5
Spät am Morgen konnte Magiere den ersten Blick auf Miiska werfen, und dabei fühlte sie sich von Ungewissheit erfasst. Sie hatte alles darauf gesetzt, in diesem Hafenstädtchen Frieden zu finden, aber Träume am Lagerfeuer waren oft weit von der Realität entfernt.
Leesil gab sich unbesorgt. »Endlich«, sagte er, ging schneller und übernahm die Führung. »Komm.«
Wie er hatte sie die saubere, salzige Luft gern, doch im Gegensatz zu ihm konnte sie nicht offen über solche Dinge reden. Seine Angewohnheit, Gedanken einfach laut auszusprechen, verwirrte sie oft, aber jetzt zog sie am Zaumzeug des Esels und beeilte sich, ihm zu folgen. Sie freute sich über Leesils Neugier. Vielleicht wurde es dadurch leichter.
Chap lag nicht mehr auf dem Karren, sondern trottete neben Leesil, den Kopf so hoch erhoben, als wüsste er genau, wohin sie unterwegs waren. Er wirkte wie ein Hund, der nach einem Morgenlauf nach Hause zurückkehrte. Nachdem sie jahrelang versucht hatten, ihren Rollen im »Jäger der Untoten«-Spiel gerecht zu werden, dachte Magiere daran, wie seltsam ihr Trio auf Beobachter wirken musste. Was würden die Bewohner der Stadt von ihnen halten?
»Ich wünschte, wir hätten uns und unsere Sachen waschen können«, sagte sie.
»Du siehst gut aus«, erwiderte Leesil, was absurd klang. In seinem zerrissenen, zu großen Hemd und der schmutzigen Kniehose verzichtete er auch auf ein Kopftuch, und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Haar zusammenzubinden, damit die Seiten eines Pferdeschwanzes den oberen Teil der Ohren bedeckten. Dies sollte ihre neue Heimat werden; vielleicht sah er deshalb keinen Grund mehr, sich zu tarnen.
Sie kamen der Stadt schnell näher, und schließlich hatte Magiere das Gefühl, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und Miiskas Domäne zu betreten.
Es herrschte rege Betriebsamkeit auf der Hauptstraße, die zu einem Marktplatz am Ende der Stadt führte. Es roch nach warmer Milch, Pferdedung, Schweiß und vor allem Fisch, als sie an den ersten Verkaufsständen und Zelten vorbeikamen. Ein Kerzenmacher gab Farbe in einen Topf mit geschmolzenem Wachs. In seiner Nähe leerte ein Tuchhändler einen Karren und hängte Stoffe auf, deren bunte Muster selbst bei einem Harlekin Schreikrämpfe ausgelöst hätten. Hinter den Gebäuden, vom Hafen her, schrillte eine Pfeife, und ein Aufseher wies Arbeiter an, ein gerade eingelaufenes Schiff zu entladen. Fischverkäufer priesen ihre Waren an – frisch gefangen, getrocknet oder geräuchert – und versuchten, sich gegenseitig zu übertönen. Dies war kein abgelegenes Dorf, in dem abergläubische Bauern wohnten, sondern eine blühende Gemeinde.
»Nicht übel.« Leesil lächelte und beobachtete einen Karren, der an ihnen vorbeischaukelte und auf ein kleines Lagerhaus zurollte. Beladen war er mit hölzernen Weinfässern. »Ich könnte mich daran gewöhnen.«
Sie kamen an einer kleinen Taverne auf der rechten Seite vorbei, wo eine kräftig gebaute Frau den Schmutz des vergangenen Abends aus der Tür fegte. Ihre Lage wies Magiere darauf hin, dass dies nicht die Taverne war, die sie gekauft hatte. Aber sie zögerte kurz und fragte sich, ob sie Leesil zurückhalten musste, damit er nicht durch die offene Tür schlüpfte.
Trotz der allgemeinen Aktivität drehten sich die Leute nach ihnen um. Magiere ging mit geradem Rücken und gleichmäßigen Schritten. In einer Hafenstadt waren Neuankömmlinge keine Seltenheit. Doch nur ein oder zwei andere Personen trugen ganz offen Waffen, und sie bedauerte, ihr Falchion nicht auf dem Karren verstaut zu haben.
Der Duft von frischem Brot stieg ihr in die Nase, und ihr Blick wanderte umher, bis sie wusste, woher er kam. Sie ging zu einem Tisch vor einem kleinen Haus. Durch ein offenes Fenster sah sie Lehmöfen und begriff, dass es sich um eine Bäckerei handelte.
»Ein Laib Landbrot und ein Laib Roggenbrot«, wandte sie sich an einen kahl werdenden, dicklichen Mann, der eine Schürze trug.
Der Mann zögerte, und Magiere dachte daran, wie sie mit ihrer Lederkleidung und dem Schwert aussehen musste. Es folgte ein Moment peinlicher Stille.
»Hast du Sahnerollen?« Leesil trat lächelnd zum Tisch und sah sich alles an. »Ich bin hungrig genug, deine ganze Produktion aufzuessen.«
Die Augen des Mannes wurden ein wenig größer, als er die gewölbten Brauen und länglichen Ohren sah, aber Leesils Lächeln erwies sich als ansteckend. Wenn er wollte, konnte Leesil den Eindruck erwecken, dass es weit und breit kein unbekümmerteres und harmloseres Geschöpf gab als ihn. Magiere wusste es besser. Aber sie wusste auch, wann sie Leesils Einfluss auf andere Leute nicht stören sollte.
»Drinnen habe ich Sahnetörtchen«, sagte der Mann.
»Sahnetörtchen?«, entfuhr es Leesil. Er schnappte nach Luft. »Hol mir drei, bevor ich tot vor dir zu Boden sinke!«
Der Bäcker lächelte über Leesils Theatralik und ging mit einem leisen Lachen ins Haus.
»Ohne mich wärst du aufgeschmissen«, flüsterte Leesil seiner Partnerin zu. Er schien sehr mit sich zufrieden zu sein.
»Glaub das nur«, erwiderte Magiere leise, war insgeheim aber erleichtert.
Als der Bäcker zurückkehrte, machte Leesil ausreichend Wirbel um die Törtchen und warf dann eins von ihnen Chap zu, der es in einem Stück verschlang. Als Leesil die Empörung im Gesicht des Bäckers sah, bemerkte er seinen Fehler und winkte freundlich.
»Oh, er gehört zur Familie. Er liebt Sahne, und …«, Leesil zwinkerte dem Bäcker verschwörerisch zu, »… ich gebe ihm nur das Beste. Weißt du vielleicht, wo wir Konstabler Ellinwood finden können, den Amtmann der Stadt?«
»Konstabler Ellinwood?«, wiederholte der Bäcker und wischte sich sorgenvoll die Hände an der Schürze ab. »Gibt es irgendwelche Probleme?«
»Probleme?«, fragte Leesil und ließ es überrascht klingen. »Nein. Wir haben eine Taverne hier in der Stadt gekauft, unten am Hafen. Wir möchten die Urkunde präsentieren und unseren Besitz in Augenschein nehmen.«
»Eine Taverne … am Hafen? Oh, ihr habt das alte Dunction-Lokal gekauft. Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Der dickliche Bäcker wandte sich an einen glattgesichtigen Jungen, der in einer Ecke der Bäckerei Holz hackte. »Geoffry, lauf los und hol den Konstabler. Um diese Zeit dürfte er bei Martha zu Mittag essen. Sag ihm, die beiden Leute, die das Dunction-Lokal gekauft haben, sind hier.« Er sah wieder Leesil an. »Kommt, kommt«, sagte er und winkte mit einer großen Hand. »Ich bin Karlin. Dort drüben habe ich einige Tische, an denen ihr in aller Ruhe die Törtchen essen könnt. Der Konstabler wird gleich hier sein.«
Mit einer Mischung aus Verlegenheit und Erleichterung darüber, wie gut Leesil zurechtkam, folgte Magiere ihm und dem Bäcker. Sie hätte sich die Taverne lieber erst angesehen und anschließend die formellen Angelegenheiten erledigt, aber es schien alles glattzulaufen. Außerdem hatte sie angesichts des Brotes bemerkt, wie hungrig sie wahr. Wenige Momente später saß sie mit Leesil am Tisch, brach Stücke vom Roggenbrot ab, tunkte sie in einen Napf mit Honig, den der Bäcker gebracht hatte, und wartete darauf, dass der Konstabler zu ihr kam. Ein Teil der Sorge fiel von ihr ab, denn hier waren sie abseits der Hauptstraße und nicht mehr so vielen neugierigen Blicken ausgesetzt.
»Ich glaube nicht, dass viele Fremde über die Straße nach Miiska kommen«, sagte Magiere.
Leesil nickte. »Du hättest das Falchion beiseitelegen sollen.«
Sie sah ihn an, gab aber keine Antwort. Wahrscheinlich war er bis an die Zähne bewaffnet, mit vielen kleinen Messern, die sich leicht in der Kleidung verstecken ließen.
Trotz ihrer Nervosität mochte Magiere diese quirlige Aktivität hier. Im Leben dieser Leute schien es mehr zu geben als nur abergläubische Furcht. Sie gingen Geschäften nach, umgeben von Familienangehörigen und Freunden, die sich gegenseitig nicht misstrauisch im Auge behielten und darauf warteten, dass sich irgendein böser Fluch manifestierte. Dies würden ihre Kunden sein, und sie war entschlossen, sie nicht zu verachten.
Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, als der junge Geoffry, der Sohn des Bäckers, zurückkehrte, gefolgt von einem Koloss von Mann, der zwischen den Stadtbewohnern einherstolzierte, als wäre jeder Einzelne von ihnen sein persönlicher Diener. Als Magiere ihn sah, war sie sofort voller Abscheu und ließ das Stück Brot sinken, das sie gerade in den Honig hatte tunken wollen. Sie kannte solche Leute.
Der Mann trug einen violetten Brokatumhang, eine waldgrüne Schärpe und einen ebenfalls violetten Hut, mit einer weißen Feder geschmückt. Vermutlich kostete seine Kleidung so viel, wie Magiere in drei Dörfern verdient hatte, doch die Schärpe gab ihm nicht etwa ein distinguiertes Erscheinungsbild, sondern betonte nur die Größe des Bauchs. Er sah aus wie eine Weintraube, die zu lange an ihrer Rebe gereift war. Seine Miene zeigte die typische Strenge von Leuten, die ihre Stellung – aber nicht ihre Pflichten – zu ernst nahmen. Das musste Konstabler Ellinwood sein.
Karlin der Bäcker führte den Konstabler respektvoll zu ihrem Tisch, und Magieres Abscheu wuchs. Konstabler Ellinwoods fleischiges Gesicht und seine kleinen, schweineartigen Augen wiesen darauf hin, dass er glaubte, kostenloses Bier und das Schröpfen der Stadtbewohner bei jeder Gelegenheit gehörten zu seinen verbrieften Rechten. Beamte wie er verdienten nicht gerade ein Vermögen, soweit Magiere wusste, und sie bezweifelte, dass er den teuren Brokatumhang von seinem eigenen Gehalt bezahlt hatte.
Tief in ihrem Innern war ihr die Scheinheiligkeit ihrer Verachtung klar. Leesil und sie hatten in den vergangenen Jahren wahrscheinlich Schlimmeres angestellt, aber wenigstens hatten sie sich immer nur ein Dorf vorgenommen und waren dann weitergezogen. Sie blieben nicht, um den Dorfbewohnern die ganze Zeit über auf der Tasche zu liegen.
Karlin schien sich über die Präsenz des Konstablers zu freuen und stellte sie einander vor.
»Das sind die Leute«, sagte er, und Magiere bemerkte, wie gesund die Hautfarbe des Bäckers neben Ellinwoods käsigem, aufgeschwemmtem Gesicht wirkte.
»Ihr habt das Dunction-Lokal gekauft?«, fragte Ellinwood und sah dabei Leesil an.
»Ich weiß nicht, wem die Taverne vorher gehörte«, warf Magiere ein. »Aber ich habe hier eine Eigentumsurkunde.« Sie entfaltete ein abgegriffenes Blatt Papier.
Leesil lehnte sich zurück und war durchaus zufrieden mit dem Rollentausch. Es gab ihm Gelegenheit, Sahnetörtchen zu essen und ab und zu einen Schluck aus dem Weinschlauch zu nehmen. Konstabler Ellinwood richtete seine Aufmerksamkeit auf Magiere und nahm die Urkunde entgegen. Zwei große goldene Ringe steckten an seinen Wurstfingern.
»Ich zeige euch die Taverne«, sagte er, nachdem er das Dokument flüchtig gelesen hatte. »Aber ich kann nur kurz bleiben.« Selbst seine Stimme klang dick und schwerfällig. Er schnaufte wichtigtuerisch. »Heute Morgen hat man ein Mädchen tot aufgefunden, und ich beginne mit Ermittlungen.«
»Wer ist es?«, fragte Karlin erschrocken.
»Die junge Eliza, Brendens Schwester. Sie lag im Garten am Zaun.«
»Oh nein, nicht schon wieder …«, ächzte Karlin und sah zu Leesil und Magiere.
»Nicht schon wieder was?«, fragte Magiere. Ihre Worte galten nicht Karlin, sondern dem Konstabler.
»Nichts, um das ihr euch Sorgen machen müsstet«, sagte Ellinwood und schnaufte erneut. »Folgt mir, wenn ihr jetzt die Taverne sehen wollt.«
Magiere verzichtete auf weitere Kommentare. Wenn Ellinwood wirklich glaubte, dass der Tod des Mädchens sie nichts anging, so hätte er wohl kaum so deutlich darauf hingewiesen. Und Karlin kannte das Opfer, was aber nicht weiter überraschte. Miiska war eine Stadt, doch nicht so groß, dass die Bewohner sich nicht kannten, zumindest flüchtig. Magieres Abscheu dem Konstabler gegenüber verwandelte sich in Ekel.
Unten am Hafen wurde der salzige Geruch des Meeres noch intensiver, und Magiere atmete ihn tief ein. Der sich bis zum Horizont erstreckende Ozean bot einen wundervollen Anblick. Eine kleine bewaldete Halbinsel ragte südlich der Stadt ins Meer, und im Norden beschrieb die Küstenlinie einen Bogen. Die dunkelblaue Farbe des Wassers in der kleinen Bucht wies darauf hin, dass es sehr tief war – eine sichere Zwischenstation für Frachtkähne und kleinere Schiffe, die an der Küste unterwegs waren.
Die Taverne entsprach nicht unbedingt dem, was sich Magiere erhofft hatte. Als sie das andere Ende der Stadt erreichten, fanden sie dort, wo die Halbinsel begann, ein kleines, zweistöckiges Gebäudes an der Baumgrenze.
Es war schmutzig, verwittert und brauchte vermutlich ein neues Dach. Der Anblick ließ Magiere zögern. Die Außenwände sahen alt aus und waren seit Jahren nicht gestrichen worden, hatten in der salzigen Luft ein fleckiges Braun und Grau angenommen. Wenigstens waren die Fensterläden noch intakt. Einer von ihnen schlug in der sanften Brise leicht gegen ein Fenster. Leesil trat vor und berührte das Holz neben dem Eingang.
»Fest und massiv«, sagte er aufgeregt. »Wundervoll. Ein bisschen Farbe, einige neue Schindeln …«
»Wie hat der frühere Inhaber die Taverne genannt?«, wandte sich Magiere an Ellinwood.
»Ich glaube, er hat ihr gar keinen Namen gegeben. Die Leute sprachen immer nur von Dunctions Lokal.«
»Warum hat er es verkauft?«
Der Konstabler spitzte die Lippen. »Verkauft? Er hat die Taverne nicht verkauft. Eines Nachts lief er einfach fort. Machte sich klammheimlich aus dem Staub. Ich nehme an, sie gehörte ihm nicht ganz, denn ich bekam eine offizielle Mitteilung von einer Bank in Bela, dass die Taverne ihr Besitz wäre. Es hatte alles seine Ordnung.«
»Der Eigentümer lief fort?«, fragte Magiere. »Gingen die Geschäfte so schlecht?«
»Nein, das Lokal war jeden Abend rammelvoll. Die Hafenarbeiter und Kahnführer vermissen es sehr. Und ich ebenfalls, um ganz ehrlich zu sein.« Der Konstabler klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür, bevor er öffnete. »Caleb?«, rief er. »Bist du zu Hause? Die neuen Eigentümer sind da.«
Ellinwood wartete keine Antwort ab und trat ein, gefolgt von Magiere und Leesil. Chap sprang rasch über die Schwelle, bevor sich die Tür wieder schloss. Eine angenehme Überraschung erwartete Magiere: Das Innere der Taverne wirkte weitaus gepflegter als ihr Äußeres. Der Holzboden war zwar abgenutzt, aber gefegt und sauber. Rechts im Hauptbereich standen stabil wirkende Tische so, dass möglichst viele Gäste an ihnen Platz fanden und sich das Personal zwischen ihnen bewegen konnte, um Krüge und Flaschen zu verteilen. Ein steinerner Kamin, groß genug, um darin zu hocken, dominierte das Ende des Raums hinter den Tischen, bot Wärme und ein Willkommen.
Auf der linken Seite erstreckte sich eine lange Theke aus Eichenholz, dunkel und glänzend von vielen Jahren der Reinigung und den Händen der Gäste, die dort ihren Abend verbracht hatten. An ihrem Ende bemerkte Magiere eine verhängte Tür, vermutlich der Zugang zur Küche oder einem Lagerraum. Daneben führte eine Treppe zur Wohnung im Obergeschoss.
Im Großen und Ganzen war das Innere der Taverne viel besser, als Magiere es sich erhofft hatte. Angesichts des geringen Preises hatte sie sich an manchen Abenden gefragt, was sie erwarten durfte. Und aus irgendeinem Grund, den sie nicht erklären konnte, war der Kamin wichtiger als alles andere. Mit ihm schien alles in Ordnung zu sein.
»Dies ist perfekt«, sagte Leesil so, als könnte er es kaum glauben. Er ging an Magiere vorbei, drehte sich staunend und strich mit der schlanken Hand über einen Tisch, als er durch den Raum zum Kamin schritt, dem noch immer Magieres Blick galt. »Ich richte den Pharo-Tisch am vorderen Fenster ein, neben dem Feuer. Vielleicht müssen wir ein oder zwei Tische opfern, um genug Platz zu schaffen.«
Magiere hörte Schritte und drehte sich um. Ein alter, gebeugter Mann, eine alte Frau und ein fünf oder sechs Jahre altes blondes Mädchen kamen die Treppe herunter.
»Oh, da bist du ja, Caleb«, sagte Ellinwood. Er rieb sich die Hände und schien zu dem Schluss zu gelangen, alles erledigt zu haben. »Dies sind die neuen Eigentümer. Ich muss zurück an die Arbeit.«
Er wünschte Magiere einen guten Tag, schenkte Leesil keine Beachtung und ging.
Magiere richtete den Blick wieder auf das alte Paar und das Kind. Der Mann war einen Kopf größer als die Frau und hatte glattes, aschgraues Haar, im Nacken zusammengebunden. Sein Gesicht war runzlig und zerfurcht, zeigte einen neutralen Ausdruck. Die braunen Augen blickten wach. Er trug ein einfaches Musselinhemd, in der gleichen Farbe wie der hellbraune Rock seiner Frau und ebenso sauber wie der sorgfältig gefegte Boden. Die Alte war winzig wie ein Spatz, und ihr Haar bildete einen Knoten.
»Wir sind die Verwalter«, sagte Caleb, als er Magieres Erstaunen sah. »Dies sind meine Frau Beth-rae und unsere Enkelin Rose.«
Chap trottete zur alten Frau, die das Mädchen zur Seite zog. Der Hund richtete die Ohren auf, als er die kleine Rose ansah, und er schnüffelte ein wenig, bis das Kind zögernd die Hand ausstreckte.
Normalerweise ließ sich Chap nur von Leesil streicheln, und Magiere spannte die Muskeln, dazu bereit, den Hund am Nacken zu packen und zurückzuziehen, wenn er knurrte. Aber Chap leckte die kleinen Finger, und das Mädchen kicherte, als er mit dem Schwanz wedelte. Magiere fühlte sich von Wohlwollen den beiden Alten und dem Kind gegenüber erfasst – es spülte den schlechten Geschmack fort, den Ellinwood hinterlassen hatte.
»Oh, sieh nur, Caleb.« Beth-rae strich eine graue Haarsträhne zurück, die sich aus dem Knoten gelöst hatte. »Sie haben einen Hund. Ist das nicht schön?« Sie beugte sich vor und kraulte Chap hinterm Ohr. Der Hund winselte voller Wohlbehagen und drückte seinen großen Kopf an ihre Seite.
»Er ist sehr lieb, kann aber auch wild sein, wie ich sehe«, sagte Beth-rae. »Er kann uns gute Dienste leisten, indem er Wache hält.«
Die kleine Rose klopfte mit beiden Händen auf Chaps Rücken und lachte.
»Er heißt Chap«, sagte Leesil und schien sich ebenso wie Magiere über die ungewöhnliche Freundlichkeit des Hunds Fremden gegenüber zu wundern.
»Komm in die Küche, Chap«, sagte Beth-rae. »Dort habe ich kaltes Lammfleisch für dich. Aber gewöhn dich nicht zu sehr daran. Meistens kommt bei uns Fisch auf den Tisch.«
Als Beth-rae, Rose und Chap den Raum verließen, richtete Magiere einen fragenden Blick auf Caleb.
»Wir sind die Verwalter«, wiederholte er. »Als Dunction verschwand, hat der Konstabler die Bank in Bela angewiesen, uns bis zum Verkauf der Taverne hier wohnen zu lassen.«
Magiere fragte sich, was genau Caleb mit »verschwand« meinte, richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf ein neues Dilemma.
»Wohnt ihr alle drei hier?«
Leesil näherte sich. »Natürlich wohnen alle drei hier. Wer hat sich wohl ums Haus gekümmert?«
Magiere verschränkte die Arme und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Eine Taverne zu übernehmen, war eine Sache, die Ernährung einer aus drei Personen bestehenden Familie, die sie gerade kennengelernt hatte, eine ganz andere. Offenbar wusste Leesil ihren Gesichtsausdruck zu deuten, denn er sprach, bevor sie einen Ton von sich geben konnte.
»Wir brauchen ohnehin Hilfe«, sagte er. »Wenn du hinter der Theke stehst und ich mich um den Kartentisch kümmere, wer übernimmt dann das Kochen, Servieren und Saubermachen?«
Ein guter Hinweis. Magiere hatte kaum an Speisen gedacht, aber die meisten Gäste, die auf ein Bier kamen, wollten wahrscheinlich auch etwas essen.
»Was hat Dunction angeboten?«, fragte sie Caleb.
»Einfache Kost. Als die Taverne noch geöffnet war, hat Beth-rae den ganzen Morgen Brot gebacken und dann verschiedene Arten von Eintopf und Fischgerichten zubereitet. Sie kann gut mit Kräutern und Gewürzen umgehen.« Caleb zögerte. »Kommt mit nach oben. Ich zeige euch die Wohnung.
Zwar blieb sein Tonfall ruhig, aber Magiere spürte Anspannung in dem Alten, als ginge hier mehr vor, als er preisgab.
»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte sie und folgte ihm die Treppe hoch.
»Seit neun Jahren«, sagte Caleb. »Rose ist bei uns, seit meine Tochter … uns verließ.«
»Euch verließ?«, fragte Leesil. Dann murmelte er: »Offenbar gibt es immer wieder Leute, die diesen Ort verlassen.«
Caleb antwortete nicht, und Magiere schwieg ebenfalls. Die Angelegenheiten des Alten gingen sie nichts an.
Im oberen Stockwerk war es ebenso sauber wie im Erdgeschoss. Der Treppe folgte ein kurzer, schmaler Flur. Caleb zeigte Magiere zuerst ein großes Schlafzimmer am linken Ende des Flurs, über dem Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss gelegen, und nannte es ihr Zimmer. Für Leesil gab es einen Raum, der an den mittleren Teil des Flurs grenzte, der Treppe gegenüber. Ein drittes Zimmer befand sich am rechten Ende des Flurs und hatte vermutlich als eine Art Abstellkammer gedient. Ein durchhängendes Bett mit zwei Kopfkissen stand in einer Ecke, und eine kleine Fußmatte lag davor.
»Wir wohnen hier«, sagte Caleb. »Wir brauchen nicht viel Platz.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag seufzte Magiere resigniert. Leesil hatte recht; sie konnten sich nicht selbst um alles kümmern. Sie hatte keine Ahnung, wie man irgendwelche Fischgerichte zubereitete, und wenn sie lernen wollte, eine Taverne zu führen, konnte sie keine Zeit mit dem Reinigen des Kamins und dergleichen vergeuden.
»Welche Vereinbarung habt ihr mit der Bank getroffen?«, fragte Magiere.
»Vereinbarung?«, wiederholte Caleb verwundert.
»Was zahlt euch die Bank?«
»Was sie uns zahlt? Wir wohnen einfach nur hier, halten das Haus in Ordnung und haben darauf geachtet, vor dem Eintreffen der neuen Eigentümer nicht alle Vorräte aufzubrauchen.«
Magiere wusste nicht, wen sie in diesem Moment mehr verachtete, die sehr Armen oder die sehr Reichen. Die Bank hatte Verwalter bekommen, die nichts kosteten. Sie hatte die Situation von zwei alten Leuten ausgenutzt, die plötzlich ohne Arbeitgeber dastanden.
»Na schön«, sagte sie zu Caleb. »Ihr arbeitet für mich und bekommt ein Zwanzigstel des Gewinns, plus Unterkunft und Verpflegung.« Sie wandte sich von dem kleinen Zimmer ab und ging an Leesil vorbei durch den Flur. An der Treppe blieb sie stehen und sah zurück. »Das große Schlafzimmer brauche ich nicht. Heute Nachmittag tauschen wir die Räume.«
Leesil sah sie groß an, wandte sich dann an Caleb und zuckte mit den Schultern. Ein Hauch von Erstaunen huschte durch das Gesicht des Alten, doch er nickte, als wäre ein solches Angebot völlig normal.
»In Ordnung«, sagte er ruhig, ging durch den Flur und die Treppe hinunter. Vermutlich wollte er seiner Frau von der bevorstehenden Veränderung erzählen.
Magiere trat in die Tür von Leesils Zimmer und lehnte sich an den Türpfosten. Leesil kam näher, blieb neben ihr stehen und gab vor, dass sein Interesse dem fast leeren Raum galt. Es gab kaum etwas zu sehen außer einem Bett und dem Fenster in der gegenüberliegenden Wand, durch das man den Ozean sehen konnte. Einige Zweige der nahen Tanne störten den Ausblick ein wenig.
Magiere hoffte, dass Leesil still blieb.
»Wie ungewöhnlich«, sagte er nach einer Weile.
»Du hättest Einspruch erheben können, wenn du etwas dagegen hast.«
»Ich habe nichts dagegen.«
Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Mit ihrem »Spiel« hatten sie ganze Dörfer in Armut gestürzt, und jetzt zeigte sich Magiere plötzlich großzügig. »Ich möchte ein neues Leben beginnen«, sagte sie schließlich.
Leesil musterte sie aus dem Augenwinkel. Er nickte und lächelte.
»Ich schätze, es ist ein Anfang.«
Als an jenem Tag die Sonne unterging, hatten sich Magieres Erscheinungsbild und ihre Welt sehr verändert. Beth-rae bereitete in der Küche ein heißes Bad für sie vor, damit sie sich ordentlich abschrubben und den Schmutz von Haut und Haar entfernen konnte. Während sie sich wusch, verschwand ihre Kleidung, und wo sie eben noch gelegen hatte, fand Magiere einen Bademantel aus Musselin. Sie hatte an diesem Abend noch zu viel vor, um etwas anzubehalten, das sie fast für ein Nachthemd hielt, und deshalb ging sie nach oben in ihr kleines Zimmer. Was zuvor für drei Personen eine kleine Kammer gewesen war, reichte sicher für eine.
Die Möbel waren vom einen Zimmer ins andere gebracht worden, und Magiere sah sich von den Annehmlichkeiten eines neuen Zuhause umgeben. Wo ein Bett gestanden hatte, das zwei Personen kaum genug Platz bot, sah sie jetzt ein Einzelbett mit vier Pfosten und verblassten meergrünen Vorhängen. Der frühere Inhaber schien ledig gewesen zu sein oder zumindest allein geschlafen zu haben. Eine dicke Daunendecke lag auf dem Bett und darauf Magieres Rucksack, ihr Messer und das Falchion.
Hitze vom Feuer in der Küche stieg durch den steinernen Rauchabzug in der Ecke auf und half dabei, das Zimmer zu heizen. Doch der Holzboden unter ihren bloßen Füßen fühlte sich recht kalt an. Dem Bett gegenüber an der Wand stand ein Kleiderschrank aus dunklem Holz, davor ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch brannten zwei dicke weiße Kerzen. Magiere öffnete den Rucksack, um ihre Sachen im Schrank zu verstauen.
Sie zog ein segeltuchumhülltes Bündel ganz unten aus dem Rucksack. Jahrelang hatte es dort unten gelegen und in dieser Zeit viele Falten bekommen. Das Bündel war verschnürt und so lange nicht geöffnet worden, dass sich die Knoten nicht lösen ließen. Magiere musste die Schnüre mit dem Messer durchschneiden. Es enthielt ein dunkelblaues Brokatkleid mit schwarzem Schnürleib. Tante Bieja hatte ihr das Kleid vor Jahren geschenkt.
Magiere zog es rasch an und hatte gewisse Schwierigkeiten mit dem Schnürleibchen. Geistesabwesend befingerte sie die Metallkette des Knochen-Amuletts, ließ es dann sinken und zwischen ihren Brüsten neben dem Topas ruhen. Es waren bedeutungslose Kinkerlitzchen, Teil ihrer Rolle als Jägerin. Magiere wusste nicht recht, warum sie sich dagegen entschied, die beiden Amulette abzulegen. Es erschien ihr einfach seltsam, sich nach all den Jahren davon zu trennen.
Es gab einen Spiegel, und als Magiere sich darin betrachtete, kam es ihr komisch vor, sich in einem Kleid zu sehen und nicht in Stiefeln und Leder. Sie fühlte sich versucht, das Brokatkleid wieder auszuziehen, aber ihre Ledersachen fehlten, und der Rucksack enthielt sonst kaum etwas; deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als das Kleid anzubehalten.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und begann damit, ihre Dinge in den Schrank zu legen.
Ihre abgenutzte Decke, die Teekanne und ein kleiner Stapel Unterwäsche ließen den Kleiderschrank noch leerer aussehen als vorher. Die geringe Größe des Zimmers war eigentlich eine Erleichterung, denn Magiere hatte nur wenige persönliche Dinge, um es zu füllen.
»Bei allen toten Göttern«, ertönte Leesils Stimme hinter ihr. Magiere wirbelte herum. »Was hast du mit dir angestellt?«
Er hatte sich ebenfalls gewaschen, stand nun, die rechte Hand an der Klinke, in der offenen Tür, gekleidet in einen Bademantel wie der, den Magiere eben abgelegt hatte. Das feuchte schulterlange Haar war über die Ohren nach hinten gestrichen und hatte im matten Kerzenschein die Farbe von Strandsand. Aber er sah noch immer wie er selbst aus und starrte Magiere wie eine Fremde an, die sich unbemerkt eingeschlichen hatte.
Magiere wurde sich auf sehr intensive Weise ihres Erscheinungsbilds bewusst: das Schnürleibchen, das lange schwarze Haar offen auf den Schultern. Plötzlich wünschte sie sich den zu großen Bademantel zurück.
»Beth-rae hat meine Sachen mitgenommen, um sie zu waschen«, sagte sie scharf. »Und du solltest besser aufpassen. Wahrscheinlich verbrennt sie deine, wenn man bedenkt, in welchem Zustand sie waren.«
»Wo hast du das gekauft?«, fragte Leesil und kam ins Zimmer.
Magiere stellte fest: Wenn sie beide keine Stiefel trugen, war er nur wenig größer als sie.
»Klopfst du nicht an, oder hast du beim Schlafen auf dem Boden alle deine guten Manieren verloren?«, erwiderte sie. »Ich habe das Kleid nicht gekauft. Meine Tante hat es mir vor langer Zeit geschenkt.«
Leesil nahm diesen Hinweis zum Anlass, auf weitere Fragen zu verzichten. Sie vermieden es beide, über ihre Vergangenheit zu reden.
»Wo ist Chap?«, fragte Magiere.
»In der Küche.« Leesil rollte mit den Augen. »Er hat sich in Beth-rae verliebt. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, gibt sie ihm etwas. Das muss aufhören. Was nützt uns ein dicker Wachhund?«
Er musterte Magiere erneut von Kopf bis Fuß, was sie immer mehr ärgerte.
»Morgen sehen wir uns genau im Haus um, nehmen uns den Keller vor – oder wo auch immer die Vorräte lagern – und machen Bestandsaufnahme. Wenn es dort unten genug Bierfässer gibt, könnten wir schon morgen Abend öffnen. Wenn du etwas für den Kartentisch brauchst, so lass es mich wissen.« Magiere nahm das Falchion, drehte sich um und legte es in eine Ecke des Kleiderschranks. Leesil sank auf einen Stuhl und beobachtete sie. »Morgen Nachmittag gehen wir zum Markt und besuchen vielleicht auch den Hafen, um zu sehen, ob die dortigen Lagerhäuser etwas enthalten, das wir brauchen. Uns steht nicht viel Geld zur Verfügung, aber wir können das Nötigste kaufen und damit über die Runden kommen, bis das Geschäft richtig läuft.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte Magiere eine Bewegung und wusste instinktiv, dass es nicht Caleb oder Beth-rae war. Leesil drehte sich ebenfalls um und sah zur Tür, die er offen gelassen hatte. Ein Stilett erschien in seiner Hand.
Magiere hielt sich nicht mit der Frage auf, wo er die Klinge im Bademantel verborgen hatte. Sie zog ihr Falchion und ließ die Scheide zu Boden fallen.
Es war dunkel bei der Tür, und auch das spärliche Kerzenlicht zeigte nicht, wer dort stand. Eine tiefe Stimme ertönte, klang ruhig und sogar besänftigend.
»Sorgt euch nicht.«
Dunkelheit schien der Gestalt zu folgen, als sie durch die Tür trat, und dann wichen die Schatten zurück, vielleicht vertrieben vom Kerzenschein.
»Wie bist du hier hereingekommen?«, fragte Magiere und wunderte sich, dass Chap keinen Alarm geschlagen hatte.
Der Mann war etwa vierzig Jahre alt und von mittlerer Größe und Statur. Das graubraune Haar trug er sorgfältig nach hinten gekämmt, und an den Schläfen zeigten sich weiße Flecken. Sein Gesicht war sehr markant, und auf dem Nasenrücken fiel ein Buckel auf. Die Kleidung war von einem bodenlangen mahagonifarbenen Umhang verborgen, unter dem nur die Spitzen der Stiefel hervorragten. Er schien nicht bewaffnet zu sein, aber Magiere und Leesil wussten nicht, was sich unter dem Umhang befand. Die Hände waren auf der Brust gefaltet, und Magiere bemerkte, dass die vorderen Glieder des kleinen Fingers der linken Hand fehlten.
»Antworte!«, sagte Leesil scharf. Er war auf den Beinen und hielt ein zweites Messer in der anderen Hand.
Der Mann starrte zwei oder drei Sekunden wie abschätzend auf Magieres Falchion, hob dann den Blick und musterte sie eingehend. Die Amulette weckten sein Interesse. Magiere wollte nicht auf diese Weise von ihm angesehen werden und ließ die Amulette in ihrem Kleid verschwinden. Dabei bemerkte sie, dass der Topas heller war als sonst, aber sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fremden, der Leesil ignorierte.
»Mein Name ist Welstiel Massing. Du bist die Jägerin, nicht wahr? Die Frau, die Vampire tötet?«
Magiere wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann sprach unverhohlen und offen, ohne irgendeinen Vorwand, als wäre es ganz normal, eine fremde Person so etwas zu fragen.
»Wir wissen nicht, wovon du faselst«, sagte Leesil. »Noch haben wir nicht geöffnet. Ich schlage vor, du kehrst am besten morgen zurück.«
Welstiel Massing schien ihn gar nicht zu hören. Sein Blick blieb auf Magiere gerichtet.
»Du bist nicht das, was ich erwartet habe, aber du bist eine Jägerin.«
»Ich habe damit aufgehört«, sagte Magiere.
Etwas an dem Fremden beunruhigte und verunsicherte sie. Magiere wollte nichts mit irgendeinem Aspekt ihrer Vergangenheit zu tun haben, und die Präsenz dieses Mannes störte das gerade erst errungene Gleichgewicht ihres neuen Lebens.
»Ich bezweifle, dass du es hier vermeiden kannst«, sagte Welstiel. »Ich bin nur gekommen, um dich zu warnen.«
»Geh«, erwiderte Magiere kühl und verlor die Geduld. »Oder ich werfe dich hinaus.«
Welstiel wich zurück, aber nicht aus Furcht, sondern eher wie jemand mit einwandfreien Manieren. »Verzeih mir. Ich hielt es nur für richtig, dich zu warnen.«
»Das hast du«, warf Leesil ein. »Ich zeige dir den Weg nach draußen.« Er trat vor.
Für einen Moment schien es, als wolle der späte Besucher stehen bleiben. Dann sah er wie beiläufig zu Leesil, drehte sich um und ging durch den Flur, als wäre das seine eigene Entscheidung.
Für einige Sekunden waren Leesil und Magiere so überrascht, dass sie sich nicht von der Stelle rührten. Dann stob Leesil durch die Tür, um Welstiel Massing die Treppe hinunter zu »eskortieren«. Magiere folgte und sah, wie ihr Partner verwundert an der Treppe stehen blieb. Sie hörte, wie sich unten die Tür der Taverne schloss. Leesil drehte den Kopf und sah sie verdutzt an.
»Für einen älteren Mann ist er recht flink«, sagte er leise und fügte dann hinzu: »Bin gleich wieder da.« Er lief die Treppe hinunter und verschwand.
Magiere kehrte in ihr Zimmer zurück und setzte sich aufs Bett. Weshalb auch immer der Fremde gekommen war, sie wollte sich auf keinen Fall in ihr altes Leben zurückziehen lassen, weder für Geld noch für irgendetwas anderes.
Leesil erschien erneut in der Tür. »Chap, Caleb und Beth-rae schlafen in der Küche. Ich habe dir ja gesagt, dass sie ihn zu sehr füttert.«
»Ich spreche morgen mit ihr.« Magiere nickte, froh darüber, sich wieder auf konkrete Aufgaben konzentrieren zu können. »Aber war die Haustür nicht verschlossen?«
»Keine Ahnung. Ich nehme an. Caleb und Beth-rae scheinen mir keine Leute zu sein, die alles offen stehen lassen.« Leesil wollte gehen, zögerte aber und wandte sich noch einmal mit ernster Miene an Magiere. »Lass dich von dem Irren nicht beunruhigen. Wir geben ihm Hausverbot. Immerhin müssen wir nicht jedem die Tür öffnen.«
Magiere legte das Falchion wieder in den Schrank und beobachtete, wie die Klinge im Kerzenschein funkelte.
»Das ist nicht nötig. Ich glaube, er ist harmlos, aber er fliegt hochkant raus, wenn er noch einmal über Vampire redet.«
»Wie finden uns die Leute nur?«
Magiere richtete einen leicht verärgerten Blick auf Leesil. Sie hatten Jahre damit verbracht, Gerüchte auf dem Land zu verbreiten, damit die Leute sie finden konnten.
»Ja, schon gut«, brummte Leesil. »Dumme Frage.«
Magiere schüttelte den Kopf. »Wir versuchen, die Taverne so bald wie möglich zu öffnen.«
»Hast du inzwischen einen Namen?«
»Ich dachte, du wolltest dir einen einfallen lassen, wenn du das Schild malst.«
»Wie wäre es mit ›Zum Blutkuchen‹?«
»Das finde ich nicht komisch.«
Leesil lachte, trat aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.