Achtzehn

Barbara bediente den Kunden fertig, aber sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, rannte sie in den Pausenraum und zündete sich eine Zigarette an. Im Reisebüro war den ganzen Tag so viel Betrieb gewesen, dass sie keine Mittagspause gehabt hatte. Melissa, ihre Kollegin, hatte sich heute Morgen krankgemeldet, doch Barbara wusste, dass sie in der vorigen Nacht gefeiert und sich ihre Krankheit wahrscheinlich selbst zu verdanken hatte. Jedenfalls steckte Barbara den ganzen Tag allein hier fest, und natürlich war heute so viel los gewesen wie seit Urzeiten nicht mehr. Wenn der November mit seinen deprimierenden dunklen Abenden und seinem beißenden Wind und Regen kam … dann rannten sie ihr hier die Tür ein, um Ferien in der Sonne zu buchen. Barbara schauderte, als sie den Wind an den Fenstern rütteln hörte, und nahm sich vor, selbst auch mal nach Angeboten Ausschau zu halten.

Ihr Chef war vor einer Weile verschwunden, um Besorgungen zu machen, und es war ihre erste Gelegenheit, in Ruhe zu rauchen. Als gleich wieder die Glocke über der Ladentür klingelte, fluchte sie im Stillen über den Kunden, der ihr die wohl verdiente Zigarettenpause zunichte machte. Rasch inhalierte sie noch einmal, so tief, dass ihr fast schwindlig wurde, zog ihren knallroten Lippenstift nach und versprühte reichlich Parfüm im Zimmer, damit ihr Chef nachher den Rauch nicht bemerkte. Dann verließ sie den Pausenraum in der Erwartung, den neuen Kunden bereits vor ihrem Tisch warten zu sehen. Aber nein, es war ein alter Mann, der sich mühsam auf die Theke zu bewegte.

»Entschuldigen Sie?«, hörte sie den Mann mit schwacher Stimme fragen.

»Guten Tag, Sir, wie kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sie sich zum hundertsten Mal an diesem Tag. Sie war verblüfft, wie jung dieser Mann in Wirklichkeit war, dass sie ihn erst einmal überrascht musterte. Nur von weitem hatte er durch den gebückten Körper und den Stock alt gewirkt. Seine Haut war weiß, als hätte er jahrelang keine Sonne mehr gesehen, aber er hatte große braune Augen, die sie unter langen Wimpern so freundlich anlächelten, dass sie unwillkürlich zurücklächelte.

»Ich möchte gern eine Reise buchen«, erklärte er leise. »Könnten Sie mir helfen, einen Ort auszusuchen?«

Normalerweise ärgerte Barbara sich über solche Bitten, weil man es ihrer Erfahrung nach keinem recht machen konnte: Die meisten Kunden waren so heikel, dass man stundenlang mit ihnen herumsitzen und Prospekte wälzen musste, bis man den Betreffenden nur noch loswerden wollte und es einem längst gleichgültig war, wo er seinen Urlaub verbrachte. Aber dieser Mann machte einen netten Eindruck, und da er wirklich nicht in der Lage zu sein schien, selbst etwas auszusuchen, würde Barbara ihm gern helfen. Eigentlich überraschte es sie, dass sie ehrlich hilfsbereit sein konnte.

»Kein Problem, Sir, nehmen Sie Platz, dann sehen wir uns ein paar Prospekte an«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Um ihm nicht zusehen zu müssen, wie er sich mühsam zu ihr bewegte und hinsetzte, sah sie weg.

»So«, lächelte sie dann. »Gibt es irgendein Land, das Ihnen besonders gefällt?«

»Hmm … die Kanaren … Lanzarote könnte ich mir vorstellen.«

Das wird ja einfacher, als ich gedacht habe, freute sich Barbara.

»Möchten Sie im nächsten Sommer fahren?«

Er nickte langsam.

Sie arbeiteten sich durch den Prospekt, und schließlich entdeckte der Mann etwas, das ihm offensichtlich zusagte. Barbara war angenehm berührt, dass er ihr zuhörte und ihren Rat beherzigte, ganz anders als die meisten Kunden. Dabei musste sie doch wissen, was am besten war, schließlich gehörte das zu ihrem Job!

»Soll es ein bestimmter Monat sein?«, fragte sie, während sie sich die Preistabellen durchlas.

»August?«, schlug er vor, und die warmen braunen Augen blickten so tief in Barbaras Seele, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre und ihn umarmt hätte.

»August ist ein guter Monat«, pflichtete sie ihm bei und setzte rasch hinzu: »Hätten Sie gerne ein Zimmer mit Blick aufs Meer oder Blick auf den Pool? Meerblick kostet dreißig Euro mehr.«

Mit einem Lächeln, als wäre er schon dort, antwortete er: »Mit Meerblick, bitte.«

»Das ist eine gute Wahl. Möchten Sie allein fahren?«

»Oh … nein, es ist nicht für mich … es soll eine Überraschung für meine Frau und ihre Freundinnen sein.« Jetzt sahen die braunen Augen auf einmal traurig aus.

Barbara räusperte sich nervös. »Das ist aber eine sehr nette Idee, Sir«, sagte sie. »Darf ich dann um Ihren Namen bitten?«

Sie nahm alles auf, und der Mann beglich die Rechnung. Doch als sie die Unterlagen ausdrucken und ihm mitgeben wollte, wehrte er ab.

»Wäre es möglich, dass ich alles hier bei Ihnen lasse? Wie gesagt soll es ja eine Überraschung sein, und wenn ich die Papiere irgendwo im Haus lasse, habe ich Angst, dass sie sie findet.«

Barbara lächelte; seine Frau war ein echter Glückspilz.

»Ich möchte es ihr erst im August sagen. Meinen Sie, dass Sie die Unterlagen bis dahin aufbewahren können? Meine Frau kommt dann vorbei und holt die Tickets und alles andere selbst ab.«

»Das ist gar kein Problem, denn normalerweise werden die Termine erst ein paar Wochen vor dem Abflug bestätigt, also müssen wir Ihre Frau sowieso nicht vorher anrufen. Aber ich sage meinen Kollegen auch Bescheid, damit bestimmt nichts schief geht.«

»Herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Barbara«, sagte er, und wieder war ein trauriges Lächeln in seinen braunen Augen.

»Es war mir ein Vergnügen, Mr. …?«

»Nennen Sie mich einfach Gerry.«

»Nun, es war mir ein Vergnügen, Gerry, und ich bin sicher, dass Ihre Frau einen sehr schönen Aufenthalt haben wird. Meine Freundin war letztes Jahr auf Lanzarote, und es hat ihr sehr gut gefallen.«

»Nun, dann gehe ich mal lieber wieder nach Hause, damit keiner denkt, ich wäre gekidnappt worden. Ich darf eigentlich nicht aufstehen, wissen Sie«, lachte er, und Barbara spürte plötzlich einen Kloß im Hals.

Rasch sprang sie auf, um ihm die Tür aufzuhalten. Im Vorbeigehen lächelte er sie noch einmal an, und sie sah zu, wie er langsam ins Taxi stieg, das vor der Tür auf ihn gewartet hatte. Gerade als Barbara die Tür zumachen wollte, kam ihr Chef herein. Barbara schaute zu Gerry hinüber, der noch darauf wartete, dass das Taxi losfuhr; er lachte und hielt ermutigend die Daumen nach oben.

Barbaras Chef warf ihr einen grimmigen Blick zu, weil sie die Theke unbeaufsichtigt gelassen hatte, und marschierte gleich in den Pausenraum. »Barbara!«, schrie er. »Haben Sie etwa wieder geraucht?«

Sie wandte sich zu ihm um.

»Gott, was ist denn mit Ihnen los?«, fragte er verdutzt. »Sie sehen ja aus, als wollten Sie gleich anfangen zu heulen.«


Am 1.Juli saß Barbara schlecht gelaunt hinter ihrem Schreibtisch im Reisebüro von Swords. Immer wenn sie arbeiten musste, war schönes Wetter. Gestern und vorgestern hatte sie frei gehabt, und da hatte es natürlich wie aus Kübeln gegossen. Heute genau das Gegenteil. Typisch. Natürlich musste auch noch jeder Kunde, der mit kurzen Hosen oder knappem Oberteil hereinspazierte und einen penetranten Geruch nach Kokos-Sonnencreme verbreitete, ihr unverzüglich mitteilen, dass es diesen Sommer noch nie so herrlich warm gewesen war wie heute. Barbara rutschte in ihrer unbequemen, kratzigen Uniform unruhig auf ihrem Stuhl herum. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie wieder in der Schule, und schlug frustriert mit der Faust gegen den Ventilator, der sich mal wieder weigerte zu funktionieren.

»Ach, lass doch, Barbara«, stöhnte Melissa. »Dadurch wird es nur schlimmer.«

»Als wäre das überhaupt möglich«, grummelte Barbara, drehte sich zu ihrem Computer und hämmerte wütend auf die Tastatur ein.

»Was ist denn heute in dich gefahren?«, erkundigte sich Melissa lachend.

»Ach, nichts«, antwortete Barbara durch zusammengebissene Zähne. »Es ist nur der bisher wärmste Tag des Jahres, und wir sitzen in diesem beschissenen Job fest, in einem stickigen Raum ohne Klimaanlage in einer potthässlichen, kratzigen Uniform«, rief sie und hoffte, dass ihr Boss sie hörte. »Weiter nichts.«

Melissa kicherte. »Hör mal, warum gehst du nicht ein paar Minuten nach draußen und schnappst ein bisschen frische Luft? Ich kümmere mich so lange um die Kundschaft«, sagte sie mit Blick auf die Frau, die gerade hereingekommen war.

»Danke, Mel«, sagte Barbara, erleichtert, dass sie einen Moment fliehen konnte. Sie schnappte sich ihre Zigaretten. »Bin gleich wieder da.«

Melissa blickte viel sagend auf die Zigaretten. »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«, wandte sie sich dann mit einem Lächeln der neuen Kundin zu.

»Ja, ich hätte gern gewusst, ob Barbara noch hier arbeitet.«

Barbara, die schon an der Tür war, überlegte, ob sie schnell weglaufen oder zurück an die Arbeit gehen sollte. Schließlich entschied sie sich, wenn auch mit einem tiefen Seufzer, für Letzteres. Sie sah die Frau an; sie war hübsch, aber sie starrte ziemlich nervös zwischen Barbara und Melissa hin und her.

»Ja, ich bin Barbara«, sagte sie.

»Oh, gut!« Die Frau machte einen erleichterten Eindruck und nahm hastig vor Barbaras Schreibtisch Platz. »Ich hatte schon Angst, dass Sie womöglich gar nicht mehr hier sind.«

»Das ist ihr geheimster Wunsch«, brummte Melissa leise und bekam dafür von Barbara prompt einen Rippenstoß.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Barbara.

»O ja, das hoffe ich sehr«, meinte die Frau aufgeregt, während sie ihre Tasche durchwühlte. Barbara zog die Augenbrauen hoch und warf Melissa einen raschen Blick zu. Sie mussten sich beide zusammennehmen, um nicht loszulachen. »Okay«, sagte die Kundin schließlich und zog einen zerknitterten Umschlag aus der Tasche. »Das habe ich heute von meinem Mann bekommen und mich gefragt, ob Sie es mir vielleicht erklären können.«

Barbara runzelte die Stirn und starrte auf das Stück Papier auf dem Tisch. Eine Seite aus einem Reiseprospekt, auf die jemand gekritzelt hatte: Swords Reisebüro. Ansprechpartnerin: Barbara.

Stirnrunzelnd betrachtete Barbara die Seite. »Meine Freundin hat vor zwei Jahren mal dort Urlaub gemacht, ansonsten sagt es mir nichts. Haben Sie keine weiteren Informationen?«

Die Frau schüttelte entschieden den Kopf.

»Können Sie denn nicht Ihren Mann bitten, dass er es Ihnen erklärt?«, fragte Barbara etwas verwirrt.

»Nein, er ist nicht mehr da«, antwortete die Frau traurig, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Barbara wurde panisch. Wenn ihr Chef mitkriegte, dass eine Kundin ihretwegen weinte, würde sie garantiert entlassen. Sie war schon mehrmals abgemahnt worden.

»Na gut, wenn Sie mir Ihren Namen sagen, kann ich im Computer nachsehen.«

»Ich heiße Holly Kennedy«, antwortete die Frau mit zittriger Stimme.

»Holly Kennedy, Holly Kennedy«, wiederholte Melissa nachdenklich. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ah, warten Sie, ich sollte Sie diese Woche anrufen! Das ist ja seltsam! Ich hatte von Barbara strikte Anweisung, Sie aus irgendeinem Grund nicht vor Juli anzurufen … «

»Oh!«, fiel Barbara ihrer Freundin ins Wort – endlich fiel ihr alles wieder ein. »Sind Sie Gerrys Frau?«

»Ja!« Holly schlug sich die Hände vors Gesicht. »War er hier?«

»Er war hier, ja.« Barbara lächelte sie ermutigend an, denn sie vermutete, dass der Mann mit den schönen braunen Augen gestorben war. »Er war ein wunderbarer Mensch«, sagte sie und nahm Hollys Hand.

Verdattert starrte Melissa die beiden an. Was war hier los?

Barbara empfand großes Mitgefühl für die junge Frau, die bestimmt eine schrecklich schwere Zeit durchmachte. Ein Glück, dass ihr wenigstens heute eine schöne Überraschung bevorstand. »Melissa, kannst du für Holly bitte ein Päckchen Taschentücher holen, während ich ihr erkläre, warum ihr Mann hier war?«, sagte sie und ließ Hollys Hand los, um etwas in den Computer einzugeben.

Im Handumdrehen war Melissa mit den Taschentüchern wieder da. »Also, Holly«, erklärte Barbara, »Gerry hat für Sie, eine gewisse Sharon McCarthy und eine Denise Hennessey eine Woche Urlaub auf Lanzarote gebucht, vom 28.Juli bis zum 3.August.«

Jetzt war es mit Hollys Beherrschung endgültig vorbei, und die Tränen strömten ihr über die Wangen.

»Er war ganz sicher, dass er den perfekten Urlaubsort für Sie gefunden hat«, fuhr Barbara fort, der ihre neue Rolle großen Spaß machte. Sie kam sich vor wie eine von diesen Fernsehmoderatorinnen, die ihren Gästen irgendwelche umwerfenden Überraschungen präsentierten. »Das ist der Ort, an den Sie fahren«, sagte sie und zeigte auf das zerknitterte Blatt aus dem Reiseprospekt. »Sie werden eine wunderbare Zeit dort haben, glauben Sie mir. Meine Freundin war vor zwei Jahren dort, wie ich vorhin schon sagte, und es hat ihr unheimlich gut gefallen. Es gibt jede Menge Restaurants und Bars und … « Sie ließ den Satz unvollendet, weil ihr plötzlich klar wurde, dass es Holly wahrscheinlich vollkommen egal war, ob sich Barbaras Freundin auf Lanzarote amüsiert hatte oder nicht.

»Tut mir Leid«, sagte Holly und wischte sich die Augen, nachdem der erste Schock etwas nachgelassen hatte.

»Ach, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Melissa mitfühlend, obwohl sie immer noch nicht richtig kapierte, was eigentlich vorging. In diesem Moment kam leider ein neuer Kunde, und Melissa musste ihre Aufmerksamkeit von Barbara und ihrer interessanten Kundin losreißen.

»Wann war er hier?«, wollte Holly wissen.

Barbara gab wieder etwas in den Computer ein. »Die Buchung wurde am 28.November vorgenommen.«

»Im November?«, stieß Holly hervor. »Da hätte er gar nicht mehr aufstehen dürfen! War er allein?«

»Ja, aber vor der Tür hat ein Taxi gewartet.«

»Um welche Tageszeit war das?«, fragte Holly. Anscheinend wollte sie sich alles möglichst genau vorstellen können.

»Tut mir Leid, aber daran kann ich mich echt nicht mehr erinnern. Es ist ziemlich lange her … «

»Ja, natürlich, entschuldigen Sie«, unterbrach Holly.

Aber Barbara verstand sie genau. Wäre Gerry ihr Mann gewesen, hätte sie auch jede Kleinigkeit wissen wollen. Sie erzählte alles, woran sie sich erinnern konnte, bis Holly keine weiteren Fragen mehr einfielen.

»Danke, Barbara, herzlichen Dank für Ihre Mühe.« Holly umarmte Barbara über den Schreibtisch hinweg.

»Kein Problem, gern geschehen«, lächelte sie und war sehr zufrieden mit sich und ihrer guten Tat. »Lassen Sie uns bei Gelegenheit wissen, wie es Ihnen gefallen hat. Hier sind Ihre Unterlagen.« Sie reichte Holly den dicken Umschlag und sah ihr nach, wie sie das Reisebüro verließ. Vielleicht war dieser Job doch gar nicht so übel.

»Was in aller Welt war denn das?« Da Melissa vor Neugier fast platzte, erzählte Barbara ihr die ganze Geschichte.

»Ich gehe jetzt in die Pause!«, ertönte die Stimme ihres Chefs, als sie gerade am Ende angekommen war. Die Tür zu seinem Büro fiel ins Schloss. »Barbara, keine Zigaretten im Pausenraum!«, fügte er hinzu, doch dann drehte er sich noch einmal um und sah die beiden Frauen verwundert an. »Herr des Himmels, was ist passiert? Warum weinen Sie denn alle beide?«

P.S. Ich liebe Dich
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