7
Unweit der Anlegestellen wartete Teesha geduldig darauf, dass ein betrunkener Seemann vorbeikam. Wie immer staunte und bewunderte sie die Pracht und endlose Weite des Ozeans, insbesondere bei Flut. Die Küste war eine Barriere zwischen den Welten. Sie ging barfuß, grub manchmal die Zehen in den Sand und achtete nicht darauf, dass der Saum ihres violetten Gewands über den Boden strich und schmutzig wurde.
Vor vielen Jahren, vor ihrer Ankunft in Miiska, war einer der Kais wegen verfaulter Pfosten eingestürzt. Dabei hatte er ein zweimastiges Schiff mitgenommen, dessen Taue nicht schnell genug gelöst werden konnten. Arbeiter hatten einige der Trümmer aus dem Wasser gezogen, und sie lagen nun auf dem Strand. Aus dem Plan, das Material zu bergen, war nie etwas geworden. Alte Pfosten und Streben lagen außerhalb der Reichweite der Flut am Ufer und wirkten wie die Gerippe eines gestrandeten Seeungeheuers. Sie waren verwittert, teilweise aber noch recht massiv, boten einen perfekten Unterschlupf. Teesha wanderte ruhig zwischen den Spanten, lauschte der Dunkelheit, anstatt sie zu sehen, und schnupperte gelegentlich.
Schließlich erreichte sie der Geruch von warmem Fleisch. Erwartungsvoll duckte sie sich hinter etwas, das einmal Teil des Kais oder vielleicht ein Balken des Schiffes gewesen war. Wachsam neigte sie den Kopf in den Wind.
Ein Seemann schritt über den Strand in Richtung Hafen. Er trug eine fleckige Drillich-Kniehose mit zerfransten Säumen, oben von einem Seilgürtel zusammengehalten. Die Füße steckten in einfachen Sandalen, mit Lederschnüren an den Fußknöcheln festgebunden. Die Haut war dunkel, von der Sonne gebräunt, doch das Gesicht wirkte glatt und weich, und nur die Andeutung eines Bartes zeigte sich darin.
Teesha trat nicht vor, entspannte sich und wartete darauf, dass er nahe genug herankam, um sie zu sehen. Als er sie bemerkte, ging er einen Moment langsamer, änderte dann die Richtung und näherte sich. Nicht weiter als fünf Armeslängen entfernt blieb er stehen und betrachtete ihr hübsches Gesicht, das vom Wind zerzauste braune Haar und die nackten Füße.
»Hast du dich verirrt?«, fragte Teesha in einem beruhigenden Ton, der hinter den Geräuschen des leichten Winds und der Wellen summte. »Du musst dich verirrt haben. Wo ist dein Schiff?«
Für einen Augenblick runzelte er verwirrt die Stirn und dachte, dass sie diejenige war, die sich verirrt hatte. Teesha beobachtete sein junges Gesicht und konnte sehen, wie er die Worte in Gedanken mehrmals wiederholte, bis er nicht mehr sicher war, ob sie von ihr oder ihm selbst stammten. Sein Blickt trübte sich, und die Falten auf der Stirn wurden tiefer.
»Verirrt … verirrt?«, brachte er hervor. Dann fragte er etwas drängender. »Ja, wo ist mein Schiff?«
»Hier«, sagte Teesha im gleichen beruhigenden, summenden Ton. »Dein Schiff ist hier.« Ihre grazilen Finger tasteten über den Balken.
Die Worte schienen Bewegung in den jungen Mann zu bringen, wie ein sanfter Windstoß die Segel nach einer langen Flaute.
»Komm, ich zeige dir den Weg«, drängte Teesha.
Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er nahm sie. Teesha zog ihn mit sich, als sie ins Wrack des alten Schiffes und der Anlegestelle zurücktrat. Sie sah nicht einmal über die Schulter, um den Weg zu finden, hielt den Blick auf den Seemann gerichtet. Bereitwillig folgte er ihr unter das Dach aus gebrochenen Masten, Pfosten und ausgebleichten Planken. Um sie herum verdichtete sich die Dunkelheit.
»Da sind wir.« Sie lächelte mit perfekten weißen Zähnen.
Der Seemann war tatsächlich jung, etwa siebzehn. Sein Atem roch nach Bier, aber er war nicht betrunken. Es spielte ohnehin keine Rolle. Unsicher sah er sich um.
»Ja, du bist wieder zu Hause«, sagte Teesha und tastete mit der freien Hand nach seiner Wange. »Dies ist dein Schiff.«
Das Gesicht schien noch weicher zu werden, und ein erleichtertes Seufzen kam von seinen Lippen.
Sie strich ihm durchs ungekämmte Haar und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Sie hatte ihre eigene Methode der Jagd entwickelt, und damit war es ihr nie schwergefallen, an Nahrung zu gelangen.
Der junge Mann ergriff ihre Arme, um den Kuss zu erwidern, und Teesha stellte fest, dass er kräftiger war, als er aussah. »Noch nicht«, sagte sie sanft, und er gehorchte ihr sofort. Sie zog seinen Kopf an ihre Schulter und verlor keine Zeit, sobald der Hals entblößt war.
Manchmal trank sie vom Handgelenk oder von der Ader an der Innenseite des Ellenbogens. Es kam auf die jeweiligen Umstände an. An diesem Abend biss sie in die Seite des Halses und hielt dabei den Kopf des Seemanns fest, damit er nicht aus einem Reflex heraus zurückzuckte. Sein Körper erbebte einmal, und dann verlor er sich wieder in dem Traum.
Teesha nahm, was sie brauchte, mehr nicht, löste dann die spitzen Zähne aus der Haut. Sie holte einen kleinen Dolch aus dem Ärmel und verband die beiden Löcher mit einem flachen, etwas unregelmäßigen Schnitt. Sie hätte ihn mit der Klinge verletzen und aus der Wunde trinken können, aber das genügte ihr nicht. Das Gefühl von warmem Fleisch an den Lippen und Zähnen war viel angenehmer als der metallische Nachgeschmack in den ersten Tropfen Blut.
Teesha ließ ihn in den Sand sinken und nahm seinen Geldbeutel – sie brauchte kein Geld, aber dies gehörte zur Tarnung. Sie legte eine Hand auf die Stirn des Schlafenden und strich mit der anderen über die geschlossenen Augen. Ihre Lippen berührten sein Ohr, als sie flüsterte: »Du bist am Abend zu deinem Schiff gegangen, als zwei Diebe kamen. Du hast dich zur Wehr gesetzt, aber einer von ihnen hatte ein Messer …«
Er zuckte instinktiv zusammen. Langsam hob er die Hand zum Hals, aber Teesha drückte sie sanft zurück.
»Sie stahlen dir den Geldbeutel, du hast dich hier versteckt, für den Fall ihrer Rückkehr, und bist dann eingeschlafen.«
Er atmete tiefer, und Teesha richtete sich auf. Hier drohte ihm keine Gefahr. Aber selbst wenn ihm nach ihrer Begegnung etwas zugestoßen wäre – sein Schicksal betraf sie nicht.
Auf diese Weise hatte sie sich über viele Jahre hinweg Nahrung beschafft. Sie versuchte immer, Personen auszuwählen, die nicht lange an einem Ort blieben. Miiska war perfekt: Seeleute und Händler kamen und gingen. Manchmal hatte sie jemanden getötet, wenn Hunger und Verlangen stärker wurden als ihre sorgfältige Kontrolle, aber das war schon lange nicht mehr passiert. Wenn das Opfer ein Bürger der Stadt war, so grub sie es ein, und Rashed gab immer Rattenjunge die Schuld, wenn ein Sterblicher verschwand. Teesha beließ ihn in seinem Glauben.
Leichtfüßig lief sie über den Strand, fühlte dabei Wärme und Kraft des Blutes, das sie getrunken hatte. Sie war froh über ihre angeborene Fähigkeit, in Gedanken Vergangenheit und Zukunft beiseite zu schieben und allein in einem Moment zu leben.
»Teesha?«
Überrascht blieb sie stehen, sah übers Wasser und zu den Bäumen an der Küste.
»Geliebter?«
Edwans leere Stimme erklang hinter ihr, und sie drehte sich um. Er schwebte dicht über dem Sand, wie üblich in grüner Kniehose und weißem Hemd. Der abgetrennte Kopf ruhte auf der Schulter, und langes, blondes Haar reichte bis zur Taille hinab.
»Mein Liebling«, sagte sie. »Wie lange bist du schon hier?«
»Eine ganze Weile. Kehrst du bereits heim?«
»Ich wollte im Lagerhaus nachsehen und feststellen, ob Rashed etwas braucht.«
»Ja«, sagte Edwan. »Rashed.«
Sein Gesicht veränderte sich. Er sah nicht mehr so aus, als wäre er gerade gestorben, sondern wie eine fast zwei Wochen alte Leiche. Die Haut wurde weiß, und darunter zeichnete sich geronnenes Blut ab.
Die Freude über Kraft und Wärme verschwand aus Teesha. Mit schweren Schritten stieg sie das Ufer hoch und setzte sich, den Rücken an einen Baum gelehnt.
»Grüble nicht. Wir brauchen Rashed.«
»Das sagst du.« Edwan war an Teeshas Seite, obwohl sie keine Bewegung gesehen hatte. »Du hast es oft gesagt.«
Gemeinsam lauschten sie den kleinen an den Strand rollenden Wellen. Teesha wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie liebte Edwan, aber er existierte in der Vergangenheit, wie die meisten Geister unter den Lebenden. Es fiel ihm schwer, die Gegenwart zu verstehen. Und sie wusste, was er wollte. Er wollte es immer. Er war jetzt der Hungrige, und da er kein wahres Leben leben konnte, blieben ihm nur Erinnerungen.
Doch es erschöpfte und deprimierte sie, dies für ihn zu tun. Wenn er die Bitte an sie richtete und wenn sie ihm dann seinen Wunsch erfüllte, so verlor sie für die nächsten fünf oder sechs Nächte die Fähigkeit, im köstlichen Jetzt zu leben.
»Nein, Edwan«, sagte Teesha müde.
»Bitte. Nur noch dieses eine Mal«, versprach er – wie immer.
»Es bleibt nicht genug Zeit bis Sonnenaufgang.«
»Wir haben einige Stunden.«
Die Verzweiflung in seiner Stimme schmerzte. Teesha stützte das Kinn auf die Knie und sah dorthin, wo das Wasser in der Dunkelheit verschwand.
Armer Edwan. Er verdiente Besseres, aber dies musste aufhören. Wenn sie ihm die deutlichsten Erinnerungen zeigte, bis hin zum Ende … Vielleicht versetzte es ihn in die Lage, sich mit ihrer neuen Existenz abzufinden.
Teesha schloss die Augen und hoffte, dass er ihr eines Tages verzieh. Sie streckte die Gedanken nach ihm aus und erinnerte sich …
Hoch im Norden über Strawinien schneite es die meiste Zeit im Jahr, und immer schienen Wolken die Sonne zu verhüllen. Tag und Nacht unterschieden sich kaum voneinander, doch das war Teesha gleich. Mit Schürze und in ihrem roten Lieblingskleid brachte sie den durstigen Reisenden im Gasthof Bier. Immer brannte ein Feuer im Kamin, und für jeden hereinkommenden Gast hatte sie ein freundliches Lächeln. Aber ihr besonderes Lächeln – so wundervoll wie eine Lücke zwischen den Wolken, durch die die Sonne schien – war allein ihrem jungen Ehemann vorbehalten, der ernst hinter der Theke arbeitete und dafür sorgte, dass alles seine Ordnung hatte und niemand auf sein Getränk warten musste.
Edwan erwiderte ihr Lächeln nur selten, aber sie wusste, dass er sie über alles liebte. Sein Vater war ein jähzorniger, gewalttätiger Mann; seine Mutter hatte ein Fieber dahingerafft, als er ein Kind gewesen war. Er hatte in Armut und Knechtschaft gelebt. Darin bestanden Edwans einzige Erinnerungen an seine Kindheit. Mit siebzehn hatte er sein Elternhaus verlassen, war durch zwei Städte gereist, hatte Arbeit in einer Taverne gefunden und Teesha kennengelernt. Zum ersten Mal in seinem Leben begegnete er Freundlichkeit und Zuneigung.
Mit sechzehn hatte Teesha bereits mehrere Heiratsanträge bekommen, aber immer abgelehnt. Jedes Mal stimmte mit dem Freier etwas nicht: zu alt, zu jung, zu albern, zu hartnäckig … zu irgendetwas. Teesha hielt es für besser zu warten. Als Edwan durch die Tavernentür kam, mit seinem dunkelblonden Haar, den breiten Jochbeinen und seinen ruhelosen Augen – da wusste sie, dass sie ihre andere Hälfte gefunden hatte. Nach fünf Jahren Ehe sprach er noch immer fast nur mit ihr.
Für ihn war die Welt ein feindseliger Ort, und Sicherheit gab es nur in Teeshas Armen.
Für sie bestand die Welt aus Liedern, gewürzten Rüben, Bierkrügen, die sie Gästen brachte – die längst zu Freunden geworden waren –, und warmen Nächten zusammen mit Edwan unter einem Federbett.
Es war eine gute Zeit gewesen, aber eine kurze.
Als Lord Corische die Tür des Gasthofs zum ersten Mal öffnete, blieb er draußen stehen. Kalter Wind wehte in den Schankraum, und die Gäste fluchten. Teesha lief zur Tür, um sie zu schließen.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte der Lord, aber seine Stimme klang fordernd. Er schien die Antwort bereits zu kennen.
»Natürlich, bitte«, sagte Teesha ein wenig überrascht, denn die Taverne stand allen offen.
Als er und sein Begleiter eintraten und Teesha die Tür schloss, kehrte wieder Ruhe ein. Einige Leute drehten neugierig den Kopf, dann noch einige mehr, als sich die ersten nicht wieder ihrem Essen zuwandten.
Nichts an Lord Corische wirkte ungewöhnlich. Weder das Kettenhemd noch die gepolsterten Panzerplatten, denn so etwas trugen Soldaten und Söldner oft. Er war weder hübsch noch hässlich, weder groß noch klein. Die einzigen charakteristischen Merkmale waren ein kahler Kopf und eine kleine weiße Narbe über dem linken Auge. Doch er kam nicht allein, und die neugierigen Blicke der Gäste galten nicht etwa Lord Corische, sondern seinem Begleiter.
Neben dem kahlköpfigen Lord stand der größte und eindrucksvollste Mann, den Teesha je gesehen hatte. Er trug einen dunkelblauen, gefütterten Kasack, der mit einem Rautenmuster aus schimmernden weißen Fäden verziert war. Das kurze, pechschwarze Haar bildete einen auffallenden Kontrast zum bleichen Gesicht, und die Farbe der hellen Augen ließ sich kaum bestimmen. Sie erinnerten Teesha an glattes Eis über einem tiefen See.
Die beiden Männer gingen zu einem Tisch, doch der Blick des Kahlköpfigen galt noch immer Teesha.
»Kann ich dir Bier bringen?«, fragte sie.
»Du wirst mir bringen, was immer mir beliebt«, sagte der Mann laut und genoss den Moment. »Ich bin Lord Corische, der neue Herr von Bergfried Gäestev. Alles hier gehört mir.«
Als die Dorfbewohner im Schankraum dies hörten, begannen sie zu murmeln, aber so leise, dass ihre Worte ungehört blieben.
Teesha hielt unwillkürlich den Atem an und senkte den Blick. Vor mehr als einem Jahr war der vorherige Lehnsherr bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Während dieser Zeit hatte das Dorf keine Nachricht von der Ankunft eines neuen Lords erreicht.
»Bitte verzeiht mein ungezwungenes Gebaren«, sagte sie. »Ich wusste nicht, wer Ihr seid.«
»Dein freimütiges Gebaren ist willkommen«, erwiderte Corische ruhig.
Auf Teesha wirkte er alles andere als adelig, aber in ihrem bisherigen Leben hatte sie nur selten Adelige gesehen. Sie verglich Corische mit den Bergländern, die kalt und für Unvorsichtige gefährlich waren. Wenn einer der beiden Männer wie ein Lord aussah, so der Begleiter des Soldaten.
Der Mann im blauen Kasack sprach nicht. Er wirkte fast gleichgültig, hörte dem Gespräch nicht zu. Er schien nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten, als er den Blick langsam über die Gäste schweifen ließ, lehnte sich dann zurück und schenkte seiner Umgebung keine Beachtung mehr.
»Dies ist Rashed«, sagte Lord Corische, ohne auf seinen Begleiter zu zeigen. »Er stammt aus einem Wüstenland weit jenseits des Meeres und verabscheut unser kaltes Wetter, nicht wahr, Rashed?«
»Ja, Herr«, antwortete Rashed schlicht, als wäre dies ein Ritual, das vervollständigt werden musste.
»Darf ich euch Bier bringen, Herr?«, fragte Teesha höflich. Sie suchte nach einem Vorwand, sich von dem Tisch abzuwenden.
»Nein, ich bin wegen dir gekommen.«
»Wie bitte?«, fragte sie verwundert.
Corische stand auf und strich den Umhang zurück. Seine Haut war bleich, aber unter der Rüstung zeichneten sich breite Schultern und dicke Oberarme ab.
»Ich bin schon mehrmals im Dorf gewesen und habe dich beobachtet. Dein Gesicht gefällt mir. Du wirst mich zum Bergfried begleiten und mir dort Gesellschaft leisten, solange ich hier bin, einige Jahre vielleicht.«
Furcht entstand in Teesha, aber sie lächelte wie bei einer koketten Bemerkung.
»Oh, ich glaube, das würde meinem Mann gar nicht gefallen«, sagte sie und setzte die Arbeit fort.
»Dein Mann?« Lord Corisches Blick ging an Teesha vorbei und verharrte auf Edwan, dem zarten, grimmigen Edwan, der bereit war, über die Theke zu springen.
»Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, Herr«, sagte Rashed leise.
Ein langer Moment verstrich. Dann nickte Corische Teesha zu, stand auf und ging ohne ein Wort. Rashed erhob sich ebenfalls und folgte ihm.
In jener Nacht im Bett beschwor Edwan seine Frau, ihre Sachen zu packen und mit ihm zu fliehen.
»Wohin?«, fragte sie.
»Irgendwohin.«
Das kleine Dorf im Norden war Teeshas Heimat, und dummerweise beharrte sie darauf zu bleiben. Zwei Abende später fand man einen Bauern, mit dem Edwan einmal über den Brotpreis gestritten hatte, erstochen hinter der Taverne. Als Lord Corisches Männer kamen und Nachforschungen anstellten, fanden sie ein blutiges Messer unter Edwans und Teeshas Bett. Rashed war zugegen und leitete angeblich die Ermittlungen, aber er saß nur vor dem Kamin am Tisch und wartete. Als Corisches Soldaten ihm das Messer brachten, verrieten seine hellen Augen weder Überraschung noch Zorn. Er nickte nur, und die Soldaten führten den Befehl aus, den sie bereits erhalten hatten.
Teesha war so verblüfft, dass sie nicht einmal schrie, als zwei Wächter ihren gefesselten Mann fortbrachten. Sie sah Rasheds Augen und bemerkte, wie leer sie waren – bis auf ein kurzes Aufblitzen in ihnen, das aber sofort wieder verschwand.
Bevor Teesha Edwan folgen konnte, packte ein dritter Soldat sie von hinten an den Armen. Dann betrat Lord Corische den Gasthof, blieb geduldig vor ihr stehen und wartete darauf, dass sie zu zappeln aufhörte.
Zum ersten Mal begann Teesha zu glauben, dass das martialische Aussehen und die grobe Ausdrucksweise eine Maske waren. Sein Gesicht zeigte überhaupt kein Leben, nicht das geringste Gefühl.
»Was wird mit ihm geschehen?«, fragte Teesha.
»Er wird zum Tode verurteilt.« Corische zögerte. »Es sei denn, du kommst heute Abend mit mir zum Bergfried.«
War sie dumm oder nur naiv gewesen? Sie hatte im Schankraum Geschichten über Adelige und ihre Übergriffe gehört, die das Leben anderer Personen zerstörten, ohne dass es sie kümmerte. Aber bisher hatte sie jene Erzählungen für übertrieben gehalten.
»Bleibt er am Leben, wenn ich Euch begleite?«, fragte sie.
»Ja.«
Corische gab Teesha nicht einmal Gelegenheit, ihre Sachen zu packen. Man brachte sie nach draußen, wo ein weiterer Soldat die Zügel von zwei rotbraunen Pferden hielt. Corische schwang sich auf das erste, Rashed auf das zweite. Von Edwan war nichts mehr zu sehen.
»Rashed ist jetzt auch dein Diener«, sagte Corische. »Er wird dich beschützen.«
Rashed beugte sich hinunter, ergriff Teesha unter den Armen und hob sie mühelos hoch. Entsetzen hinderte sie daran, den Moment bewusst zu erleben, aber später kehrte er in ihrer Erinnerung oft zurück. An jenem Abend war sie noch Teesha die Serviererin, die ihren Mann liebte und glaubte, die Welt bestünde aus Liedern und gewürzten Rüben, Teesha die Serviererin, die nicht verstand, warum man ihr Edwan genommen hatte und was mit ihm geschah. Sie saß seitlich auf dem Sattel und hielt sich an Rashed fest, als sein Pferd loslief.
Der Ritt zum Bergfried Gäestev dauerte ewig. Teesha trug keinen Mantel, und die Kälte durchdrang ihr Kleid. Rashed blieb die ganze Zeit über stumm, doch als sie zitterte, legte er seine Arme um die ihren, um sie vor dem Wind abzuschirmen. Corische ritt vorn, und seine übrigen Soldaten bildeten den Abschluss.
Es gab noch immer kein Zeichen von Edwan. Hatte man ihn bereits in ein dunkles, kaltes Verlies geworfen?
Voraus ragte der Bergfried auf, und Teesha dachte an ihr eigenes Schicksal. Es war ein imposanter Steinbau, ein breiter, niedriger Turm mit einem Stall und einem Wachhaus an den Seiten. Als Rashed sie absetzte, dachte Teesha kurz daran wegzulaufen. Aber sie wusste nicht, wohin sie laufen sollte, und außerdem fürchtete sie, dass Schlimmes mit Edwan geschah, wenn sie die Flucht ergriff.
Im Innern war der Bergfried ebenso freudlos wie außen. Es brannten keine Willkommensfeuer, und die bittere Kälte des Winds wich der Frostigkeit von Luft, die zwischen steinernen Mauern gefangen war. Keine Bilder oder Tapisserien hingen an den Wänden. Altes Stroh bedeckte den Boden des Hauptraums. Steinerne Stufen führten in die oberen Bereiche des Turms. Die einzigen sichtbaren Einrichtungsgegenstände waren ein langer rissiger Tisch und ein großer Stuhl. Zwei kleine Fackeln brannten an der Wand und spendeten ein wenig Licht.
Lord Corische schien gar nicht zu bemerken, dass Teeshas Zähne klapperten, ging an ihr vorbei und legte sein Schwert auf den Tisch. Der Fackelschein spiegelte sich auf seinem kahlen Kopf wider.
»Rattenjunge!«, rief er. »Parko!«
Aus seiner Stimme wurde ein hallendes zorniges Knurren. Das Geräusch eiliger Schritte veranlasste Teesha unbewusst, hinter Rashed Schutz zu suchen. Zwei seltsame Männer – oder Wesen – kamen herein.
Das erste Geschöpf sah aus wie ein vollkommen verdrecktes Schmuddelkind. Es konnte ein Junge sein oder ein junger Mann. Alles an ihm war braun, bis auf die Haut, die sich bleich hier und dort unter den Schmutzkrusten zeigte. Die zweite Gestalt entsetzte sie sofort, noch mehr als Corische.
Das ausgezehrte weiße Gesicht mit den animalischen Augen, die im Kerzenschein blitzten, schien wie aus Knochen geschnitzt. Unter einem Kopftuch, das einst grün gewesen sein mochte, ragten schmutzige schwarze Haarsträhnen hervor. Doch es waren die Bewegungen, die ihr am meisten Angst machten. Der Mann war flink wie ein Tier, sauste herein und sprang von den Stufen, noch bevor er das Ende der Treppe erreicht hatte. Am Tisch hielt er sich fest, drehte sich und schnüffelte.
Sein Blick ging in Teeshas Richtung. Er lief durch den großen Raum, blieb auf halbem Weg stehen, reckte den Hals und versuchte, hinter Rashed zu sehen.
»Möchtet ihr nicht euren Herrn begrüßen?«, fragte Corische kühl.
»Verzeih uns«, erwiderte Rattenjunge mit einem fröhlichen Klang in der Stimme. »Wir haben das Zimmer der Frau vorbereitet, wie von dir gewünscht.«
So freundlich die Worte auch klangen: In den Augen brannten Hass und Bosheit. Parko sank auf alle viere und drehte sich nicht zu Corische um.
»Frau«, sagte er und nickte.
Die Taubheit verschwand aus Teesha, als sie sah, wo sie da hineingeraten war. Diese Männer dienten ihrem Lehnsherrn? Wo waren die Feuer, wo die Wächter, Bierfässer und Speisen?
Rashed trat vor, wodurch Teesha für alle zu sehen war. Vor Parko ging er in die Hocke.
»Du darfst sie nicht anrühren, Parko. Hast du verstanden? Sie ist nicht für dich bestimmt.«
Die seltsame Sanftheit in seiner Stimme überraschte Teesha.
»Frau«, wiederholte Parko.
»Er braucht deine Warnungen nicht«, sagte Corische und legte seinen Umhang ab. »Und du vergisst dich.«
Rashed richtete sich auf und trat zurück. »Ja, Herr.«
Corische wandte sich an Teesha. »Ich bin nicht grausam. Du kannst ein oder zwei Nächte ausruhen, bevor du deine Pflichten antrittst.«
»Welche Pflichten?«
»Du wirst die Lady dieses Bergfrieds sein.« Corische zögerte einen Moment und lachte dann, als hätte er einen komplizierten Witz verstanden. Das Geräusch weckte Übelkeit in Teesha.
»Wenn ich hier der Lord bin«, fuhr Corische fort, »so muss ich eine Lady haben, selbst ein so armseliges, den Boden schrubbendes Bauernmädchen wie dich.«
Das war der erste Hinweis darauf, dass Corische gar nicht beabsichtigte, den Herrn von Bergfried Gäestev zu spielen. Die meisten feudalen Aufseher bekamen Lehen von reicheren Adeligen oder ihren eigenen Lehnsherren. Aber was wollte Corische von ihr? Teesha wusste weder über den Adel Bescheid noch darüber, wie sich Ladys verhielten. Verwirrt sah sie erneut zu Rattenjunge und Parko. Wenn sich Corische mit niedrigen Geschöpfen umgab, um sich wichtiger zu fühlen, warum hatte er dann jemanden wie Rashed in seine Dienste genommen? Und warum sollte ihm daran gelegen sein, dass eine Frau die Lady des Bergfrieds spielte?
In jener Nacht wurde sie in ein schmutziges, kaltes Turmzimmer eingesperrt, ohne wärmendes Feuer und nur mit einer dünnen, muffigen Flanelldecke. Am nächsten Tag kam niemand, doch am Abend hörte sie, wie jemand die Tür aufschloss, und sie fühlte sich zwischen Erleichterung und Entsetzen hin- und hergerissen. Rashed kam mit einem Tablett herein, brachte ihr Tee, Lammfleisch und Brot. Über dem einen Arm trug er einen Umhang.
»Hier drin ist es eiskalt«, sagte Teesha.
»Dies wird dir helfen.« Rashed reichte ihr den Umhang und stellte das Tablett auf den Boden. »Dieser Bergfried ist uralt. Es gibt keine Kamine, nur eine Feuergrube im Hauptraum. Ich habe Holz gesammelt und es angezündet. Etwas Wärme steigt vielleicht bis hierher auf, aber geh nicht ohne den Herrn oder mich hinunter.«
»Was ist mit Edwan?« Teesha stand auf und trat einen Schritt näher. »Wird er bald freigelassen?«
Rashed schwieg einen Moment, bewegte sich nicht und starrte an die Wand hinter ihr.
»Dein Mann wurde heute Morgen verurteilt und hingerichtet.« Er sagte es, ohne dass sich dabei sein Tonfall änderte, drehte sich dann zur Tür um. »Möchtest du am Feuer sitzen?«
Eine Art von Wahnsinn erfasste Teesha.
»Ob ich …?« Sie begann zu lachen. »Du verdammter Mistkerl.«
Für nichts hatte sie sich diesem Albtraum ausgesetzt, und Edwan, der ein friedliches Leben mehr verdiente als sonst jemand, den sie kannte, war tot, nur weil ein gewissenloser Lord seine Frau wollte. Es war alles so absurd und schrecklich, dass Teesha es nicht mehr ertragen konnte. Sie zog den Tod einer solchen Existenz vor.
Sie sauste an Rashed vorbei und lief durch den kurzen Flur und die steinerne Treppe zum Hauptraum hinunter. Lord Corische saß dort am rissigen Tisch und schrieb mit einem Federkiel auf einer Schriftrolle. Teesha beachtete ihn nicht und stürmte zur großen Eichentür.
Als sie nach der eisernen Klinke griff, erschien Parko so plötzlich vor ihr, als käme er aus dem Boden, knurrte und schnüffelte. Aus einem Reflex heraus taumelte Teesha zurück, drehte sich aber nicht um. Ihr Blick blieb auf die grässliche bleiche Gestalt gerichtet.
»Lasst mich gehen!«, wandte sie sich mit scharfer Stimme an Corische. Es gab nichts mehr, das er ihr nehmen konnte, nichts mehr, das ihr wichtig war. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
Dann sah sie den großen eisernen Riegel an der Tür, den sie zuvor überhaupt nicht bemerkt hatte. Er war länger als ihre beiden Arme zusammen und so dick und schwer, dass sie bestimmt nicht in der Lage gewesen wäre, ihn zu bewegen.
»Öffnet die Tür für mich«, sagte sie und kehrte Corische noch immer den Rücken. »Zwischen uns gibt es keinen Pakt mehr.«
»Rashed hat den Riegel vor die Tür gesetzt. Selbst mir fiele es schwer, ihn zu entfernen. Hat dir das Essen geschmeckt?«
Hass war ein neues Gefühl für Teesha. Er desorientierte sie, und sie brauchte einige Momente, Corisches abscheuliches Geplauder zu verstehen.
»Wenn Ihr eine Lady für Euer Zuhause wolltet, warum habt Ihr Euch dann keine geholt? Hattet Ihr Angst, dass sie von Eurer lächerlichen Wichtigtuerei und Eurem ungehobelten Gebaren angewidert sein könnte? Nein, Ihr wolltet eine Person, die unter Euch steht, damit Ihr sie herumkommandieren könnt.« Teesha sah Parko an, vor dem sie sich nicht mehr fürchtete, bemerkte dann Rattenjunge in der Ecke. »So wie über den Rest Eurer erbärmlichen kleinen Schar.«
Sie hörte, wie etwas auf den Tisch schlug, so heftig, dass er über den steinernen Boden rutschte. Corische ließ sich leicht in Rage bringen. Gut. Sie drehte sich zu ihm um und sah offenen Zorn.
»Du bist mir auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert, vergiss das nicht«, sagte er.
»Und wenn schon.« Der Wahnsinn in Teeshas Lachen kam dem in Parkos Augen gleich. »Ihr habt meinen Edwan ermordet, und ich werde nichts tun, um Euch Freude zu bringen. Habt Ihr jetzt verstanden? Ich werde weder Euren Tisch zieren noch Eure Gäste unterhalten oder irgendetwas tun, das Ihr wünscht. Ich werde jeden Tag zu fliehen versuchen, bis es mir gelingt. Oder bis Ihr genug habt und mich tötet.«
Corische schwieg verblüfft.
Teesha blinzelte einmal, und plötzlich war er an ihrer Seite.
Seine Hand schoss nach vorn und schloss sich um ihren Arm. Der von ihm ausgehende Geruch erfüllte Teesha mit Ekel, und er drückte so fest zu, dass sie einen schmerzerfüllten Schrei von sich gab.
»Du wirst tun, was ich dir sage«, zischte er. »Ich bin hier der Herr. Dieser Bergfried mag eine armselige Bruchbude sein, aber ich bin der Lord, und du hast mir zu gehorchen.«
»Nein«, wimmerte Teesha. »Du hast meinen Edwan umgebracht.«
Corische strich mit dem Fuß über den Boden, und unter dem Stroh kam eine hölzerne Falltür zum Vorschein, in die ein Eisenring eingelassen war. Er zog die Tür auf und gab Teesha einen Stoß.
Sie rechnete damit, in die Tiefe zu fallen, aber stattdessen stürzte sie über steinerne Stufen, umgeben von Dunkelheit. Als sie schließlich das Ende der Treppe erreichte, stieß ihr Kopf auf den Steinboden, den sie im wenigen von oben kommenden Licht nicht einmal sehen konnte. Ein dumpfes Pochen hallte durch den Raum, als sich die Falltür schloss. Von einem Augenblick zum anderen herrschte völlige Finsternis.
Ein kehliges Knurren kam aus der Schwärze.
»Du wirst tun, was ich dir sage«, erklang eine Stimme. »Weil du gar nicht anders kannst.«
Corische war ihr über die Treppe nach unten gefolgt.
Teesha wich vor der Stimme zurück. Mit der Hand fand sie die unterste Stufe und hastete die Treppe hoch, doch etwas packte ihr Haar und riss sie zurück. Sie fühlte, wie Finger fester zugriffen, und dann prallte ihr Kopf erneut auf den Boden.
Vielleicht verlor sie für einige Momente das Bewusstsein, und dann spürte sie etwas Großes, das auf ihr hockte und sie an den Boden presste. Der Geruch von Corisches Atem traf sie im Gesicht. Seine Hand hielt noch immer ihr Haar und zog so sehr, dass es schmerzte. Teesha schrie instinktiv und versuchte, Widerstand zu leisten. Ihr Schrei verklang abrupt, als sie spürte, wie sich ihr spitze Zähne in den Hals bohrten.
Entsetzt schnappte sie nach Luft und fragte sich, woher das Tier gekommen war. Dann versteifte sie sich und begriff plötzlich, wer ihr in den Hals biss: Corische. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, als sie hörte, wie er ihr Blut trank. Die Dunkelheit um sie herum schien auf ihrer Haut zu prickeln, Teil von ihr zu werden. Ihr schwindelte, und sie atmete immer flacher, bis kaum mehr Luft durch den schlaffen Mund kam.
Plötzlich wich Corische zurück, und Teesha schnaufte, füllte ihre Lungen wieder mit Luft. Unmittelbar darauf zerrte er sie nach oben, in eine sitzende Position. Seine dicken Beine drückten ihre Arme noch immer an die Seiten. Beide Hände schlossen sich um ihren Hinterkopf und pressten das Gesicht an seine Brust.
Der Gestank seines Fleisches ließ sie würgen, aber die Haut war kalt. Und sie spürte etwas Feuchtes im Gesicht.
Teesha öffnete den Mund, versuchte zu atmen und fühlte, wie sich die Feuchtigkeit auf ihren Lippen ausbreitete. Ein metallischer Geschmack erreichte die Zunge. Die Flüssigkeit war so kalt wie die Haut, aber sie kannte den Geschmack von den Gelegenheiten, bei denen sie sich während der Zubereitung von Speisen geschnitten und den Finger zum Mund gehoben hatte.
Corische drückte ihr Gesicht noch fester an seine Brust, bis Teesha überhaupt nicht mehr atmen konnte und spürte, wie ihr sein Blut in den Mund drang. In der Dunkelheit wurden die Wahrnehmungen unwirklich und fern, bis alle Gefühle in ihrem Leib verblassten und sie ganz zu atmen aufhörte.
Teesha erwachte auf dem steinernen Boden und fragte sich, wie viel Zeit verstrichen war. Stunden oder Tage? Irgendwie fühlte es sich noch länger an. Es gab ein wenig Licht, obwohl die Falltür am Ende der Treppe noch immer geschlossen war. Rashed beugte sich über sie, mit einer Öllampe in der Hand. Etwas zeigte sich kurz in seinem Gesicht. Mitleid? Reue? Sie setzte sich auf, und ihr furchtsamer Blick huschte durch den Raum, aber Corische war nicht da; bis auf Rashed und sie war das Zimmer leer. Der Treppe gegenüber bemerkte sie eine schwere hölzerne Tür mit einem eisernen Riegel.
Rashed stand auf und öffnete die Tür, hinter der ein langer Korridor weiter nach unten führte. Zu beiden Seiten gab es Türen wie die erste, jede mit einem Riegel versehen. Hinzu kamen mit Schlössern ausgestattete Stahlbeschläge an den Türpfosten.
»Dies ist einmal ein Kerker gewesen«, sagte Rashed.
Teesha war zu schwach und verwirrt, um Fragen zu stellen oder ihn zurückzuweisen, als er sie hochhob und, die Lampe in der anderen Hand, durch den Korridor trug. Er blieb nicht an einer der Türen stehen, sondern schritt bis zum Ende des Ganges, drückte dort die Hand an eine bestimmte Stelle der Wand und achtete darauf, Teesha nicht fallen zu lassen. Der Stein unter seiner Hand gab nach, und Rashed griff in die Lücke. Teesha hörte ein Geräusch, wie von Metall, das über Metall kratzte, und dann knirschten Steine, als sich die Wand zur Seite drehte und den Weg zu einer Treppe freigab, die noch weiter in die Tiefe führte. Rashed schritt die Stufen hinunter.
Teesha wusste nicht, wie viele Stufen hinter ihnen lagen, als sie schließlich einen Raum erreichten, der fünf Särge enthielt. Vier waren aus einfachem Holz und kaum mehr als lange Kästen. Der fünfte bestand aus Eichenholz, wies breite Eisenbänder auf und war ganz offensichtlich für die letzte Ruhe bestimmt. Allerdings fehlten Tragegriffe.
»Hier musst du jetzt schlafen«, sagte Rashed. »In einem Sarg, mit der Erde deines Heimatlandes. Wenn du ins Sonnenlicht hinausgehst, stirbst du.« Er setzte sie auf einem der vier Särge ab. »Du ruhst hier, neben meinem Sarg. Ich habe deinen für dich vorbereitet.«
Die sorglose Serviererin namens Teesha existierte nicht mehr. Etwas anderes nahm ihren Platz ein.
Während der nächsten Nächte erfuhr sie viele Dinge: dass sie sich den Wünschen ihres Herrn nicht widersetzen konnte, dass sie für ihre Existenz Blut brauchte, dass Rasheds Sarg zur Hälfte mit weißem Sand gefüllt war und dass sie untot war. Rashed erklärte ihr alles mit unendlicher, leidenschaftsloser Geduld. Zwar wünschte sie sich manchmal den Rest des Todes, aber der Hass auf Corische veranlasste sie, jede Nacht aufzustehen.
Er war mehr als nur der Lord des Bergfrieds. Er war ein Herr unter den Edlen Toten, jenen Untoten, die ihr volles Selbst in einer ewigen Existenz bewahrten – sie unterlagen nicht der Sterblichkeit, die die Lebenden alt und schwach werden ließ. Es waren Vampire und Lichen, die physische Körper hatten, alle ihre Erinnerungen und ein vollständiges Bewusstsein. Die Edlen Toten waren die höchsten und mächtigsten Wesen unter den Untoten. Bei Vampiren bestand die einzige Schwäche darin, dass sie jenen gehorchen mussten, die sie geschaffen hatten. Corisches Schöpfer war durch irgendetwas ausgelöscht worden, was ihm die Freiheit gab, sich eigene Diener zu schaffen.
Teesha stellte fest: Wenn er ihr etwas befahl, konnte sie sich nicht widersetzen. Sie verachtete ihn und stellte sich vor, wie er in Flammen verbrannte – die Gedanken blieben frei. Aber wenn er sprach, musste sie gehorchen. Das galt auch für Rashed, Parko und Rattenjunge. Rashed wäre vielleicht ohnehin bereit gewesen, alle Anweisungen auszuführen, die er von Corische bekam. Er schien seinem Herrn wirklich treu zu sein. Das empörte Teesha, denn sie zweifelte nicht daran, dass er Corische in jeder Hinsicht überlegen war.
Rashed lehrte sie, wie man sich ernährte, ohne zu töten, wie man den Klang der Stimme mit dem Willen synchronisierte, damit das Opfer sanftmütig und gefügig wurde.
Als sie Rashed fragte, warum er solche Rücksicht auf Sterbliche nahm und sie nicht töten wollte, war seine kühle Antwort rein praktischer Natur.
»Selbst eine so dicht bevölkerte Gegend wie diese kann vier von uns nicht ernähren, wenn wir rücksichtslos sind. Wir müssen vorsichtig sein. Andernfalls riskieren wir, unser Zuhause und unsere Versorgung zu verlieren.«
Teesha erfuhr, dass die Untoten verschiedene Ebenen von Macht erreichten. Rashed hielt ihre geistigen Fähigkeiten für sehr gut, die eigenen und die von Rattenjunge für ausreichend. Parko konnte sich nicht gut genug ausdrücken, um den anderen Gelegenheit geben, sein mentales Potenzial zu beurteilen, doch seine Sinne waren sehr scharf, noch schärfer als die verstärkten Sinne eines Edlen Toten. Rashed war ständig bemüht, ihn unter Kontrolle zu halten. Corisches telepathische Fähigkeiten waren so begrenzt, dass sich Teesha manchmal fragte, wie er an Nahrung kam.
Die meisten Edlen Toten entwickelten geistige Fähigkeiten, aber oft hingen sie von den Neigungen und Talenten der betreffenden Person im Leben zuvor ab. Teesha hatte immer Träume und Erinnerungen geliebt. Sie fand heraus, dass es ihr leichtfiel, das Bewusstsein eines Sterblichen zu erreichen, angenehme Wachträume zu projizieren und Erinnerungen zu verändern.
Als Rashed sie zum ersten Mal auf die Jagd mitnahm, war es wie eine Offenbarung für sie. Eine Zeit lang ritten sie gemeinsam auf seinem braunen Wallach, stiegen dann ab und banden das Pferd an einem Baum fest. Sie schlichen durch den Wald, und nach einer Weile merkte Teesha, dass sie sich am Rand ihres Heimatdorfes befanden. Ein Bauer kam aus der Taverne und wankte in den Wald, um sich zu erleichtern. Teesha erkannte ihn. Sein Name lautete Davisch.
»Pass auf«, sagte Rashed. »Dies ist wichtig.«
Er trat aus dem Schatten. »Hast du dich verirrt?«, fragte er Davisch.
Der Bauer erschrak ein wenig, als er die seltsame Stimme hörte. Dann sah er Rashed in die Augen und entspannte sich ein wenig. »Verirrt? Ich … ich bin mir nicht sicher.«
»Komm. Ich zeige dir den Weg nach Hause.«
Davisch schien sich zu fürchten, aber nicht vor Rashed. Er sah sich immer wieder um, als wüsste er nicht mehr, wo er sich befand. Rashed streckte die Hand aus, als wollte er ihm helfen, doch dann packte er seinen Arm, zog ihn heran und biss ihn sofort in den Hals. Teesha beobachtete fasziniert.
Rashed trank nur wenig und schob den benommenen Bauern dann zu ihr. »Trink ebenfalls, aber nicht zu viel. Du darfst ihn nicht töten. Bald machst du dies allein.«
Teesha zog Davisch zu sich, begann zu trinken und konnte plötzlich gar nicht genug bekommen. Es überraschte sie, wie richtig es sich anfühlte – es widerte sie keineswegs an. Dann merkte sie, wie köstlich das Blut schmeckte, dass es ihr angenehme Wärme und wunderbare Kraft gab. Wohlbehagen breitete sich in ihr aus, und ihr Mund blieb an Davischs Hals.
»Das reicht.« Rashed trennte sie voneinander. »Töte ihn nicht.« Er legte Davisch zu Boden, und mit einem Messer verband er die beiden von seinen spitzen Zähnen stammenden Löcher am Hals. Er war dabei sehr vorsichtig und schnitt nicht zu tief. Anschließend beugte er sich tiefer und flüsterte: »Vergiss.«
»Was hast du gemacht?«, fragte Teesha.
»Man berührt ihre Gedanken mit den eigenen und sorgt dafür, dass Furcht und andere Gefühle verschwinden.«
Und so erfuhr Teesha, dass Rashed Emotionen manipulieren und im Geist seiner Opfer eine leere Stelle entstehen lassen konnte. Ihre eigene Spezialität bestand darin, Träume zu schaffen und komplexere Erinnerungen zu verändern.
Rattenjunge nutzte bei der Jagd sein Talent, unbemerkt zu bleiben. Niemand sah ihn. Niemand erinnerte sich an ihn. Er jagte nicht mit Finesse oder indem er Träume schuf, sondern indem er sich auf seine Fähigkeit konzentrierte, vergessen zu werden. Das war alles.
Parko tötete seine Opfer häufig, aber es waren hauptsächlich Bauern. Als Herr des Bergfrieds Gäestev oblag es Corische, den Todesfällen auf den Grund zu gehen, und so fanden natürlich keine Ermittlungen statt.
Teesha jagte entweder allein oder mit Rashed, dessen Weitblick und Vernunft sie beeindruckten. Er war nicht berechenbar, aber konstant. In ihrer neuen Existenz konnte sie sich außer auf sich selbst nur auf sein intelligentes, ruhiges Wesen verlassen.
Corische hingegen offenbarte Stimmungsschwankungen, die sie nie verstand. In einer Nacht gefiel ihm das Kleid, das sie trug, und in der nächsten fand er das gleiche Kleid abscheulich und nahm es zum Anlass, sie zu demütigen. Seine schmutzige Rüstung und die gelben Zähne ekelten sie an. Wahrer Hass war ein neues Gefühl für Teesha, und deshalb erforschte sie alle seine Nuancen. Sie begann zu überlegen, wie es um Corisches Selbstbeherrschung bestellt war und auf welche Weise sie sich gegen ihn durchsetzen konnte, obwohl sie gezwungen war, seinen Befehlen nachzukommen. Gehorchen musste sie nur, wenn er eine verbale Anweisung erteilte, und deshalb kam nur eine indirekte Vorgehensweise infrage. Sie brauchte einen Monat, die Lösung des Problems zu finden, und letztendlich war sie ganz einfach.
Sie beschloss, genau das zu werden, was er sich angeblich wünschte.
Ein halbes Jahr verging, und zuerst nahm Teesha nur kleine Veränderungen vor. Sie begann mit Nadelarbeiten und ließ sich von einer talentierten Frau aus der Gegend dreimal in der Woche Unterricht erteilen. Sie bat Corische um Geld und bestellte hübsche Kleider in der Art, die ihm besonders gefiel. Und er fand nach und nach Gefallen an ihren Bemühungen.
Da Corische die Rolle eines Lehnsherrn spielte, konnte er seine Pflichten nicht völlig ignorieren, und deshalb strich er Abgaben ein und saß manchmal über Bauern zu Gericht, denen Bagatelldelikte zur Last gelegt wurden. Aber in jenem ersten Jahr ließ er ein Kasernengebäude auf der Nordseite des Bergfrieds errichten und verbot den Soldaten dann, sein Zuhause zu betreten. Ein tüchtiger Offizier in mittleren Jahren, Hauptmann Scheit, kümmerte sich zusammen mit Rashed um die Arbeiten, die die Verwaltung eines aus vier Dörfern bestehenden Lehens mit sich brachte.
Eines Abends, als Corische und Rashed aufbrachen, um Mietgeld einzutreiben, beobachtete Teesha, wie Rashed den Eisenriegel an der Tür hob. Er war das körperlich stärkste Geschöpf, das sie kannte, eine unsterbliche Inkarnation von Knochen und Muskeln. Aber sie hatte auch begonnen, seine kühle Leidenschaftslosigkeit zu durchschauen. Manchmal ertappte sie ihn dabei, wie er mit großer Aufmerksamkeit eine ihrer Nadelarbeiten betrachtete oder sich die kleinen Dinge ansah, die sie kaufte, um einen richtigen adeligen Haushalt zu schaffen. Rashed sehnte sich nach dem Drumherum der Lebenden. Teesha sah keine Schande darin und wusste, dass sie seine Sehnsucht zu ihrem Vorteil nutzen konnte. An jenem Abend beschloss sie, ihre Pläne zu beschleunigen.
Zuerst ließ sie alle Räume über dem Keller von einem Hausmeister reinigen, den sie in ihre Dienste nahm und glauben ließ, Corische und sie wären ein Paar gelangweilter Adeliger, die des Nachts prassten und schlemmten und den ganzen Tag schliefen. Sie bestellte Tapisserien, Zierteppiche und Musselin-Bettwäsche für die beiden kleinen Gästezimmer, einen Kronleuchter mit vierzig Kerzen, Silberbecher und Porzellanteller. Jeden Abend zündete sie ein großes Feuer in der Grube an, um die Illusion von Leben und Wärme zu schaffen. Zwar sagte sie sich, dass es eine List Corische gegenüber war, aber sie entdeckte Aspekte des eigenen Selbst, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Handelte es sich bei Geschmack und Stil nicht um erlernte Dinge, die die Reichen ihre Kinder lehrten? Hatte sie das nicht selbst immer geglaubt? Zusammen mit Edwan in der Taverne war Teesha zufrieden gewesen. Sie hatte ein Kleid im Sommer getragen und ein anderes im Winter. Warum hatte sie sich nie daran gestört und nicht erkannt, dass man sich viel mehr wünschen konnte? Sie hasste Corische, doch ein Teil von ihr war dankbar dafür, wie sein Fluch ihr die Augen geöffnet hatte.
Mit wachsender arroganter Zufriedenheit beobachtete Corische, wie Teesha mit jedem verstreichenden Tag tiefer in die Rolle schlüpfte, die er von ihr erwartete. Und sie beobachtete, wie Rasheds Faszination wuchs, als sich der kalte Bergfried langsam in einen Ort des Lebens verwandelte. Es bereitete ihr sogar eine gewisse Zufriedenheit, ihn zu erfreuen. Und genau darum ging es: Er war der Einzige, den sie erfreuen wollte.
Schließlich achtete Corische nicht mehr auf die Dinge, mit denen sich Teesha beschäftigte. Sie machte, was er wollte, und er sprach sie kaum mehr darauf an. Rashed andererseits konnte seine zunehmende Anerkennung nicht verbergen, die gelegentlich für ein oder zwei Sekunden die grimmige Kälte aus seinem Gesicht vertrieb. Er fragte, woher Teesha die letzte Tapisserie bekommen hatte und wie sie die seltsam geformte Vase mit den Blumenmustern verwenden wollte. Einmal lobte er sogar das Knotenmuster, das sie in einen Kissenbezug stickte.
Spät an einem Abend, als Corische unterwegs war, schlich sie hinunter in den Hauptraum, wo Rashed allein war und sie nicht bemerkte. Ein umwickeltes und verschnürtes Bündel mit neuen Stoffen lag auf dem Tisch, und er versuchte, einen Blick hineinzuwerfen, ohne einen Hinweis auf seine Neugier zu hinterlassen.
Für einen Moment vergaß Teesha Rasheds Platz in ihrem Plan und beobachtete ihn, fasziniert von seiner Besessenheit in Hinsicht auf die Dinge der Sterblichen. Eine vergessene Sanftheit erfasste sie kurz. Der Schein des Feuers gab seinem Gesicht etwas Farbe, und er wirkte sehr attraktiv, als er dort am Tisch stand und neugierig wie ein Kind auf das Bündel hinabsah. Dann erinnerte sich Teesha an ihre Situation und schüttelte das Gefühl ab. Sie musste sich ihn als Werkzeug vorstellen. Sie wollte ihn als Instrument verwenden und durfte sich von Gefühlen nicht davon abhalten lassen, ihn zu benutzen.
Nach einem weiteren Monat begann Corische, Gäste in den Bergfried einzuladen, zunächst nur den Lord des Nachbarlehens, dann einige andere, als der erste Besuch erfolgreich war. Teesha begriff, dass er seinen sozialen Status verbessern und in der politischen Hierarchie der Sterblichen aufsteigen wollte. Als das Jahr zu Ende ging, weitete Teesha ihre Studien aus. Corische überließ es ihr, die Geschäftsbücher des Hauses zu führen, und sie nutzte die Möglichkeit, Schriftrollen und Bücher zu bestellen.
Sie befasste sich mit Geschichte und Sprachen. Lord Corische wusste, dass sie sich weiterbilden wollte, und er hinderte sie nicht daran. Aber er zeigte auch kein aktives Interesse und schien immer dann zurückzuscheuen, wenn sie von einem neuen Text hingerissen war. Rashed hingegen lobte ihre Bemühungen und begann zu ihrer großen Überraschung damit, sie Mathematik und Astronomie zu lehren. Die meisten der Bücher interessierten ihn nicht, aber er war ganz offensichtlich gebildet und unterrichtete sie allein auf der Basis dessen, was er wusste. Auf diese Weise erfuhr sie etwas von seiner Heimat, den großen Wüstenländern, die er Sumanisches Reich nannte. Die Beschäftigung mit den Wissenschaften gab ihr noch mehr Anlass, ihr neues Leben zu schätzen – wenn man es »Leben« nennen konnte. Es gab so viel zu lernen und zu verstehen, und in ihrer früheren Existenz hatte sie überhaupt keinen Gedanken daran vergeudet. Sie hatte gar nicht gewusst, dass jenseits ihrer kleinen Welt aus gewürzten Rüben und Edwan solche Dinge existierten. Wie seltsam, wie traurig.
Zwar lernte sie fleißig Astronomie und Sprachen, doch über die anderen Mitglieder des Haushalts erfuhr sie kaum mehr. Im Lauf der Zeit wurde die verbale Verständigung mit Parko immer schwieriger. Er verbrachte die Nächte oft draußen und erschien nur, wenn Corische etwas von ihm wollte. Er schien einen besonderen Sinn zu haben, der ihn darauf hinwies, wann sein Herr ihn im Bergfried wünschte. Rattenjunge hingegen kam immer dann aus irgendeiner Ecke, wenn ihm der Sinn danach stand. Mehrmals bemerkte sie, dass er sie aufmerksam beobachtete, und wenn sie dann den Blick auf ihn richtete, wandte er sich mit übertriebenem Desinteresse ab. Er war immer höflich, aber auch gelangweilt und unzufrieden – was Teesha genau zur Kenntnis nahm.
Während des zweiten Jahres begann Corische damit, noch öfter Gäste zu empfangen, mindestens einmal im Monat.
Im dritten Jahr kam eine Karawane durchs Dorf. Teesha brach kurz nach der Abenddämmerung auf und kaufte, bevor die Händler ihre Zelte für die Nacht schlossen, wundervollen burgunderfarbenen Brokat, mit Silberfäden durchwirkt. Den nächsten Monat arbeitete sie insgeheim und nähte Rashed einen erlesenen Kasack. Früh an einem Abend wurde sie damit fertig, wartete im Hauptraum und wusste, dass er bald kommen würde, wie immer.
»Hier«, sagte sie. »Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Neues gebrauchen.«
Er antwortete nicht, als sie ihm das eingepackte Bündel reichte. Seine linke Augenbraue zuckte kurz in Verwunderung, als er es entgegennahm, keine Zeit verlor und das Bündel sofort öffnete.
Rashed sah Teesha kurz an, blickte dann wieder auf den Kasack und betrachtete ihn eine Weile. Stumm drehte er sich um, und seine Hände zitterten ein wenig, als er den Musselin wieder um den Kasack faltete und dann zu seinem Zimmer ging. Erst später begriff Teesha, warum Rashed ihn nicht sofort angezogen hatte. Er trug ihn nur dann, wenn er für Gäste besonders gut aussehen wollte, und wenn das der Fall war, achtete er sehr darauf, den prächtigen Stoff nicht zu beschmutzen.
Doch an jenem Abend saß Teesha zufrieden da, als Rashed mit ihrem Geschenk in den Händen durch den Seitengang verschwand. Er glaubte, nichts von seinen Gefühlen zu verraten, aber ihr fiel es nicht schwer zu erkennen, was in ihm vorging. Sie sagte sich, dass das Geschenk nur dazu diente, ihn weiter auf ihre Seite zu ziehen. Aber er hatte sich sehr gefreut, oder?
In Gedanken war Teesha so sehr mit Rashed beschäftigt, dass es einige Momente dauerte, bis sie merkte, dass sie beobachtet wurde. Mit einem missmutigen Gesichtsausdruck drehte sie den Kopf und rechnete damit, Rattenjunge in einer Ecke zu sehen, aber sie hätte sich nicht mehr irren können.
Der sich ihr bietende Anblick hätte jemand anders – vielleicht sogar die Mitglieder ihres gegenwärtigen Haushalts – veranlasst, erschrocken zurückzuweichen. Aber nicht Teesha. Sie erstarrte und brachte keinen Ton hervor, und für ein oder zwei Sekunden empfand sie sogar so etwas wie Furcht. Dann erschien Trauer in ihren Augen, und ihr Herz schien zum zweiten Mal zu brechen. Es rollten keine Tränen über die Wangen, denn Tote konnten nicht weinen. Dreimal versuchte sie vergeblich zu sprechen, wankte dann durch den Raum und blieb auf halbem Wege stehen. Schließlich lächelte sie.
Edwan stand am Fuß der Treppe und zeigte seine schreckliche, transparente Gestalt.
Vielleicht war Teesha schon so lange Teil eines Albtraums, dass es sie nicht entsetzte, den Geist ihres toten Mannes zu sehen. Möglicherweise war der Tod für sie eine so intime Angelegenheit, dass sein Erscheinungsbild keinen Abscheu in ihr wecken konnte. Ihr Lächeln wuchs in die Breite, und dann lachte sie erleichtert.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte sie.
»Von … Anfang an«, sagte Edwan. Der Ton passte nicht genau zur Bewegung der Lippen des halb abgetrennt auf der Schulter liegenden Kopfes. »Ich habe gesehen … was er mit dir gemacht hat.«
Teeshas Lächeln verblasste. »Und du hast mich allein gelassen?«
Das Sprechen schien Edwan schwerzufallen, aber sie konnte den Ausdruck seines blassen, blutleeren Gesichts deuten.
»Du bist nicht allein gewesen«, erwiderte er fast gereizt, und seine Worte wurden deutlicher. »Ich hatte Angst, mich dir zu zeigen. Ich existiere im Moment meines Todes.« Den Kopf konnte er nicht bewegen, und deshalb drehte er sich um, entzog ihr auf diese Weise seinen Blick.
Teesha trat näher, sah sich kurz um und vergewisserte sich, dass sonst niemand zugegen war. Sie streckte die Hand aus, um Edwan zu berührten, doch sie glitt durch seine Brust, ohne dass sie etwas fühlte.
Edwan hatte die Augen geschlossen und öffnete sie jetzt wieder.
»Du bist schön für mich«, sagte Teesha und meinte es ernst.
»Dann verlass diesen Ort. Ich bin an dich gebunden, und wenn du gehst, folge ich dir.«
»Edwan …«, erwiderte Teesha erstaunt. »Ich kann diesen Ort nicht verlassen. Ich bin an meinen Herrn gebunden.«
»Hast du dich aus diesem Grund verändert? Bemühst du dich deshalb, sowohl diese Räume als auch dich selbst hübsch für ihn zu machen?«
Für einen Moment glaubte Teesha, dass er Corische meinte, doch dann bemerkte sie, dass er kurz in den Seitengang sah, in dem Rashed kurz zuvor verschwunden war. Wie sollte sie ihm die Jahre erklären, die inzwischen vergangen waren? Die Zeit reichte nicht – es dauerte bestimmt nicht lange, bis jemand kam und Edwan entdeckte. Deshalb tröstete sie ihn mit einigen raschen Worten.
»Wir werden frei sein, mein Edwan. Ich habe es geplant.«
Ein weiteres Jahr verging. Manchmal fühlte Teesha ihren Mann in der Nähe, selbst während der Präsenz der anderen. Niemand von ihnen schien den Geist zu bemerken, nur sie. Sie las und lernte, ließ nie die geringste Gelegenheit aus, Rashed eine Freundlichkeit zu erweisen. Sie kaufte spezielle Eisen, die man erhitzen konnte, und damit drehte sie sich Locken, bevor sie das Haar hochsteckte. Ihre Kleider wurden einfacher und dunkler, aber eleganter. Manchmal klopfte Rashed an die Tür, und wenn er hereinkam, sah er, wie sie sich zurechtmachte oder ein Gewand anprobierte. Wenn er gegangen war, erschien Edwan mit schlecht verhüllter Sorge, und dann stellte sie sich für ihn zur Schau und sagte ihm, wofür sie all die Zeit gearbeitet hatte und dass das Ziel bald erreicht war. Sie wagte es nicht, in Erwägung zu ziehen, dass Rasheds Meinung über ihre Kleider die einzige war, die eine Rolle spielte.
Während dieser Phase hatte sie mit ihrem Herrn kaum etwas zu tun. Er rührte sie nie an und suchte nur selten ihre Gesellschaft, es sei denn, sie hatten Gäste. Er hörte sogar auf damit, in ihrem Gehorsam zu schwelgen, nahm ihn einfach als gegeben hin, so wie bei Rashed.
Dann lud Corische eines Abends sechs Lords und ihre Ladys aus dem südlichen Strawinien zu gebratenem Fasan und gelagertem Frühlingswein ein.
Sowohl Corische als auch Teesha verstanden es gut, den Anschein zu erwecken, dass sie aßen. Die Aufnahme gewöhnlicher Nahrung war für Untote nicht unmöglich. Aber sie gab ihnen keine Kraft, und nur rohe Nahrungsmittel, insbesondere Obst, hatten ein echtes Aroma für sie. Gekochtes Fleisch schmeckte für sie fade und fast widerlich. Wein war erträglich, manchmal sogar angenehm.
Während Corische versuchte, einen der Adeligen auf eine exquisite Tapisserie aufmerksam zu machen, die Teesha aus Belaski hatte kommen lassen, unterbrach sie ihn höflich und stellte dem betreffenden Lord eine Frage. Sie formulierte sie in der alten, wenig bekannten strawinischen Sprache, die hauptsächlich von Adeligen mit zu viel freier Zeit und einer zu hohen Meinung von ihrer Blutlinie gesprochen wurde. Es fiel ihr leicht, die Oberflächengedanken im Bewusstsein des Adeligen zu erfassen und ihren Akzent zu perfektionieren, noch bevor sie den Satz beendet hatte.
Der Lord lächelte erfreut, stellte sein Glas mit einem Ruck auf den Tisch und antwortete. Alle am Tisch unterhielten sich plötzlich angeregt in der fast toten Sprache – bis auf Corische. Zuerst saß er in vagem Unbehagen da und war vielleicht ein bisschen nervös, weil er nicht wusste, was um ihn herum gesprochen wurde. Dann fing Teesha seinen Blick ein.
Sie sah ihn mit all der Verachtung an, die sich in den vergangenen Jahren in ihr angesammelt hatte, und Corische begriff plötzlich.
Sein Unbehagen verwandelte sich in mühsam kontrollierten Zorn. Teesha fühlte eine herrliche Mischung aus Zufriedenheit, Triumph und Rache. Es dauerte jetzt nicht mehr lange bis zum Höhepunkt ihres Plans.
Kurz vor Morgengrauen, als die Gäste in ihren Betten schliefen, fand Corische Teesha am Feuer sitzend. Seit einiger Zeit kleidete er sich ähnlich wie Rashed – er trug eine gut geschnittene Kniehose und einen orangefarbenen Kasack. Auf das Kettenhemd verzichtete er.
»Nimm dir nicht zu viel heraus, meine Lady«, sagte er sarkastisch. »Beim Essen habe ich mich über dich geärgert.«
»Tatsächlich?« Teesha hob perfekt gezupfte Brauen und beobachtete, wie Corische ihr schwarzes, tief ausgeschnittenes Kleid und das geflochtene schokoladenbraune Haar zur Kenntnis nahm. »Es liegt daran, dass du nicht adelig bist und unserem Gespräch nicht folgen konntest.« Ihr Tonfall blieb ruhig und höflich, aber sie verzichtete jetzt auf das Ihr und Euch. »Ich weiß, dass Rashed dich für alt hält, aber sein gutes Herz lässt sich leicht täuschen. Was warst du im Leben, mein Lord? Ein Söldner? Ein Karawanenwächter? Wie bist du deinem eigenen Herrn entkommen?«
Ihr Spott berührte eine Saite in ihm, und er trat zurück. »Du wirst nicht auf diese Weise mit mir sprechen«, sagte er scharf.
»Wie du befiehlst, mein Lord.«
Sie musste ihm gehorchen, doch die Verachtung in ihrem Blick blieb.
Corische brauchte noch ein wenig länger, um zu verstehen, was aus Teesha geworden war, und daraufhin verlor er seine Zufriedenheit. Oft führte sein Ärger dazu, dass er sich wie ein ungehobelter Rüpel verhielt. Teesha war vornehm in allen Dingen, auf die es ankam; in ihrer Gesellschaft wirkte Corische unfein und vulgär. Wie sehr er sich auch bemühte: Er konnte den Vorsprung nicht einholen, den Teesha in Jahren des Lernens gewonnen hatte, während er wie ein ungebildeter Soldat damit beschäftigt gewesen war, den hohen Herrn herauszukehren. Er reagierte mit Zorn und drohte ihr mit Unterwerfung, und sie unterwarf sich ihm bereitwillig, weil sie wusste, dass ihn das noch mehr wurmte. Wenn sie sich veränderte und wieder wie Teesha die Serviererin aussah und sich so verhielt … Was würden seine adeligen Bekannten davon halten? Seinen Status in der Gesellschaft der Sterblichen verdankte er allein ihr.
Er wechselte die Taktik und begann von vorn. Zuerst kamen die Komplimente, die er ihr bei Festessen für Gäste ins Ohr flüsterte – und alle sahen die Begierde in seinen Augen und den Abscheu in ihren, vermischt mit einem Hauch gut gespielter Furcht. Es folgten die Geschenke, zum Beispiel eine Halskette mit Perlen, die wie Blütenblätter angeordnet waren. Corische gab sie ihr bei einem Ball, den ein benachbarter Lord veranstaltete. Teesha zuckte zusammen und schauderte, als er sie ihr um den Hals legte, und ihr Blick war der eines Rehs, das vor dem Jäger floh. Einmal, als sie allein waren, versuchte er, ihr zu sagen, wie aufrichtig lieb er sie gewonnen hatte. Sie antwortete ihm mit einem leeren, kalten Gesicht.
Corische begann mit langen Jagdausflügen. Manchmal blieb er die ganze Nacht weg und kehrte erst kurz vor dem Morgengrauen zurück.
Wenn Teesha auch nur den geringsten Kummer in Hinsicht auf ihre neue Existenz verspürte, so betraf er Edwan, der das Geschehen unsichtbar beobachtete. Sie verbarg dieses Empfinden, vor allem dann, als sie ernsthaft mit Rashed zu spielen begann.
Inzwischen war es kein Geheimnis mehr, dass er sie auf die Art eines Weißen Ritters verehrte. Sie nähte ihm prächtige Kleidung, richtete freundliche Worte an ihn und wusch sogar seine Wäsche. Immer kümmerte sie sich zuerst um ihn. Manchmal trat sie zu ihm, wenn er die Bücher führte, oder legte ihm die Hand auf die Schulter, wenn sie miteinander sprachen. Wie immer verdrängte sie alle Gedanken an die Festigkeit seiner Muskeln und sah ihn allein als ihr Werkzeug. Wenn sie anschließend wieder allein war, erschien Edwan, der Verzweiflung nahe.
»Warum machst du das?«
»Was meinst du?«
»Warum verführst du den Wüstenmann?«
»Wir brauchen ihn, Edwan.« Teesha sprach in einem neutralen Tonfall, ohne Ärger oder Gram. »Kann ich einen Pflock durch Corisches Herz schlagen? Kannst du es? Kannst du den Eisenriegel von der Tür heben?«
Ihr Mann stöhnte und verschwand in einem Blitz. Sie bedauerte seinen Schmerz, aber es ging nicht anders. Sie brauchten Rashed.
Am nächsten Abend stand ihr Herr auf und verließ den Bergfried, als die Sonne untergegangen war. Teesha saß an der Feuergrube und nähte. Als Rashed hereinkam, schenkte sie ihm ein Lächeln. Er nickte, wandte sich zum Gehen und zögerte.
»Was treibst du?«, fragte er.
»Ich nähe eine Tischdecke.«
Rashed schüttelte den Kopf und trat mit der Gewissheit näher, dass sie wusste, was er meinte.
»Ich weiß, dass du Corische verachtest. Aber es gibt da einige Aspekte von ihm, die du nicht kennst. Er ist ein hervorragender Kämpfer. Dort liegt seine wahre Macht.«
»Bist du ihm deshalb gefolgt?«
Rashed richtete einen durchdringenden Blick auf Teesha und schöpfte vielleicht Verdacht. »Willst du das wirklich hören? Ich dachte, die Vergangenheit interessiert dich nicht.«
»Gewisse Dinge der Vergangenheit sind sehr wichtig für mich. Ich würde gern wissen, wie jemand wie du Sklave eines so niederen Wesens werden konnte, das es nicht einmal wert ist, zu deinen Füßen zu knien.«
Ihre Offenheit überraschte Rashed, und er schien verwirrt.
»Ich kämpfte im Westen von Il’Mauy Meyauh, einem Königreich des Sumanischen Reichs auf der anderen Seite des Ozeans. Mein Volk führte Krieg gegen eine Gruppe freier Wüstenstämme. Ich habe keine Ahnung, woher Corische kam, aber ich weiß, dass sein Herr durch ein Unglück im Feuer starb. Damals verstand ich nicht, aber heute frage ich mich, wie ein Untoter unserer Art einem Unglück zum Opfer fallen kann. Als er frei war, wollte Corische seine Position mit eigenen Dienern sichern. Er war vorsichtig und wählte nur Leute, die er leicht kontrollieren kann, wie Rattenjunge … und Parko, meinen Bruder.
Eines Nachts verschwand Parko aus unserem Lager. Ich folgte seiner Spur und fand Corische. Wir kämpften. Ich war nur ein Sterblicher, aber trotzdem musste er sich anstrengen, um den Sieg zu erringen. Schließlich durchbohrte er mein Herz. Als ich verblutete, machte er mir ein Angebot. In jenem Moment dachte ich nur daran, dass Parko ohne mich nicht zurechtgekommen wäre. Es waren seltsame, dumme Gedanken. Als Corisches Diener kam ich wieder zu mir. Er trat mein Erbe an und zwang uns alle, mit ihm nach Norden zu reisen. Wir überquerten das Meer und erreichten Belaski. In Strawinien fand er die Gunst eines mächtigen sterblichen Lords. Mein Herr und ich zeichneten uns im Kampf für ihn aus. Fünf kurze Jahre später schickte er uns hierher, zum Bergfried Gäestev. Nach der Wärme des Südens war dies ein eisiges Gefängnis, bis …«
»Bis ich kam und alles verschönerte?«, fragte Teesha fast schelmisch.
Rashed nickte stumm.
Teesha spürte, wie er wieder in der Erleichterung Zuflucht suchte, die es für ihn gab, seit sie den Bergfried in einen angenehmen Ort verwandelt hatte. Aber diesmal gestattete sie ihm jene Ruhe nicht.
»Dies ist nicht unser Zuhause«, zischte sie. Die Veränderung ihres Tonfalls veranlasste Rashed, erneut überrascht zurückzuweichen. »Ganz gleich, was ich hier gemacht habe … Es ist sein Heim. Wir sind hier nur Randfiguren, mehr nicht, und werden auch nie mehr sein!«
Rashed starrte sie an und schwieg länger als jemals zuvor. Es leuchtete kein Misstrauen mehr in seinen Augen. Er war verwirrt und innerlich von den Wünschen bewegt, die Teesha über Monate und Jahre hinweg in ihm gesät hatte.
»Was sollten wir deiner Meinung nach tun?«, fragte er schließlich.
»Gäestev verlassen, nach Südwesten zur Küste reisen und uns dort ein eigenes Zuhause schaffen.«
»Du weißt, dass wir das nicht können«, erwiderte Rashed. »Corische wird immer unser Herr sein.«
»Nicht wenn er tot ist … endgültig tot.«
Daraufhin änderte sich Rasheds Gebaren. Seine Stimme wurde kalt, gedämpft, fast grimmig.
»Sag so etwas nicht.« Er ließ sich auf eine Sitzbank sinken und starrte sie an. Dann glitt sein Blick fort von ihr und durch den Raum.
»Warum nicht? Es stimmt«, erwiderte Teesha. »Du dienst ihm, aber ich sehe den Groll unter der kalten Maske, die du trägst. Du hast seinen Aufstieg zur Macht mit dem Geld deiner Familie und deinen eigenen Fähigkeiten bezahlt. Doch er behandelt dich wie seinen Besitz, wie uns alle, und solange er existiert, sind wir seine Sklaven.« Sie rutschte von der Sitzbank herunter, kniete nieder und berührte sein Bein. »Wenn ich noch viel länger bei ihm bleiben muss, finde ich eine Möglichkeit, meine Existenz zu beenden«, sagte sie leise.
Rashed beugte sich zurück, blickte aber weiterhin auf sie hinab. »Wenn es ihn nicht mehr gäbe … Würdest du diesen Ort zusammen mit mir verlassen?«
»Ja, und wir würden Rattenjunge und Parko mitnehmen. Wir könnten ein eigenes Zuhause haben.«
Schließlich wandte sich Rashed ganz ab und trat zur großen Eingangstür. Dort blieb er stehen und drehte sich halb um, sah Teesha aber nicht an. Er presste die Lippen zusammen.
»Nein, es ist nicht möglich.« Mit beiden Händen zog er die Tür auf. »Sprich nicht wieder davon.«
Aber die Saat war ausgebracht. Indem sie Corische nicht nur verspottete, sondern manchmal auch freundlich zu ihm war, sorgte Teesha dafür, dass er öfter daheim blieb. Manchmal schmeichelte sie ihm, und er gierte geradezu nach solchen Worten. Bei anderen Gelegenheiten, wenn Rashed nicht zugegen war, beleidigte sie Corische durch Mutmaßungen in Hinsicht auf seine niedere Herkunft. Er verhielt sich immer mehr wie ein verliebter Narr und vermied es, verbal zurückzuschlagen, suchte stattdessen nach anderen Wegen, ihre Anerkennung zu bekommen. Nie gab er ihr direkte Befehle. Teesha wurde zur Herrin und er zum Sklaven, und deshalb verachtete sie ihn noch mehr.
Corische zeigte den Zorn auf sie nicht, aber er brannte in ihm. Eines Nachts zerbrach er in einem Wutanfall einen Besenstiel und schlug Parko damit. Untote brauchten durch so etwas keine Verletzungen zu befürchten, aber Rashed eilte herbei, um festzustellen, warum sein Bruder schrie. Er griff nicht ein, doch Teesha beobachtete, wie ein Schatten auf das Gesicht des Wüstenkriegers fiel, und es war mehr als nur Missbilligung.
Bei jeder Gelegenheit trieb Teesha Corische an den Rand der Verzweiflung, insbesondere wenn Rashed da war. Sie wollte ihren Herrn als banalen Schinder darstellen – der er auch war – und Rattenjunge, Parko und sich selbst als die Misshandelten. Mit jeder Nacht wurde Rasheds Gesicht grimmiger. Teesha kaufte ein Gemälde, das Meer und Küste zeigte, und hängte es im Hauptraum an die Wand. Es war eine deutliche Erinnerung für Rashed, eine, die er nicht übersehen konnte. Die kraftvolle Darstellung der dunklen, von Schaum gekrönten Wellen zeigte, was sie nicht hatten: die Freiheit, wegzugehen und andere Orte zu sehen.
Schließlich kam eine Nacht, in der Rashed sehr gereizt war. Teesha versuchte mehrmals, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber er reagierte nicht. Es wurde Zeit für den letzten Schritt. Sie wartete bis zum nächsten Abend, als sie alle im Hauptraum versammelt und mit alltäglichen Dingen beschäftigt waren. Teesha beugte sich vor und flüsterte Corische ins Ohr: »Ich glaube, ich bin vor einigen Nächten deiner Mutter begegnet: ein altes Weib, das in einem Karawanenzelt hockte und sich für zwei Kupfermünzen jedem Mann verkaufte.«
Die anderen Verhöhnungen waren kühl und elitär gewesen, entsprachen der Art und Weise, wie Adelige die unteren Klassen verspotteten. Oft hatte Teesha sie so formuliert, dass Corische sie als möglichen Ansporn interpretieren konnte. Doch diese anstößige Bemerkung lief auf eine offene Beleidigung hinaus, wie sie bisher noch nie über Teeshas Lippen gekommen war.
Für einen Moment war er so verblüfft, dass er keinen Ton von sich gab. Dann schlug er Teesha mitten ins Gesicht, und die Wucht des Schlages war so groß, dass sie von der Sitzbank fiel und gegen die Wand prallte.
Sie blinzelte schmerzerfüllt. Ihr Kopf dröhnte, und um sie herum schien es dunkler zu werden. Der Augenblick dehnte sich, als sie dalag, ein Rasseln in den Ohren und von sich verdichtender Finsternis umgeben. Niemand sagte etwas.
Schließlich löste sich ein Teil der Dunkelheit auf. Corische stand vor der Sitzbank, die Faust noch immer erhoben. Hinter ihm setzte Rashed über den Eichentisch hinweg. Sein Gesicht war eine Fratze des Zorns, und der offene Mund zeigte spitze Zähne. Ein grimmiges Knurren kam aus seiner Kehle. Mit der rechten Hand griff er nach dem Heft von Corisches Schwert, das auf dem Tisch lag.
Corische drehte sich um, als er das zornige Grollen hinter sich hörte. Er riss nicht etwa überrascht die Augen auf, sondern kniff sie zusammen, wirkte wie ein wütender Hund, der in einer Gasse in die Enge getrieben war. Er öffnete den Mund und schickte sich an, einen Befehl zu geben, dem sich Rashed nicht widersetzen konnte.
Rashed schwang den Arm, und eine kurze, schnelle Drehung des Handgelenks sorgte dafür, dass die Scheide des Schwerts fortflog. Unmittelbar darauf kam die Klinge nach vorn.
Teesha hörte ein dumpfes Knacken, als das Schwert durch Corisches Hals schnitt. Der Kopf fiel, und schwarze Flüssigkeit spritzte an die Wand.
Die Scheide fiel klappernd auf den steinernen Boden.
Teesha kauerte sich an der Wand zusammen. Rashed landete auf ihrer Seite des Tisches, als Corische zusammenbrach. Der Kopf rollte über den Boden und blieb vor Rattenjunges Stiefel liegen.
Teesha blinzelte erneut, und der Augenblick ging zu Ende.
Jahrelang hatte sie auf diesen einen Moment hingearbeitet, der plötzlich alles änderte. Teesha beobachtete, wie fast schwarze Flüssigkeit – zu dunkel für lebendiges Blut – aus dem Hals und über den steinernen Boden strömte. Es war die einzige Bewegung im Raum.
Schließlich beendete Parko die Stille. Er kicherte leise und nervös, sprang dann wie eine Katze vor, schnüffelte an der Leiche und lachte hysterisch.
»Du … du hast ihn getötet«, brachte Rattenjunge hervor.
Rasheds Zorn existierte nicht mehr. Erschlafft stand er da, das Schwert in der Hand, und blickte auf den kopflosen Körper hinab. Sein Gesicht war so weiß wie Schnee. Dann hob er seinen Blick und begegnete Teeshas Augen.
Sie wollte nicht zulassen, dass er in alte Denkweisen zurückfiel.
»Tut es dir leid?«, fragte sie fast vorwurfsvoll. »Bedauerst du dies?«
»Dafür ist es jetzt zu spät«, erwiderte Rashed. Er ließ das Schwert fallen und half Teesha mit beiden Händen hoch. Sie schwieg, sah ihn aber weiterhin an und wartete, als hätte sie seine erste Antwort nicht gehört. Ein Teil des Zorns kehrte zurück, und seine Wangenmuskeln mahlten.
»Nein, es tut mir nicht leid«, fügte er hinzu.
Teesha griff nach seinen Unterarmen, die so muskulös waren, dass sie ihre kleinen Hände nicht darum schließen konnte. Als sie über Rasheds Schulter blickte, glaubte sie, unter den Dachsparren Edwans schemenhafte Gestalt zu erkennen.
»Wir sind frei«, flüsterte sie.
Teesha hatte erreicht, was sie wollte. Corisches Tod bedeutete, dass sie keinen Herrn mehr hatten. Sie waren frei. Freude stieg in ihr auf, und am liebsten hätte sie laut gelacht. Doch sie kam wieder zu Sinnen, als Rashed sie fortzog.
Er nahm das Meeresbild von der Wand. »Packt zusammen, was ihr mitnehmen wollt. Wir brechen noch heute Nacht auf.«
»Wir verlassen diesen Ort?«, entfuhr es Rattenjunge. Er stand noch immer wie benommen da und starrte auf Corisches kopflose Leiche. »Wovon redest du da? Wohin gehen wir?«
Teesha, noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen, trat mit einem Lächeln zu Rattenjunge. Aus großen braunen Augen sah er sie an. Sie gab ihm einen sanften Schubs in Richtung der nach unten führenden Treppe.
»Zum Meer.«
Edwan zuckte zurück vor Teeshas Bewusstsein und ihren Erinnerungen; er konnte es nicht ertragen, das alles noch einmal zu erleben. Es folgte eine Stille, in der sie nicht einmal die an den Strand von Miiska rollenden Wellen hörten.
»Warum?«, fragte er mit Schmerz in der hohlen Stimme. »Warum zeigst du mir diese schrecklichen Bilder? Kehr weiter in die Vergangenheit zurück … in die Zeit der Taverne.«
»Nein.«
»Zu dem Tag, an dem wir uns begegneten. Oder als wir zum ersten Mal …«
»Nein, mein Geliebter.« Sie schüttelte den Kopf. »Um zu verstehen, wo du bist, musst du erkennen, wo du einst warst. Es hat keinen Sinn, nur die schönen Teile zu sehen.«
»Ich leide!«, rief Edwan und riss Teesha endgültig aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.
»Geliebter«, hauchte sie und bedauerte seinen Schmerz. »Lass uns durch die dunklen Straßen gehen und so tun, als wären wir im hohen Norden und wieder Kinder, so wie vor langer Zeit.«
»Ja.« Sofort besänftigt kam Edwan näher und streckte die Hand aus. Zwar konnte Teesha sie nicht ergreifen, aber der kalte Dunst des Geistes strich über ihre dünnen Finger.
Durch die nicht ganz geschlossenen Fensterläden einer Hütte beobachtete Rattenjunge ein schlafendes Mädchen. Es atmete ruhig und gleichmäßig, und sein dunkles Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Es gab keine Ähnlichkeit mit dem Mädchen, dessen Kehle er vor einigen Nächten zerfetzt hatte, aber die Erinnerung daran brachte den Geschmack von Blut zurück. Er dachte auch an den Händler auf der Straße – ein leichtes Opfer.
Wer bestimmte die absurden Regeln, nach denen Sterbliche nicht getötet werden durften? Hielten sich alle Untote daran? Parko hatte sich nicht darum geschert.
Zuerst Corische, der strenge Richtlinien erließ, Macht und Prestige unter den Sterblichen anstrebte. Und jetzt Rashed, der jeden Aspekt ihrer Existenz dominierte, von Sicherheit und den Dingen der Sterblichen besessen war. Zählten sie nicht zu den Edlen Toten? Genügte das nicht? Kein Untoter, der noch alle seine Sinne beisammen hatte, würde sich wünschen, ein sterblicher Lord zu werden oder ein Lagerhaus zu besitzen und sich wie die Sterblichen den Lebensunterhalt zu verdienen. Seit einiger Zeit argwöhnte Rattenjunge, dass in Wirklichkeit Corische und Rashed die Verrückten waren, nicht er oder Parko.
Das Mädchen drehte sich im Schlaf auf die Seite und hob einen herrlich gebräunten Arm über den Kopf. Rattenjunge spannte die Muskeln, als er die Bewegung sah und das warme Blut unter der Haut roch.
»Was beobachtest du?«, erklang eine sanfte Stimme neben ihm.
Rattenjunge zuckte nicht zusammen, drehte auch nicht den Kopf – es war nur Teesha. Er deutete durchs Fenster.
»Sie.«
»Es ist nicht klug, bei ihnen zu Hause Nahrung aufzunehmen. Das weißt du.«
»Ich weiß viele Dinge. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dir noch zustimmen kann.«
Sie hob die Hand und strich ihm übers Haar.
»Schsch«, flüsterte sie. »Es dauert nicht mehr lange bis zum Morgengrauen. Komm und such dir leichtere Beute. Denk an unser Zuhause. Denk an mich.«
Rattenjunge schloss bei ihrer Berührung die Augen und wandte sich vom Fenster ab. Ja, für Teesha würde er vorsichtig sein. Aber als sie gemeinsam über die Straße gingen, dachte er noch immer an das schlafende Mädchen mit dem sonnengebräunten Arm.