Neunundzwanzig
Holly trommelte mit den Fingern auf ihren Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Diese Woche flutschte die Arbeit nur so. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ein Job dermaßen viel Spaß machen konnte. Sie hatte fast alle Mittagspausen durchgearbeitet, hatte Überstunden gemacht, und trotzdem war das Bedürfnis, die Welt zu ohrfeigen, bislang ausgeblieben. Na ja, sie war erst drei Wochen hier … Aber das Tollste war, dass sie sich unter ihren Kollegen ausgesprochen wohl fühlte. Alle arbeiteten mehr oder weniger vor sich hin; die Einzigen, mit denen sie näher Kontakt hatte, waren Dermot und Wayne vom Layout. Im Allgemeinen herrschte im Büro ein leicht ironischer Ton, alle duzten sich, und manchmal entspannen sich zwischen den einzelnen Räumen laute Wortgefechte, die aber immer freundlich und witzig blieben. Es gefiel Holly ausnehmend gut.
Sie liebte das Gefühl, zu einem Team zu gehören, das Gefühl, dass sie etwas tat, was für das fertige Produkt eine Rolle spielte. Alle Medien hingen von der Werbung ab, das hatte Chris mehr als einmal deutlich gemacht, und sie war für die Anzeigen zuständig.
Der Gedanke an Gerry war immer präsent. Jedes Mal, wenn sie erfolgreich eine Anzeigenstrecke ausgehandelt hatte, dankte sie ihm im Stillen, weil er sie dazu gebracht hatte, sich für diesen Job zu bewerben. Noch immer hatte sie schlechte Tage, an denen sie sich zu unwichtig vorkam, um überhaupt aufzustehen, aber der Spaß an ihrem Job scheuchte sie aus dem Bett und spornte sie an.
Jetzt hörte sie, wie in Chris’ Büro neben ihr das Radio anging, und sie lächelte. Zu jeder vollen Stunde hörte er Nachrichten, die sich unbewusst in Hollys Gedächtnis einprägten. So informiert hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie gefühlt.
»Hey!«, schrie sie und hämmerte gegen die Wand. »Stell das Ding leiser! Andere Leute müssen arbeiten!«
Sie hörte ihn kichern und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Ein freier Mitarbeiter hatte einen Artikel darüber eingereicht, wie er auf der Suche nach dem billigsten Pint Bier in Irland herumgereist war. Sehr amüsant. Unten auf der Seite war noch Platz, den es zu füllen galt. Als sie in ihrem Adressbuch blätterte, kam ihr eine Idee. Rasch griff sie zum Telefon und wählte.
»Hier Hogan’s.«
»Hallo, ich möchte bitte Daniel Connelly sprechen.«
»Einen Moment bitte.«
Wieder das elende »Greensleeves«, aber sie tanzte beim Warten trotzdem im Zimmer herum. Zufällig streckte in diesem Moment Chris den Kopf zur Tür herein, zog ihn aber schnell wieder zurück. Holly grinste.
»Hallo?«
»Daniel?«
»Ja?«
»Hi, hier ist Holly.«
»Oh, wie geht’s dir, Holly?«
»Mir geht’s großartig, danke. Und dir?«
»Könnte nicht besser sein.«
»Solche Klagen hört man gern.«
Er lachte. »Und was macht dein Superjob?«
»Na ja, eigentlich rufe ich dich deshalb an«, gestand Holly und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen.
»O nein!«, lachte er wieder. »Ich habe mir geschworen, dass ich nie wieder jemanden namens Kennedy einstelle.«
»Verdammt«, erwiderte Holly und kicherte, »jetzt hab ich mich schon so darauf gefreut, deinen Kunden ein paar Drinks über den Kopf zu schütten.«
»Was gibt’s denn?«, erkundigte er sich, wieder ernst werdend.
»Erinnere ich mich richtig, dass du mal gesagt hast, du müsstest mehr Werbung für den Club Diva machen?«
»Ja, daran erinnere ich mich auch.«
»Gut. Wie wäre es mit einer Anzeige im X-Magazin?«
»Ist das die Zeitschrift, bei der du jetzt arbeitest?«
»Nein, ich dachte bloß, es wäre eine interessante Frage, weiter nichts«, scherzte sie. »Natürlich arbeite ich hier!«
»Dann bist du ja direkt um die Ecke!«
»Stimmt genau.«
»Warum seh ich dich dann nie zum Lunch?«, neckte er sie. »Ist mein Pub etwa nicht mehr gut genug für dich?«
»Oh, hier essen mittags alle einfach was am Schreibtisch«, erklärte sie. »Was hältst du davon?«
»Ich finde das ziemlich blöd von euch allen.«
»Nein, ich meine, was hältst du von der Anzeige?«
»Ja, sicher, das ist eine gute Idee.«
»Okay, dann setze ich sie in die Novembernummer. Möchtest du sie monatlich drin haben?«
»Möchtest du mir vielleicht mitteilen, wie viel mich das kosten würde?«
Holly rechnete den Betrag rasch aus und nannte ihn ihm.
»Hmmm … «, meinte er nachdenklich. »Das muss ich mir erst mal durch den Kopf gehen lassen, aber im November möchte ich die Anzeige auf jeden Fall drin haben.«
»Wunderbar! Wenn das in Druck geht, bist du im Handumdrehen Millionär.«
»Hoffen wir das Beste«, lachte er. »Übrigens haben wir nächste Woche eine Releaseparty für ein neues Getränk. Soll ich deinen Namen auch auf die Gästeliste setzen?«
»Ja, das wäre toll. Was ist das für ein Getränk?«
»Es heißt Blue Rock. Irgend so ein neuer Alkohol-Limo-Mix, der angeblich ganz groß rauskommen wird. Schmeckt beschissen, aber man kriegt es den ganzen Abend umsonst, deshalb mach ich mit.«
»Gute Werbung«, kicherte Holly. »Wann steigt die Party denn?« Sie kramte ihren Kalender hervor und notierte sich den Termin. »Das ist prima, ich kann gleich nach der Arbeit rüberkommen.«
»In dem Fall solltest du nicht vergessen, deinen Bikini mit zur Arbeit zu nehmen.«
»Was soll ich nicht vergessen?«
»Deinen Bikini«, lachte Daniel. »Das Motto des Abends heißt ›Strandparty‹.«
»Aber es ist schon fast Winter!«
»Das war nicht meine Idee. Der Slogan lautet: ›Blue Rock, der neue heiße Drink für den Winter‹.«
»Wie kreativ«, meinte sie.
»Ja, nicht? Wir lassen überall auf den Fußboden Sand streuen, was beim Aufräumen wahrscheinlich der totale Albtraum wird, und unsere Barleute kommen in Bikinis und Strandsachen. Du, ich muss zurück an die Arbeit, es ist heute schwer was los hier.«
»Danke, Daniel. Denk drüber nach, wie deine Anzeige aussehen soll, und melde dich dann bei mir.«
»Mach ich.«
Holly legte auf und blieb eine Weile gedankenverloren sitzen. Schließlich stand sie auf und ging nach nebenan zu Chris.
»Fertig mit der Tanzerei?«, erkundigte er sich mit einem Schmunzeln.
»Ja, ich hab mir eine kleine Schrittfolge ausgedacht, die wollte ich dir jetzt zeigen«, scherzte sie.
Er lachte. »Hast du eine Frage?« Schnell schrieb er seinen Satz fertig und nahm die Brille ab.
»Keine Frage, nur eine Idee.«
»Setz dich doch.« Er nickte zu dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Gerade vier Wochen war es her, dass sie hier zum Vorstellungsgespräch gesessen hatte.
»Und wie lautet deine Idee?«
»Na ja, du kennst doch sicher Hogan’s, den Pub hier um die Ecke?«
Chris nickte.
»Der Besitzer ist ein Freund von mir, und er will eine Anzeige in die Zeitschrift setzen.«
»Das ist prima, aber ich hoffe, du erzählst mir nicht von jeder neuen Anzeige, sonst sitzen wir das ganze Jahr hier rum.«
»Nein, darum geht’s nicht, Chris. Er hat mir gesagt, dass er eine Releaseparty gibt, für ein neues Mixgetränk namens Blue Rock. Alles unter dem Motto ›Strandparty‹, mit Bikinis und so.«
»Mitten im Winter?« Chris zog misstrauisch die Augenbrauen hoch.
»Anscheinend soll es ›der neue heiße Drink für den Winter‹ sein.«
Chris verdrehte die Augen. »Wie kreativ.«
Holly lachte.
»Das habe ich auch gedacht. Aber inzwischen finde ich, es könnte sich trotzdem lohnen, darüber zu berichten. Ich weiß, wir sollen unsere Vorschläge bei den Meetings einbringen, aber das ist alles ziemlich kurzfristig.«
»Verstehe. Aber es ist eine gute Idee, Holly, und ich werde einen von den Jungs darauf ansetzen.«
Holly lächelte und stand auf. »Übrigens, hast du schon Ordnung in deinen Garten gebracht?«
»Ich hab schon ungefähr zehn Leute kommen lassen«, antwortete Chris resigniert. »Aber die meinten, unter sechstausend Euro tut sich da nichts.«
»Sechstausend! Das ist eine Menge Geld.«
»Na ja, der Garten ist riesig, das ist schon ein Argument. Es wird eine Menge Arbeit.«
»Was war das billigste Angebot?«
»Fünfeinhalbtausend. Warum?«
»Weil mein Bruder es dir garantiert für fünftausend machen würde«, platzte Holly heraus.
»Fünftausend?« Chris wurde hellhörig. »Das wäre nicht schlecht. Ist er denn gut?«
»Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, dass mein Garten schon ausgesehen hat wie der reinste Dschungel?«
Er nickte.
»Na ja, zurzeit ist er alles andere als ein Dschungel. Mein Bruder hat ihn ganz toll hingekriegt, aber er arbeitet allein, deshalb könnte es eine Weile dauern.«
»Für diesen Preis ist es mir vollkommen gleichgültig, wie lange er braucht. Hast du seine Visitenkarte?«
»Äh … warte, ich hole sie gleich.« Auf dem Weg in ihr Büro stibitzte sie ein Stück Fotokarton von Alices Schreibtisch, gab Richards Namen und seine Handynummer in den Computer ein und druckte alles auf der Pappe aus. Dann schnitt sie ein ordentliches Rechteck aus, und das Ergebnis konnte durchaus als Visitenkarte durchgehen.
»Wundervoll«, sagte Chris, als sie ihm ihr Machwerk überreichte. »Ich rufe ihn am besten gleich an.«
»Nein, nein«, ging Holly hastig dazwischen. »Heute ist es ungünstig, er hat furchtbar viel zu tun. Morgen erreichst du ihn besser.«
»In Ordnung. Danke, Holly.« Sie war schon unterwegs zur Tür und blieb stehen, als er ihr nachrief: »Übrigens, wie sieht es bei dir eigentlich mit dem Schreiben aus?«
»Na ja, in der Schule hab ich’s mal gelernt.«
Chris lachte. »Und auf diesem Niveau bist du geblieben?«
»Ich denke, ich könnte mir wahrscheinlich ein Wörterbuch besorgen.«
»Gut. Ich brauche dich nämlich für den Bericht über diese Pubgeschichte am Dienstag.«
»Wie bitte?«
»Von den anderen kann es keiner so kurzfristig einrichten, und weil ich es selbst auch nicht schaffe, bin ich auf dich angewiesen.« Er wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch. »Ich schicke dir einen Fotografen mit, der soll ein paar Aufnahmen vom Sand und von den Bikinis machen.«
»Oh … okay«, antwortete Holly mit wild pochendem Herzen.
»Wie wäre es mit achthundert Worten?«
Unmöglich, dachte sie, denn soweit sie wusste, umfasste ihr Wortschatz höchstens fünfzig.
»Kein Problem«, antwortete sie gespielt zuversichtlich und verließ hastig sein Büro.
Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte sie draußen. Wie in aller Welt sollte sie das hinkriegen?
Sie griff zum Telefon und drückte auf Wahlwiederholung.
»Hier Hogan’s.«
»Ich möchte bitte Daniel Connelly sprechen.«
»Einen Moment bitte.«
»Legen Sie mich bloß nicht auf die …!«
Das Gedudel von »Greensleeves« unterbrach sie.
»Hallo?«
»Daniel, ich bin’s noch mal«, sagte sie.
»Lässt du mich denn nie in Frieden?«, neckte er sie.
»Nein, ich brauche Hilfe.«
»Das weiß ich, aber dafür bin ich nicht der Richtige«, lachte er.
»Nein, im Ernst. Ich hab meinem Chef von deiner Veranstaltung erzählt, und jetzt will er, dass ich darüber berichte.«
»Das ist doch toll!«
»Nein, das ist überhaupt nicht toll. Ich kann doch überhaupt nicht schreiben«, protestierte sie fast panisch.
»Ach wirklich? In meiner Grundschule war das eins von den Hauptfächern.«
»Ach Daniel, sei doch mal einen Moment ernst, bitte … «
»Okay, was soll ich tun?«
»Du musst mir alles erzählen, was du über dieses komische Getränk und über die Veranstaltung weißt, damit ich heute schon mit dem Text anfangen kann und ein paar Tage Zeit zum Überarbeiten habe.«
»Ja, komme gleich, Sir!«, rief er vom Telefon weg. »Hör mal, Holly, ich muss wirklich zurück an die Arbeit.«
»Bitte«, wimmerte sie.
»Na gut, wann hast du Feierabend?«
»Um sechs«, antwortete sie und drückte sich selbst die Daumen, dass er Zeit für sie hatte.
»Dann komm doch einfach um sechs hierher, und wir gehen zusammen was essen. Ich kenne da ein echt nettes Lokal. Einverstanden?«
»O danke, Daniel, vielen Dank!« Vor lauter Freude hüpfte sie in ihrem Büro herum. »Du bist echt ein Schatz!«
Mit einem Seufzer der Erleichterung legte sie auf. Doch als sie sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen ließ, erstarrte sie plötzlich.
Daniel wollte mit ihr in ein ›echt nettes Lokal‹ gehen? Zum Essen, und nicht wie gewohnt nur auf einen Drink?
Hatte sie sich etwa gerade mit Daniel zu einem Date verabredet?