh … «, rief Sharon, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. »Oh, natürlich!«, setzte sie etwas allzu überschwänglich hinzu. »Gott, tut mir Leid, meine grauen Zellen sind heute ein bisschen schlecht drauf.« Sie lachte laut. »Wahrscheinlich zu viel von dem Zeug hier«, fügte sie hinzu und hob ihr Glas. »Machen Sie sich wegen dem Telefonat bloß keine Gedanken«, rief sie mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Ich hab den Laden erst vor ein paar Wochen übernommen und war wegen der genauen Planung für heute Abend noch nicht richtig auf dem Laufenden.«

»Ach, nur keine Sorge … wir brauchen alle unsere Zeit … wissen Sie, was ich meine?« Sharon sah schnell zu Holly hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie nichts Falsches gesagt hatte.

»Es ist jedenfalls nett, Sie mal persönlich kennen zu lernen. Darf ich Ihnen vielleicht einen Hocker bringen oder so?«, versuchte er zu scherzen.

Da Sharon und John bereits auf Hockern saßen, starrten sie Daniel verständnislos an und wussten nicht, was sie zu diesem seltsamen Ansinnen sagen sollten.

Argwöhnisch blickte John dem Kneipenbesitzer nach, der sich nun langsam entfernte.

»Was sollte das denn?«, schrie Sharon Holly an, sobald Daniel außer Hörweite war.

»Ach, das erkläre ich dir später«, erwiderte Holly, denn nun trat der Moderator des Karaoke-Abends auf die Bühne.

»Guten Abend, meine Damen und Herren!«, rief er in die Menge.

»Guten Abend«, rief Richard aufgeregt. Holly verdrehte die Augen.

»Heute haben wir ein spannendes Ereignis vor uns … «, fuhr der Mann in seinem affigen DJ-Ton fort und machte in diesem Stil endlos weiter, während Holly von einem Fuß auf den anderen trat, weil sie schon wieder zur Toilette musste. »Als Erste haben wir hier Margaret aus Tallaght, die uns die Titelmelodie aus ›Titanic‹ singen wird: ›My Heart Will Go On‹ von Celine Dion. Einen Applaus für unsere wundervolle Margaret!« Die Menge tobte. Hollys Herz raste. Typisch, dass diese Frau ausgerechnet so einen schwierigen Song zum Besten geben wollte!

Als Margaret anfing zu singen, wurde es so still im Saal, dass man fast eine Nadel hätte fallen hören – oder vielleicht eher ein paar Gläser. Holly sah sich um und blickte in die Gesichter der Zuhörer. Alle starrten hingerissen zur Bühne, einschließlich ihrer Familie. Diese gemeinen Verräter! Margaret hatte die Augen geschlossen und sang mit einer Leidenschaft, als durchlebte sie jede Zeile des Lieds. Holly hasste sie aus tiefstem Herzen und hätte ihr am liebsten ein Bein gestellt.

»War das nicht unglaublich?«, rief der Moderator. Wieder jubelte die Menge, und Holly machte sich innerlich schon einmal darauf gefasst, dass sie diese Wohlklänge nach ihrem Auftritt sicher nicht hören würde. »Als Nächsten haben wir Keith, an den Sie sich vielleicht noch erinnern, denn er war der Sieger unseres letzten Wettbewerbs. Heute singt er für uns ›Coming to America‹ von Neil Diamond. Eine Runde Applaus für Keith!« Keith war der Clubliebling und Karaoke-Gewinner des Vorjahres, na super. Mehr brauchte Holly nicht zu hören, also lief sie rasch aufs Klo. Dort wanderte sie auf und ab und versuchte sich zu beruhigen, aber sie hatte weiche Knie, ihr Magen war völlig verkrampft, und sie spürte, wie ihr die Magensäure den Hals emporstieg. Schnell trat sie vor den Spiegel, sah sich in die Augen und versuchte, ruhig und tief zu atmen. Aber es funktionierte nicht, ihr wurde davon nur auch noch schwindlig. Dann hörte sie den Beifall aufbrausen und erstarrte. Sie war die Nächste.

»War Keith nicht umwerfend, meine Damen und Herren?«

Erneut lauter Applaus.

»Vielleicht ist Keith auf den Rekord aus, zweimal nacheinander zu gewinnen, viel besser kann es ja kaum kommen!«

Allerdings – jetzt würde es nämlich erst mal ein gutes Stück bergab gehen.

»Als Nächstes haben wir eine Newcomerin im Wettbewerb. Ihr Name ist Holly Kennedy, und sie singt für uns … «

Holly rannte auf die Toilette und schloss sich ein. Keine zehn Pferde würden sie auf diese Bühne da draußen kriegen.

»Nun, meine Damen und Herren, einen kräftigen Applaus für Holly!«

P.S. Ich liebe Dich
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