Zweiundzwanzig

»Hilfe!«, brüllte Denise aus vollem Hals und fuchtelte wild mit den Armen.

»Ich glaube nicht, dass man uns hier hören kann«, sagte Holly voller Angst.

»Wie konnten wir nur so blöd sein?«, schimpfte Sharon und schloss eine Tirade über die Gefahren von Luftmatratzen auf dem offenen Meer an.

»Bitte sagt mir, das es hier keine Haie gibt«, wimmerte Denise.

»O Denise, bitte!«, fuhr Sharon sie an. »Das ist das Letzte, woran wir jetzt denken dürfen.«

Holly spähte ins Wasser. Das vorhin noch so klare blaue Wasser sah jetzt fast schwarz aus. Kurz entschlossen sprang sie von der Luftmatratze, um zu prüfen, wie tief es hier war. Aber sie kam nicht auf den Grund. Ihr Herz begann zu pochen.

Sharon und Holly versuchten noch einmal zu schwimmen, allerdings zogen sie diesmal die Luftmatratze hinter sich her. Denise stieß weiterhin schrille Hilferufe aus.

»Verdammt, Denise«, keuchte Sharon. »Auf dein Gekreische reagiert höchstens ein Delphin.«

»Und ihr könnt die Schwimmerei auch sein lassen. Ihr rudert jetzt schon ein paar Minuten hier rum und seid immer noch direkt neben mir.«

Holly legte eine Pause ein, blickte prüfend um sich und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Sharon, ich glaube, es bringt tatsächlich nichts.«

Auch Sharon gab auf. Sie konnten nichts tun, und das machte die Panik noch schlimmer. Allmählich wurde es auch noch kühl.

Holly wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, aber dann mischte sich beides in ihr und erzeugte ein höchst ungewöhnliches Geräusch. Schlagartig hörten Sharon und Denise zu weinen auf und starrten sie verwundert an.

»Na ja, ein Gutes hat die ganze Sache wenigstens«, lach-weinte Holly. »Wir wollten doch immer schon mal nach Afrika.«

Die beiden anderen blickten aufs Meer hinaus. »Und das noch mit einem spottbilligen Transportmittel«, stimmte Sharon ein. »Ich würde sagen, wir stecken echt in der Scheiße«, kicherte sie.

Eine Weile lachten und weinten sie durcheinander, bis auf einmal das Geräusch eines Motorboots an ihre Ohren drang. Sofort setzte Denise sich auf und winkte. Holly und Sharon lachten noch mehr, als sie sahen, wie Denise mit hüpfenden Brüsten in ihrem Leopardentanga in der Luft herumfuchtelte, während sich das Rettungsboot langsam näherte.

»Es ist genauso, als hätten wir mal wieder ordentlich gefeiert«, kicherte Sharon, als Denise von einem muskulösen jungen Mann aufs Boot gehievt wurde.

»Ich glaube, die stehen unter Schock«, meinte der eine Rettungsschwimmer zum anderen, während sie die beiden anderen ziemlich hysterischen jungen Frauen an Bord schafften.

Als sie ans Ufer kamen, sahen sie eine große Menschenmenge. Die drei Freundinnen tauschten schnelle Blicke und fingen wieder an zu lachen. Nacheinander wurden sie unter dem Beifall der Menge aus dem Boot gehoben; Denise stellte sich sogar vor die Zuschauer und knickste.

»Jetzt klatschen sie, aber wo waren sie, als wir sie gebraucht hätten?«, brummte Sharon.

»Verräter«, kicherte Holly.

»Da sind sie!«, vernahmen sie ein nur allzu bekanntes Quietschen, und dann sahen sie, wie sich Cindy und ihre Barbie-Brigade durch die Menge drängten. »O mein Gott! Alles in Ordnung mit euch?«, quietschte sie. »Ich hab die ganze Sache mit dem Fernglas verfolgt und das Rettungsboot alarmiert. Alles in Ordnung?«, wiederholte sie und sah aufgeregt von einer zur anderen.

»Ach, uns geht’s gut«, antwortete Sharon ernst. »Wir hatten Glück, nur die Luftmatratzen hatten leider keine reelle Chance.« Alles lachte schallend, dann wurden die drei zum Arzt gebracht, der sich vergewisserte, dass sie mit dem Schrecken davongekommen waren.


Gegen Abend wurde den drei Freundinnen die Gefahr, in der sie geschwebt hatten, erst richtig bewusst, und die Stimmung veränderte sich schlagartig. Schweigend saßen sie beim Essen, dachten daran, was alles hätte passieren können, und machten sich Vorwürfe, dass sie so leichtsinnig gewesen waren. Sie hatten wirklich Glück gehabt, dass Cindy sie beobachtet hatte, und bekamen ihr gegenüber doch ein bisschen ein schlechtes Gewissen.

Holly fragte sich, warum sie da draußen so komisch reagiert hatte. Als ihr klar geworden war, dass sie vielleicht bald bei Gerry sein würde, hatte sie fast so etwas wie freudige Erwartung gespürt. Jetzt machte es ihr doch ziemlich zu schaffen, dass es sie nicht weiter kümmerte, ob sie lebte oder starb.

»Hey, Holly«, flüsterte Sharon in ihre Grübelei. »Freust du dich auf morgen?«

»Was meinst du damit?«, fragte Holly.

»Es ist Zeit für den nächsten Brief!«, antwortete Sharon, überrascht, dass Holly sich nicht sofort daran erinnert hatte. »Sag bloß nicht, dass du das vergessen hast.«

In einer Stunde durfte sie Gerrys sechsten Brief öffnen. Natürlich hatte sie das nicht vergessen!


Am nächsten Morgen wachte Holly davon auf, dass Sharon sich in der Toilette übergab. Schnell ging sie zu ihr, rieb ihr sanft den Rükken und hielt ihr die Haare aus dem Gesicht.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt, als es vorbei zu sein schien.

»Ja, das sind bloß diese doofen Träume, die ich die ganze Nacht gehabt habe. Ich hab geträumt, ich wäre auf einem Boot und auf einer Luftmatratze und lauter solche Sachen. Ich glaube, ich war seekrank.«

»Ich hab auch lauter solche Sachen geträumt. Das war ziemlich gruslig gestern, stimmt’s?«

Sharon nickte. »Ich werde mich nie wieder auf eine Luftmatratze legen«, schwor sie mit einem matten Lächeln.

In diesem Moment erschien Denise in der Tür, schon im Bikini, und die Freundinnen zogen los zum Pool.

Holly konnte kaum glauben, dass sie gestern schon vor Mitternacht eingeschlafen war. Eigentlich hatte sie sich leise aus dem Bett schleichen wollen, ohne die anderen zu wecken, und dann in Ruhe auf dem Balkon den Brief lesen. Sie sagte den beiden anderen, dass sie eine Weile allein sein wollte, und sie nickten ihr aufmunternd zu, weil sie ja wussten, was Holly vorhatte.

Sie suchte sich ein stilles Plätzchen am Strand, weit weg von dem aufgeregten Geschrei der Kinder und den Kofferradios, und machte es sich auf ihrem Strandlaken bequem. Die Wellen schlugen an den Strand, Möwen kreischten am klaren blauen Himmel, schossen herunter und tauchten in das kühle, kristallklare Wasser, um sich ihr Frühstück zu schnappen. Schon jetzt am Vormittag schien die Sonne sehr warm.

Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, holte Holly den Brief aus ihrer Tasche und strich mit den Fingern über das ordentlich geschriebene Wort »August«. Sie nahm die Geräusche und Gerüche der Welt um sie herum in sich auf, löste vorsichtig die Umschlagklappe und las Gerrys sechste Botschaft.

Hi, Holly,

ich hoffe, Du hast einen wunderschönen Urlaub. Du siehst übrigens toll aus in Deinem Bikini. Hoffentlich habe ich den richtigen Ort ausgesucht – eigentlich wollten wir dort unsere Flitterwochen verbringen, erinnerst Du Dich? Ich bin froh, dass Du ihn jetzt endlich kennen lernst …

Wenn Du ganz ans Ende des Strands gehst, bei den Felsen gegenüber vom Hotel, und um die Ecke nach links schaust, müsstest Du angeblich einen Leuchtturm sehen. Man hat mir gesagt, dass sich dort die Delphine treffen. Das wissen aber nicht viele Leute. Ich weiß, dass Du Delphine liebst … sag ihnen viele Grüße von mir …

P.S. Ich liebe Dich, Holly.

Mit zitternden Händen steckte Holly die Karte wieder in den Umschlag zurück und verstaute ihn ordentlich in ihrer Tasche. Sie spürte Gerrys Augen auf sich ruhen, als sie ihr Strandlaken zusammenrollte. Ein Gefühl, als wäre er bei ihr. Rasch lief sie zum Ende des Strands und blieb an der Klippe stehen. Dann zog sie sich ihre Turnschuhe an und kletterte ein Stück, damit sie um die Ecke blicken konnte.

Und da war es, genau so, wie Gerry es beschrieben hatte.

Strahlend weiß stand der Leuchtturm hoch oben auf der Klippe, wie eine Fackel, die den Weg zum Himmel wies. Vorsichtig kletterte Holly weiter über die Felsen und arbeitete sich langsam durch die kleine Bucht. Jetzt war sie allein. Hier war keine Menschenseele. Und dann hörte sie Stimmen, die spielerischen Rufe der Delphine, die sich außer Sichtweite der Touristen ganz nahe an der Küste tummelten. Holly ließ sich in den Sand sinken, sah zu, wie sie spielten, und lauschte, wie sie miteinander sprachen.

Neben ihr saß Gerry.

Vielleicht hielt er sogar ihre Hand.


Für Holly war es eigentlich ganz in Ordnung, wieder nach Dublin zurückzukehren, denn sie fühlte sich entspannt und erholt und war schön braun geworden. Genau wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber das hinderte sie durchaus nicht daran zu stöhnen, als der Flieger bei strömendem Regen in Dublin landete. Diesmal klatschten die Passagiere keinen Beifall, und der Flughafen schien auf einer anderen Welt zu sein als der, den sie letzte Woche verlassen hatten. Wieder bekam sie als Letzte ihr Gepäck zurück, und eine Stunde später trotteten sie und ihre Freundinnen trübselig hinaus zu John, der im Wagen auf sie wartete.

Als John Holly vor ihrer Haustür absetzte, umarmte sie ihre Freundinnen und betrat dann ihr stilles, leeres Haus. Die Luft war abgestanden, und sie lief sofort in die Küche und hinaus auf die Terrasse, um frische Luft hereinzulassen.

Aber als sie den Schlüssel in der Terrassentür umdrehen wollte, erstarrte sie.

Ihr gesamter hinterer Garten war neu angelegt worden!

Das Gras war gemäht, das Unkraut verschwunden, die Gartenmöbel waren sauber geschrubbt und glänzend lackiert. Auch auf der Gartenmauer schimmerte eine neue Farbschicht. Überall prangten frische Blumen, und in einer Ecke, direkt im Schatten der großen Eiche, stand eine hübsche Holzbank. Holly blickte um sich. Wem in aller Welt hatte sie das zu verdanken?

P.S. Ich liebe Dich
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