Siebzehn
»Was ist denn los, Ciara?«, fragte Holly betroffen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie ihre kleine Schwester jemals hatte weinen sehen. Es musste also etwas Ernstes sein.
»Gar nichts ist los«, erwiderte Ciara, knallte ein Album zu und schob es schnell unters Bett. Anscheinend war es ihr furchtbar peinlich, in diesem Zustand überrascht worden zu sein. Hastig wischte sie sich das Gesicht ab und versuchte so zu tun, als ob nichts wäre.
»Doch, es muss irgendetwas los sein«, widersprach Holly und setzte sich neben ihre Schwester auf den Boden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in einer solchen Situation mit Ciara umgehen sollte, so unerwartet war dieser Rollentausch. Schon als Kind war Holly immer diejenige gewesen, die geweint hatte, und Ciara hatte sie getröstet. Ciara war die Starke.
»Mir geht’s gut!«, schnappte Ciara.
»Okay«, lenkte Holly ein. »Aber wenn es etwas gibt, worüber du gerne sprechen möchtest, dann lass es mich wissen, ja?«
Ciara weigerte sich, ihr ins Gesicht zu sehen und nickte nur mit dem Kopf. Gerade wollte Holly wieder aufstehen und ihre Schwester in Ruhe lassen, als Ciara plötzlich erneut in Tränen ausbrach. Sofort nahm Holly sie in die Arme.
Ciara legte den Kopf auf die Schulter ihrer großen Schwester, und diese streichelte tröstend den pinkfarbenen Haarschopf, während Ciara leise weinte.
»Möchtest du mir nicht doch erzählen, was los ist?«, fragte Holly sanft.
Ciara gluckste nur und holte das Fotoalbum unter dem Bett hervor. Mit zitternden Fingern schlug sie es auf.
»Der da«, sagte sie und zeigte auf ein Foto. Darauf war Ciara zu sehen, auf den Knien eines jungen Mannes, die Arme um seinen Hals geschlungen. Die beiden strahlten einander an, und Holly erkannte ihre Schwester kaum, so anders sah sie aus. Ihre Haare waren blond – diese Haarfarbe hatte Holly noch nie an ihr gesehen –, sie lächelte, und ihr Gesicht wirkte viel weicher.
»Ist das dein Freund?«, fragte Holly vorsichtig.
»Das war mein Freund«, schniefte Ciara, und eine Träne tropfte auf das Albumblatt.
»Bist du deswegen nach Hause gekommen?« Behutsam wischte Holly ihrer Schwester die Tränen ab.
Ciara nickte.
»Willst du erzählen, was passiert ist?«
Ciara musste erst tief Luft holen. »Wir haben uns gestritten.«
»Hat er … « Holly überlegte sich sorgfältig, wie sie ihre Frage am besten formulierte. »Er hat dir doch nicht wehgetan, oder?«
Ciara schüttelte den Kopf. »Nein«, stammelte sie. »Es ging um irgendeine blöde Kleinigkeit, und da hab ich gesagt, ich fahre nach Hause, und er meinte, das wäre ihm gerade recht … « Sie begann wieder zu schluchzen.
Holly hielt sie im Arm, bis sie weitersprechen konnte.
»Er ist nicht mal zum Flughafen gekommen.«
Holly rieb ihr über den Rücken wie einem Baby, das gerade sein Fläschchen getrunken hatte. Sie hoffte, Ciara würde sich nicht auf ihre Schulter übergeben. »Hat er angerufen?«
»Nein, und dabei bin ich doch jetzt schon seit zwei Monaten wieder hier«, klagte sie und sah Holly dabei so traurig an, dass ihre große Schwester fast ebenfalls angefangen hätte zu weinen. Was bildete dieser Kerl sich ein, ihrer Schwester so was anzutun? Andererseits kannte sie natürlich auch nicht alle Einzelheiten der Geschichte. Sie lächelte ermutigend. »Glaubst du denn, er ist vielleicht einfach nicht der Richtige für dich?«
Wieder begann Ciara zu weinen. »Nein, ich liebe Mathew, und es war wirklich nur ein blöder Streit. Ich habe den Rückflug nur gebucht, weil ich so wütend war, ich hätte nie gedacht, dass er mich einfach gehen lässt … «
Sie starrte schweigend auf das Foto.
Durch die offenen Fenster drangen die vertrauten Geräusche der Wellen und das Lachen der Strandbesucher herein. Früher hatten Holly und Ciara zusammen in diesem Zimmer gewohnt, und ein seltsames, angenehmes Gefühl überkam Holly. Es roch sogar genauso wie damals.
Neben ihr wurde Ciara allmählich ruhiger. »Tut mir Leid, Holly.«
»Hey, das braucht dir doch nicht Leid zu tun«, erwiderte sie und drückte ihre Hand. »Du hättest es mir gleich erzählen sollen, als du heimgekommen bist, statt alles in dich reinzufressen.«
»Aber das ist doch gar nichts, verglichen mit dem, was du durchmachst. Ich komme mir so blöd vor, wegen so was zu heulen.« Ärgerlich wischte sie die Tränen weg.
»Ciara, das ist nicht gar nichts«, widersprach Holly betroffen. »Wenn man jemanden verliert, den man liebt, ist das immer furchtbar schwer, egal ob derjenige noch lebt oder … « Sie konnte den Satz nicht vollenden. »Ich hoffe, du weißt, dass du mir immer alles erzählen kannst!«
»Du bist so tapfer, Holly. Und ich sitze hier rum und flenne wegen meinem blöden Freund, mit dem ich grade mal ein paar Monate zusammen war.«
»Ich und tapfer?«, lachte Holly. »Schön wär’s.«
»O doch, das bist du«, beharrte Ciara. »Das sagen alle. Wenn mir das passiert wäre, würde ich irgendwo besoffen im Graben liegen.«
»Bring mich nicht auf Ideen, Ciara«, grinste Holly und fragte sich, wer in aller Welt sie wohl tapfer fand.
»Alles in Ordnung mit dir?« Ciara sah ihr besorgt ins Gesicht.
Nachdenklich schob Holly ihren Ehering am Finger auf und ab, und eine Weile waren die beiden jungen Frauen ganz in ihre eigenen Gedanken versunken. Noch nie hatte Holly ihre kleine Schwester so ruhig gesehen. Ganz geduldig saß sie neben ihr und wartete auf eine Antwort.
»Ob mit mir alles in Ordnung ist?«, wiederholte Holly die Frage, den Blick auf ihre Sammlung von Teddys und Puppen gerichtet, die ihre Eltern sich wegzuwerfen weigerten. »Es ist ganz unterschiedlich«, erklärte Holly, während sie weiter an ihrem Ring herumspielte. »Ich bin einsam, ich bin müde, ich bin traurig, ich bin glücklich, ich bin unglücklich. Jeden Tag bin ich ganz viele Dinge. Aber ich denke, manchmal ist auch alles in Ordnung, ja.«
Sie sah Ciara an und lächelte traurig.
»Und du bist tapfer«, versicherte Ciara ihr noch einmal.
Langsam schüttelte Holly den Kopf. »Nein Ciara, ich bin nicht tapfer. Du bist die Tapfere von uns. Das warst du schon immer. »Das ganze Zeug – aus Flugzeugen springen, mit dem Snowboard steile Abhänge runterrauschen … « Holly durchforschte ihren Kopf nach anderen verrückten Hobbys ihrer kleinen Schwester.
»Nein, nein, Schwesterherz, das ist nicht tapfer, nur dumm. Jeder kann Bungeejumping von einer Brücke machen. Du auch.« Ciara versetzte Holly einen Rippenstoß.
Aber Holly schüttelte entschieden den Kopf, und Ciara fuhr etwas ruhiger fort: »Du würdest es tun, wenn du müsstest, Holly. Glaub mir, das hat mit Tapferkeit gar nichts zu tun.«
Holly sah ihre Schwester an und antwortete ebenfalls ruhig: »Ja, und wenn dein Mann sterben würde, dann würdest du auch irgendwie damit zurechtkommen, weil du es müsstest. Das hat auch nichts mit Tapferkeit zu tun. Man hat einfach keine Wahl.«
Eine Weile schwiegen sie nachdenklich, dann sagte Ciara: »Tja, anscheinend sind wir uns ähnlicher, als wir dachten.«
Holly nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Wer hätte das gedacht?« Ihre kleine Schwester sah mit ihren großen, unschuldigen blauen Augen wirklich aus wie ein Kind, und auf einmal kam sich Holly selbst vor wie ein kleines Mädchen. Hier auf dem Boden hatten sie so oft zusammen gespielt und später als Teenies endlos miteinander gequatscht.
Schweigend lauschten sie den Geräuschen draußen.
»Was war vorhin eigentlich los?«, fragte Ciara nach einer Weile mit leiser Stimme. Holly musste lachen.
»Ach, vergiss es einfach«, antwortete Holly und starrte in den blauen Himmel hinauf.
Draußen vor der Tür wischte ein erleichterter Declan sich den Schweiß von der Stirn – das war ja glimpflich ausgegangen. Lautlos schlich er sich in sein Zimmer zurück und stieg wieder ins Bett. Wer immer dieser Mathew war, Declan war ihm jedenfalls zu Dank verpflichtet. Sein Telefon piepte; eine SMS. Wer zum Teufel ist Sandra?, überlegte er, als er sie gelesen hatte. Dann erinnerte er sich an letzte Nacht, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Es war schon acht Uhr, aber noch hell, als Holly zu Hause ankam. Sie lächelte, denn die Welt erschien ihr nicht halb so deprimierend, wenn es hell war. Sie hatte den Tag mit Ciara verbracht und über ihre Abenteuer in Australien erzählt. Mindestens alle zwanzig Minuten hatte Ciara ihre Meinung geändert, ob sie Mathew jetzt anrufen sollte oder doch nicht. Als Holly ging, war sie gerade wild entschlossen, nie im Leben wieder ein Wort mit ihm zu reden, was wahrscheinlich bedeutete, dass sie ihn inzwischen längst angerufen hatte.
Als Holly den Weg zur Haustür hinaufging, stutzte sie unwillkürlich. War das nur ihre Einbildung, oder sah der Garten heute irgendwie ordentlicher aus?
Dann hörte sie einen Rasenmäher und drehte sich um. Es war ihr Nachbar, der in seinem Garten zugange war, und sie winkte ihm dankbar zu, weil sie annahm, dass er sich nebenbei auch um ihren gekümmert hatte. Der Nachbar winkte freundlich zurück.
Der Garten war immer Gerrys Angelegenheit gewesen. Zwar war er auch nicht gerade ein passionierter Gärtner, aber da Holly in diesem Bereich absolut unfähig war, hatte er das übernommen. Der Garten war immer sehr schlicht gewesen: ein kleiner Rasen mit ein paar Büschen und Blumen darum herum. Gerry verstand allerdings auch nicht viel von Pflanzen, setzte sie oft zur falschen Jahreszeit, sodass sie eingingen und nur die widerstandsfähigen Büsche übrig blieben. Jetzt sah es aus wie ein verwildertes Feld. Mit Gerrys Tod war auch der Garten gestorben.
Dabei fiel Holly Richards Orchidee ein, und sie lief schnell ins Haus, füllte einen Krug mit Wasser und goss es über die halb verdurstete Pflanze. Sie sah nicht gerade gesund aus, aber Holly schwor sich, dass sie sie nicht eingehen lassen würde.
Sie schob ein Hähnchencurry in die Mikrowelle und setzte sich an den Küchentisch. Auf der Straße draußen hörte man noch Kinder spielen. Das hatte sie als kleines Mädchen immer sehr geliebt: Wenn die hellen Abende kamen, hatten Mum und Dad sie abends lange draußen herumtoben lassen, ohne auf die Schlafenszeit zu achten, und das war immer etwas ganz Besonderes gewesen. Holly ließ sich den Tag noch einmal durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluss, dass er insgesamt gut gewesen war. Abgesehen von einer Sache …
Sie blickte auf ihren Ehering und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Als dieser Rob abgehauen war, hatte Holly sich schrecklich gefühlt. Sie hatte einem anderen Mann in die Augen geschaut und daran gedacht, mit ihm auszugehen. Auch in den Jahren ihrer Ehe mit Gerry hatte sie ab und zu andere Männer attraktiv gefunden, aber das war etwas anderes gewesen. Damals waren gut aussehende Männer für sie kein Thema gewesen, denn sie kehrte ja immer nach Hause zu ihrem Mann zurück, den sie liebte, und dachte nicht mehr an den anderen. Jetzt hatten sich die Dinge drastisch verändert. Aber Hollys Herz gehörte immer noch Gerry. Sie konnte nicht plötzlich so tun, als liebte sie ihn nicht mehr, nur weil er nicht mehr da war. Sie fühlte sich immer noch verheiratet, und wenn sie heute Mittag mit Rob einen Kaffee getrunken hätte, wäre sie sich vorgekommen, als würde sie ihren Mann betrügen. Ihr Herz, ihre Seele und ihre Gedanken gehörten immer noch Gerry. Aber er war nicht mehr da.
Gedankenverloren drehte sie an ihrem Ehering. Wann würde sie ihn ablegen? Inzwischen war Gerry schon fast ein halbes Jahr tot. Wann war der richtige Zeitpunkt, den Ring abzunehmen und sich klarzumachen, dass sie nicht mehr verheiratet war? Gab es irgendwo ein Handbuch für Witwen, in dem so etwas stand? Wo sollte sie den Ring aufbewahren? War es besser, ihn wegzuwerfen? Oder ihn nebens Bett zu legen, damit sie sich jeden Tag an ihn erinnerte? Fragen über Fragen. Nein, sie war noch nicht bereit, Gerry aufzugeben, für sie lebte er noch. Die Mikrowelle piepte, das Essen war fertig. Sie holte es heraus und beförderte es auf direktem Wege in den Abfall. Ihr war der Appetit vergangen.
Später rief Denise an. Sie war in heller Aufregung. »Mach das Radio an, auf Dublin FM, schnell!«
Holly rannte zum Radio. »Ich bin Tom O'Connor, und Sie hören Dublin FM. Falls Sie gerade erst eingeschaltet haben – wir unterhalten uns gerade über Türsteher, die Rausschmeißer der einschlägigen Clubs. Angesichts der Überredungskünste, die die ›Girls and the City‹ zum Einsatz bringen mussten, um ins ›Boudoir‹ zu gelangen, möchten wir gerne wissen, wie Sie über Türsteher denken. Finden Sie die Kerle in Ordnung? Oder eher nicht? Machen Sie ihren Job richtig? Rufen Sie uns an, die Nummer ist … «
Holly griff wieder zum Telefon.
»Was haben wir da bloß ausgelöst, Denise?«
»Ja, nicht wahr?«, kicherte sie. Anscheinend fand sie es ganz wunderbar. »Hast du die Zeitungen heute schon gesehen?«
»Ja, aber das ist doch alles ein bisschen albern. Okay, es war eine gute Dokumentation, aber die Artikel waren ziemlich blöd, fand ich.«
»Ich find’s toll! Ich komme drin vor!«, lachte sie.
»Kann ich mir vorstellen.« Auch Holly lachte.
Sie lauschten wieder dem Radio. Irgendein Mann äußerte sich, und Tom versuchte, ihn zu beschwichtigen.
»Oh, hör dir nur meinen Süßen an«, seufzte Denise. »Klingt er nicht wahnsinnig sexy?«
»Hmm … ja«, murmelte Holly. »Ihr seid also noch zusammen?«
»Na klar«, erwiderte Denise beleidigt. »Überrascht dich das etwa?«
»Na, es hält ja jetzt für deine Verhältnisse schon ziemlich lange, Denise«, erklärte Holly hastig. »Du hast immer gesagt, du bleibst mit einem Mann höchstens einen Monat zusammen und dass du es hasst, an eine Person gebunden zu sein.«
»Ja gut, ich hab es bisher nicht länger als einen Monat mit einem ausgehalten, aber ich hab nie behauptet, dass ich es nicht probieren würde. Tom ist ganz anders, Holly«, hauchte Denise.
Holly staunte, dass ausgerechnet Denise so etwas sagte, denn sie war immer fest entschlossen gewesen, den Rest ihres Lebens Single zu bleiben. »Was ist denn so anders an Tom?« Holly klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und setzte sich in den Sessel, um ihre Nägel zu inspizieren.
»Ach, es gibt da einfach so eine Verbindung zwischen uns. Als wären wir seelenverwandt oder so was. Er ist so aufmerksam, macht mir dauernd kleine Geschenke, lädt mich zum Essen ein und verwöhnt mich einfach. Und er bringt mich ständig zum Lachen … ich bin einfach unheimlich gern mit ihm zusammen. Ich kann nicht genug von ihm kriegen, ganz anders als bei meinen sonstigen Freunden. Außerdem sieht er auch noch supergut aus.«
Holly musste ein Gähnen unterdrücken, denn Denise sagte nach der ersten Woche von allen ihren neuen Typen das Gleiche. Allerdings änderte sie sonst schneller ihre Meinung, also meinte sie es diesmal vielleicht wirklich ernst. »Ich freue mich für dich«, sagte sie.
Jetzt hatte sich im Radio ein Türsteher zu Wort gemeldet. »Also, zuerst mal möchte ich euch gern allen sagen, dass wir die letzten Abende ich weiß nicht wie viele Prinzessinnen und Kammerzofen abfertigen mussten. Seit dieser Sendung scheinen die Leute zu denken, wenn sie sich als adlig ausgeben, kommen sie überall rein! Und dazu möchte ich nur sagen: Leute, das funktioniert nicht, also versucht es erst gar nicht!«
Tom lachte, und Holly machte das Radio aus.
»Denise«, meinte sie ernst, »ich glaube, die sind alle verrückt geworden.«
Am nächsten Tag zwang Holly sich, früh aufzustehen und einen Spaziergang im Park zu machen. Sie brauchte ein bisschen Bewegung, damit sie nicht völlig versackte, und außerdem musste sie sich langsam wirklich um eine Arbeit kümmern. Wo immer sie hinging versuchte sie, sich selbst in einem der dort vorhandenen Jobs vorzustellen. Klamottenläden kamen nicht infrage (das hatte Denise ihr ausgeredet), ebenso wenig Restaurants, Hotels und Pubs, einen normalen Bürojob wollte sie auch nicht, also blieb ihr … eigentlich nichts. Manchmal hing sie irgendwelchen Fantasien nach, wenn sie irgendwelche Filme mit FBI-Agentinnen sah, zum Beispiel. Aber da sie weder in Amerika wohnte noch eine Polizeiausbildung vorzuweisen hatte, war dieser Plan wohl nicht allzu zukunftsträchtig. Vielleicht konnte sie ja zum Zirkus gehen …
Sie setzte sich auf eine Bank beim Spielplatz und lauschte dem fröhlichen Geschrei der Kinder. Nur allzu gern wäre sie auf die Rutsche oder die Schaukel geklettert. Warum musste man überhaupt erwachsen werden, wo es doch viel mehr Spaß machte, ein Kind zu sein? Auf einmal wurde ihr klar, dass sie schon das ganze Wochenende davon geträumt hatte.
Sie wollte keine Verantwortung, sie wollte, dass jemand für sie sorgte und ihr sagte, dass sie sich keine Sorgen zu machen und sich um nichts zu kümmern brauchte. Wie leicht das Leben doch wäre ohne diese ganzen blöden Erwachsenendinge! Irgendwann würde sie dann wieder älter werden und Gerry ein zweites Mal kennen lernen und ihn zwingen, früher zum Arzt zu gehen, und dann würde sie hier neben ihm sitzen und ihren Kindern beim Spielen zuschauen. Wenn, wenn, wenn …
Sie dachte an Richards ätzende Bemerkung, dass sie sich jetzt wenigstens um Kinder keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Wenn sie nur daran dachte, fing sie schon wieder an, sich über ihn zu ärgern. Wäre doch nur ein kleiner Gerry auf dem Spielplatz herumgesprungen, den sie hätte ermahnen können, er solle schön vorsichtig sein.
Ein paar Monate bevor Gerry seine Diagnose bekommen hatte, hatten er und Holly darüber nachzudenken begonnen, ob sie eigentlich Kinder haben wollten. Sie waren beide ganz aufgeregt geworden, hatten stundenlang im Bett gelegen, über Namen gegrübelt und sich ausgemalt, wie es wäre, Eltern zu sein. Holly lächelte. Gerry wäre bestimmt ein wundervoller Vater geworden. Sie konnte sich so gut vorstellen, wie er mit seinen Kindern am Küchentisch saß und ihnen bei den Hausaufgaben half, wie seine Alarmglocken losschlugen, wenn seine Tochter einen Jungen mit nach Hause brachte … Sie musste endlich aufhören, in ihren Erinnerungen zu leben und unmöglichen Träumen nachzuhängen. Das führte doch zu nichts.
Wenn man vom Teufel spricht … , dachte Holly, denn in diesem Moment kam Richard mit Emily und Timmy auf sie zu, ganz entspannt und offensichtlich in seinem Element. Holly staunte, denn sie sahen alle drei aus, als hätten sie Spaß – kein sehr vertrauter Anblick. Holly setzte sich auf und wappnete sich innerlich für das bevorstehende Gespräch.
»Hallo, Holly!«, rief Richard fröhlich, als er sie entdeckte, und kam über die Wiese auf sie zu.
»Hallo, was für ein Zufall!«, erwiderte Holly und begrüßte die Kinder, die zu ihr rannten und sie umarmten. Ein nettes Gefühl. »Ihr seid aber weit weg von zu Hause«, sagte sie zu Richard. »Was bringt euch denn alle hierher?«
»Wir haben Oma und Opa besucht, stimmt’s?«, antwortete er und zauste den Kindern die Haare.
»Und wir waren bei McDonald’s«, ergänzte Timmy aufgeregt. Emily lachte.
»Oh, lecker!«, sagte Holly und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ihr habt ja ein Glück! Euer Papa ist klasse, hab ich Recht?« Richard machte ein zufriedenes Gesicht.
»Ist aber nicht gerade Vollwertkost, oder?«, meinte Holly, an ihren Bruder gewandt.
»Ach«, wehrte er mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Solange es nicht zur Gewohnheit wird, was, Emily?«
Die Fünfjährige nickte ernsthaft, als hätte sie ihren Vater ganz genau verstanden. Mit ihren großen Augen und den rotblonden Lokken sah sie ihrer Mutter so ähnlich, dass Holly schnell wegschauen musste. Dann bekam sie aber gleich ein schlechtes Gewissen und lächelte das kleine Mädchen an.
»Na ja, einmal McDonald’s wird sie garantiert nicht umbringen«, stimmte Holly ihrem Bruder zu.
Prompt fasste Timmy sich an den Hals und tat, als würde er ersticken. Sein Gesicht lief rot an, er ließ sich aufs Gras plumpsen und blieb dort reglos liegen. Richard und Holly lachten, aber Emily schien den Tränen nahe.
»Ach du jemine«, scherzte Richard. »Sieht aus, als hätten wir uns geirrt, Holly. McDonald’s hat Timmy anscheinend doch umgebracht.«
Verblüfft sah Holly ihren Bruder an. Hatte er seinen Sohn eben Timmy genannt? Richard stand auf, hob Timmy hoch und legte ihn sich über die Schulter. »Dann müssen wir ihn jetzt wohl begraben.«
Timmy kicherte, kopfüber von der Schulter seines Vaters baumelnd.
»Oh, er lebt ja doch noch!«, lachte Richard.
»Nein, überhaupt nicht«, widersprach Timmy.
Gerührt beobachtete Holly die Vater-Sohn-Szene. Es war eine ganze Weile her, seit sie so etwas gesehen hatte. Ihre Freunde hatten allesamt noch keine Kinder, daher hatte Holly auch wenig mit Kindern zu tun. Wenn sie Richards Kinder jetzt so anhimmelte, konnte mit ihr irgendetwas nicht stimmen. Und ohne Mann in ihrem Leben war es auch keine gute Idee, weiter darüber zu grübeln.
»Okay, wir müssen los«, rief Richard. »Tschüss, Holly.«
»Tschüss, Holly«, wiederholten die Kinder fröhlich, und Holly sah ihnen nach: Richard mit Timmy über der Schulter, daneben Emily, die hüpfte und tanzte und nach seiner Hand griff.
Da ging ein ganz unbekannter Richard, aber Holly fand die Veränderung sehr angenehm. Wer war dieser Mann, der behauptete, ihr Bruder zu sein?
Ach, warum waren eigentlich alle glücklich außer ihr?