8
Vier Abende später stand Magiere hinter der Theke des »Seelöwen« und hatte sich an ihre tägliche Routine gewöhnt. Während Leesil und sie auf Reisen gewesen waren, hatte es in ihrem Tagesablauf einen gewissen Rhythmus gegeben. Sie wanderten, schlugen ihr Lager auf, schmiedeten Pläne, spielten das »Spiel« in Dörfern, begannen dann wieder von vorn. Jetzt sah alles ganz anders aus. Zusammen mit ihren Helfern blieb Magiere die halbe Nacht auf und bediente die Gäste, schlief dann bis spät in den Morgen. Leesil verbrachte seine Nachmittage damit, auf dem Dach zu arbeiten, während Beth-rae kochte, Caleb sauber machte und Magiere Vorräte erneuerte, Regale füllte und die Bücher der Taverne führte. Chap wachte über Rose. Am frühen Abend nahmen sie ein gemeinsames Essen ein und öffneten dann für die Gäste. Magiere hatte es immer sauber und warm und schlief jede Nacht in einem Bett.
Körperliches Wohlergehen und tägliche Ordnung waren nicht die einzigen Aspekte dieses neuen, friedlichen Lebens. Zum ersten Mal gab sie den Leuten etwas, anstatt sie auszunehmen. Die Seefahrer, Fischer und Ladenbesitzer, die zum »Seelöwen« kamen, hatten Spaß und entspannten sich nach ihrer harten Arbeit. Es beunruhigte Magiere, als Leesil von den Gerüchten berichtete, die über sie kursierten. »Jägerin der Untoten« nannte man sie. Vielleicht war sie zu einer lokalen Attraktion geworden. Magiere konnte nur mutmaßen, wie jene Gerüchte entstanden waren, aber Welstiel oder den großen, adelig wirkenden Mann sah sie nicht wieder. Sie vermutete, dass sich Leesil auch weiterhin an manchen Abenden in den Schlaf trank, doch solange er am Pharo-Tisch nüchtern blieb und niemanden bestahl, hatte sie keine Einwände.
Beth-rae kam mit einem Tablett voll leerer Krüge zur Theke und wirkte ein wenig müde. Einige Strähnen ihres grauen Haars hatten sich aus dem Knoten gelöst.
»Noch einmal vier Bier für Konstabler Ellinwood und seine Wächter«, sagte sie.
Magiere sah zum Tisch der lauten Männer, gab aber keinen Kommentar ab, als sie das Bier zapfte. Ellinwood kam oft, und je öfter sie ihn sah, desto weniger gefiel ihr der dicke, aufgeblasene Mann.
Als sie die vollen Krüge auf Beth-raes Tablett stellte, ging die Eingangstür auf, und kühler Wind wehte herein. Niemand trat über die Schwelle, aber Magiere sah einen Kopf mit rotem Haar und einem Bart in der gleichen Farbe. Ein kräftig gebauter Mann Ende zwanzig stand vor der Tür und zögerte. Er blickte herein und presste die Lippen zusammen, als er Konstabler Ellinwood sah. Magiere begriff, dass sich Probleme anbahnten.
Der Mann trat ein und hielt sich nicht damit auf, die Tür zu schließen. Er schritt zu Ellinwoods Tisch und starrte auf den Konstabler hinab, dessen Krug auf halbem Wege zum Mund verharrte.
»Kann ich dir helfen, Brenden?«, fragte Ellinwood und versuchte, ein wenig aufrechter zu sitzen.
»Meine Schwester ist fast eine Woche tot, und du sitzt hier und trinkst mit deinen Wächtern«, sagte der Mann zornig. »Machst du auf diese Weise einen Mörder dingfest? Dann wäre jeder Betrunkene, den ich in der Gosse finde, ein besserer Konstabler.«
Die Gäste verstummten, selbst jene am Pharo-Tisch. Köpfe drehten sich. Leesil hob die Hand, bevor Chap aufstehen konnte. Er bedeutete dem Hund, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Ellinwoods breites, fleischiges Gesicht verfärbte sich rot. »Die Ermittlungen dauern an, Junge. Erst heute habe ich mehrere wichtige Dinge entdeckt, und jetzt entspanne ich mich in meiner freien Zeit, wie alle anderen.«
»Wichtige Dinge?«, wiederholte Brenden, und seine Stimme wurde gefährlich laut.
Die Muskeln in den Armen des Schmieds schwollen an, als er sich zum Tisch vorbeugte. Magiere vermutete, dass Brenden in der Lage gewesen wäre, Ellinwood das Genick zu brechen, ohne sich groß anzustrengen. Vielleicht waren seine Vorwürfe gerechtfertigt, aber sie wollte kein Blutvergießen in ihrer Taverne. Erneut sah sie zu Chap und Leesil, wobei sie sich fragte, ob sie selbst handeln oder die Initiative Leesil überlassen sollte. Ihr Partner verstand es besser als sie, auf ruhige Weise mit solchen Situationen fertigzuwerden.
»Welche wichtigen Dinge hast du entdeckt?«, fragte der Schmied. »Du schläfst bis zum Mittag und verbringst den Nachmittag damit, bei Karlin Kuchen zu essen. Jetzt sitzt du hier, herausgeputzt, und trinkst Bier mit deinen Lakaien. Wann hattest du heute Zeit, irgendwelche wichtigen Dinge herauszufinden?«
Das Rot in Ellinwoods Gesicht breitete sich aus und wurde dunkler, aber bevor er reagieren konnte, stand einer der Wächter auf. Er war unrasiert und trug ein zerknittertes Hemd.
»Das reicht, Schmied«, sagte er. »Geh nach Hause.«
Brendens Faust antwortete ihm: Sie traf das Kinn, und der Mann taumelte zurück, stieß gegen einen anderen Tisch. Ein zweiter Wächter wollte aufstehen, aber Brenden packte sein fettiges schwarzes Haar und rammte den Kopf des Mannes zweimal auf den Tisch, bevor jemand eingreifen konnte. Bewusstlos sank der Wächter vom Stuhl und zu Boden.
Leesil setzte über den Pharo-Tisch hinweg, und hinter der Theke zog Magiere ihr Falchion aus der Scheide.
»Chap, sitz!«, rief Leesil. Wenn der Hund sich einmischte, würde Blut fließen.
Magiere trat hinter der Theke hervor und zögerte. Normalerweise konnte Leesil einen Kampf beenden, ohne dass jemand zu sehr verletzt wurde.
»Meine Herren …«, begann das Halbblut.
Blind vor Zorn schlug Brenden nach Leesil, aber seine Faust traf nur leere Luft. Der Halbelf ließ sich fallen, fing sich mit den Händen am Boden ab und trat von hinten nach Brendens Kniekehle. Der Schmied verlor das Gleichgewicht, und einen Moment später fand er sich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden wieder. Leesil saß auf seinem Rücken, den einen Arm gegen Brendens Nacken gedrückt. Mit der anderen Hand hielt er den rechten Arm des Schmieds fest. Brenden war viel schwerer als Leesil, aber so sehr er auch zappelte: Er konnte seinen kleineren, leichteren Widersacher nicht abschütteln. Wenn Brenden versuchte, die Beine anzuziehen und aufzustehen, trat Leesil nach hinten gegen die Knie des Schmieds – es sah aus, als gäbe er einem Pferd die Sporen –, und dann sank der größere Mann zurück auf den Boden.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Leesil. »Es ist vorbei.«
Der erste Wächter, den Brenden geschlagen hatte, löste sich von dem anderen Tisch, auf dem er gelandet war. Blut rann ihm aus den Nasenlöchern, tropfte vom Kinn – Brenden hatte ihm ganz offensichtlich das Nasenbein gebrochen. Er griff nach dem Heft des Kurzschwerts an seinem Gürtel, hob dann aber den Blick und sah Magiere. Ihr Falchion ruhte auf seiner Schulter, die Schneide an seiner Kehle. Sie sagte kein Wort. Der Wächter hob die Hände und trat langsam zurück.
Schließlich hörte Brenden auf, sich zur Wehr zu setzen, und blieb keuchend liegen.
»Mein Freund lässt dich gleich aufstehen«, sagte Magiere zum Schmied, ohne Ellinwoods Wächter aus den Augen zu lassen. »Dann verlässt du die Taverne, verstanden?«
»Er soll gehen?«, schnaufte der Konstabler. »Er steht unter Arrest, weil er jene Männer angegriffen hat, die Miiska schützen. Er ist ein Verbrecher.«
Magiere war anderer Meinung, aber dies ging sie nichts an. Sie wollte nur, dass die Männer ihre Auseinandersetzung draußen fortsetzten.
»Er ist kein Verbrecher«, widersprach Leesil. »Hab ein wenig Erbarmen, du Wal!«
Einer der Wächter – nicht der mit dem gebrochenen Nasenbein – zog einen Strick vom Gürtel und ging in die Hocke, um Brenden die Hände zu fesseln. Leesil wollte ihn daran hindern, aber Magiere ergriff ihn an der Schulter. Der Elf fluchte leise und wich beiseite. Als Brenden grob auf die Beine gezerrt wurde, starrte er Magiere so an, als träfe sie die Schuld.
»Kehr nicht zurück«, sagte sie. »Dies ist eine friedliche Taverne.«
»Eine friedliche Taverne?«, wiederholte Brenden. In seiner Stimme lag jetzt mehr Kummer als Zorn. »Wie kannst du von Frieden sprechen, wenn du diejenige bist, die all diesem Töten ein Ende setzen kann? Aber nein, du verkriechst dich und servierst solchen Leuten Bier.« Er nickte in Richtung Ellinwood.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, erwiderte Magiere. Ihre Anspannung nahm zu.
Die Wächter zerrten Brenden aus der Taverne.
Leesil wandte sich wortlos ab und kehrte zum Pharo-Tisch zurück, aber Magiere sah, dass ihm nicht mehr nach Kartenspielen zumute war.
Spät am nächsten Morgen stand Leesil vor Miiskas Wachhaus, das auch als Gefängnis diente, überprüfte noch einmal seinen Geldbeutel und hoffte, dass sich die Münzen darin auf wundersame Weise vermehrt hatten. Es war ihm schwer genug gefallen, sich von Passanten fernzuhalten, die ihm unabsichtlich hätten aushelfen können, aber er hatte sich geschworen, nicht mehr zu stehlen, weil sie jetzt sesshaft waren. Zu Beginn ihres Tages hatte er Magiere gebeten, ihm seinen monatlichen Anteil an den Einnahmen im Voraus zu zahlen. Sie war seiner Bitte ein wenig besorgt nachgekommen und glaubte vermutlich, dass er das Geld brauchte, um Spielschulden zu bezahlen. Es kümmerte ihn nicht, was sie glaubte. Die Wahrheit hätte sie ohnehin nicht verstanden. Er wusste nicht einmal, ob er selbst verstand, was er machte.
Leesil betrat das Wachhaus und blieb überrascht stehen. Er hatte gehofft, die Angelegenheit mit einem der dummen Wächter klären zu können, aber der dicke Ellinwood höchstpersönlich saß hinter dem kleinen Tisch, der als Schreibtisch diente und in der rechten Ecke des Zimmers stand, in der Nähe des vergitterten Fensters. Der Konstabler blickte auf ein Pergament.
Leesil hatte einige Gefängnisse gesehen, von beiden Seiten der Zellentür, und dies hier schien kaum anders zu sein. Porträtzeichnungen einiger gesuchter Verbrecher hingen an den Wänden – die Plakate versprachen Geld oder andere Belohnung für die Ergreifung der Kriminellen –, und drei Zellentüren reihten sich an der Rückwand aneinander, was für eine kleine Stadt wie Miiska völlig ausreichte.
Er schloss die Eingangstür und trat zu den Zellen. Ellinwood hörte die Geräusche und sah auf.
»Oh, du bist’s«, sagte er mit kaum verhohlener Ungeduld. Vielleicht rechnete er damit, dass Leesil Schadenersatz für einen zerbrochenen Tavernentisch beantragen wollte. »Was führt dich hierher?«
Leesil blickte durch die Sichtschlitze der Türen und stellte fest, dass Brenden in der mittleren Zelle auf der unteren Pritsche lag.
»Ich bin gekommen, um die Strafe des Schmieds zu zahlen«, antwortete er. »Wie viel?«
»Du willst … Was veranlasst dich dazu?«, fragte der Konstabler argwöhnisch.
Leesil zuckte mit den Schultern. »Ich hatte die Wahl, entweder hierherzukommen oder zu Hause zu bleiben und auf dem Dach zu arbeiten. Wie hättest du dich entschieden?« Er zögerte kurz und wiederholte dann: »Wie viel?«
Ellinwood überlegte kurz, bevor er antwortete: »Sechs Silbergroschen, keine ausländischen Münzen.«
Leesil wäre fast zusammengezuckt. Es war eine absurd hohe Summe für ein derartiges Vergehen. Er hatte nur fünf, und sie entsprachen seinem geschätzten Anteil für einen Monat – es war mehr, als die meisten Bewohner von Miiska in einem Monat verdienten. Der Konstabler schien sich die Taschen zu füllen, indem er haarsträubende Geldstrafen festsetzte. Oder er war dem jungen Schmied böse und machte es deshalb schwer, ihn auszulösen. Aber Leesil wollte nicht so schnell aufgeben und bezweifelte, dass Ellinwood bereit war, einfach so auf eine solche Summe zu verzichten.
»Ich schlage vor, ich gebe dir jetzt fünf und unterschreibe einen Schuldschein für den sechsten«, sagte er. »Ich kann dir den Rest am Ersten des kommenden Monats bezahlen.«
»Ich habe den Rest«, kam Brendens Stimme aus seiner Zelle.
Leesil drehte den Kopf und sah die Augen des Schmieds im Sichtschlitz der Tür, umgeben von einer wilden Mähne aus zerzaustem roten Haar. Der Elf ging zur Zellentür und nickte.
»Zumindest hatte ich ihn, als ich eingesperrt wurde«, fügte Brenden hinzu und richtete einen vorwurfsvollen Blick auf Ellinwood.
»Dann sollte ja alles klar sein, nicht wahr, Konstabler?« Leesil lehnte sich gegen die Tür und verschränkte die Arme.
Ellinwood erwiderte seinen Blick und schien mit einer wichtigen Entscheidung zu ringen. Schließlich drehte er sich um und hob eine kleine Truhe vom Boden. Er holte ein Schlüsselbund unter seinem Hemd hervor, schloss die Truhe auf und entnahm ihr einen kleinen, hier und dort angesengten Geldbeutel. Dann trat er näher, entriegelte die Zellentür und gab den Beutel Brenden.
Der Schmied gab den Inhalt des Beutels – einige kleine Münzen – auf Leesils schmale Hand, der genug Kupfermünzen für den fehlenden sechsten Silbergroschen auswählte. Er fügte ihnen den Inhalt seines eigenen Geldbeutels hinzu.
»Hier«, sagte er und legte dem Konstabler die Münzen auf die ausgestreckte Hand.
Ellinwood kehrte zu seinem Tisch zurück. Er vertraute das Geld der Truhe an, schloss sie ab und wandte sich wieder den Dokumenten zu, ohne ein Wort zu sagen.
Leesil zuckte voller Abscheu mit den Schultern und bedeutete Brenden, ihm nach draußen auf die Straße zu folgen. Leute eilten vorbei, vielleicht auf dem Weg zum Markt. An der Ecke stand ein kleiner Junge und verkaufte geräucherte Fischkekse. Die Sonne schien von einem nur leicht bewölkten Himmel.
»Ich … ich zahle dir das Geld zurück«, sagte Brenden leise.
»Oh, schon gut. Ich gebe kein Geld aus, wenn ich es mir nicht leisten kann.« Leesil zuckte erneut mit den Schultern. Er bekam zu essen, hatte ein Dach über dem Kopf und einen endlosen Vorrat an Wein. Abgesehen davon gab es derzeit nichts, was er brauchte, und nur wenig mehr, was er sich wünschte. »Das mit gestern Abend tut mir leid«, sagte er.
»Es tut dir leid?« Brenden wandte den Blick ab. »Jetzt bringst du mich in Verlegenheit. Ich weiß, dass du dich für mich eingesetzt hast, und du hättest deinen Wolf auf mich hetzen können. So wie du mich zu Boden geschickt hast … Dir wäre vermutlich noch weitaus mehr möglich gewesen.«
Leesil setzte sich in Bewegung, und Brenden ging an seiner Seite. Der Schmied hatte einen ausgeprägten Sinn für Fairness. Damit bot er Leesil ungewöhnliche Gesellschaft nach all den Jahren der Betrügereien. Er wusste nicht, was er sagen sollte, nachdem er sich all die Mühe für einen Fremden gemacht hatte.
»Deine Vorwürfe Ellinwood gegenüber waren gerechtfertigt«, sagte Leesil schließlich. »Er hat nichts getan, um den Mörder deiner Schwester zu finden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas tun kann«, erwiderte Brenden und ließ eine Staubwolke aufwirbeln. »Vielleicht kann nur deine Partnerin helfen, aber sie lehnt Hilfe ab.«
»Wovon redest du da?« Leesil gab sich unwissend und hoffte, den Schmied von den Dingen abbringen zu können, die ihm jetzt durch den Kopf gingen.
»Deine Partnerin ist eine Jägerin der Untoten.«
Leesils Magen knurrte, aber es war nicht etwa Hunger. Er begann, Magieres Gereiztheit in letzter Zeit zu verstehen.
»Du hast zu viele Gerüchte gehört«, sagte er.
»Mag sein«, entgegnete Brenden. »Aber wenn man immer wieder das gleiche Gerücht hört, wohin man auch geht, so muss etwas Wahrheit dahinterstecken.«
»Meiner Meinung nach reden die Leute nur gern«, sagte Leesil scharf. »Sie zerreißen sich über alles den Mund, insbesondere über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben.«
»Wieso bist du dann gekommen und hast die Geldstrafe für mich bezahlt?«, fragte Brenden.
Darauf wusste Leesil keine Antwort, zumindest keine, die er in Worte fassen konnte. Vielleicht war Magieres Großzügigkeit Caleb und Beth-rae gegenüber ansteckend. Vielleicht erging es ihm wie seiner Partnerin; er überprüfte die eigene Vergangenheit kritisch und begriff zum ersten Mal, wie viel Schaden sie mit ihren Betrügereien in den Dörfern angerichtet hatten. Doch was nützte ihm das plötzliche Schuldbewusstsein? Wie konnte er wiedergutmachen, was sie getan hatten? Und abgesehen von dieser Neubesinnung: Leesil hielt die meisten Leute noch immer für gedankenlose Idioten, die es verdienten, von Intelligenteren betrogen zu werden. Oder für Wölfe, die aufeinander Jagd machten. Einem von ihnen zu helfen, erschien sinnlos … aber dieser Schmied?
Der Mann war in einer öffentlichen Taverne einem Konstabler gegenübergetreten und hatte Gerechtigkeit von ihm verlangt. Leesil neigte dazu, Problemen ausweichen, anstatt sich ihnen direkt zu stellen, aber er wusste Mut und Zivilcourage zu schätzen. Und Loyalität den Toten gegenüber, die keine Stimme hatten.
Für seinen Mut war Brenden als Verbrecher bezeichnet und in einer Zelle eingesperrt worden. Das fand Leesil nicht in Ordnung. Er wusste, dass sein Sinn für Richtig und Falsch zu wünschen übrig ließ, aber er hatte sich verpflichtet gefühlt, dem Schmied zu helfen.
Sie setzten den Weg schweigend fort, bis sie das Ende der Straße erreichten, wo Leesil die mitten durch den Ort führende Abzweigung nehmen musste, wenn er zur Taverne zurückwollte. Dort blieben sie stehen, und wieder kam es zu einem verlegenen Schweigen.
»Urteile nicht über Magiere. Du weißt kaum etwas über uns«, sagte Leesil sanfter als vorher. »Du kannst jederzeit zum ›Seelöwen‹ kommen. Ich sage Magiere, dass du mein Freund bist.«
»Bin ich dein Freund?«, fragte Brenden in einem Tonfall zwischen Verwirrung und Argwohn.
»Warum nicht? Ich habe nur zwei, und einer von ihnen ist ein Hund, kein Wolf.« Leesil heuchelte großen Ernst. »Ich bin ein ganz besonderer Bursche.«
Brenden lächelte ein wenig, mit einer Andeutung von Kummer. »Vielleicht komme ich tatsächlich. Und bei meinem nächsten Besuch verhalte ich mich … ruhiger.«
Sie trennten sich. In der Leere zwischen ihnen blitzte kurz ein Licht, heller als die Mittagssonne. Einige Passanten blinzelten überrascht, drehten den Kopf und hielten Ausschau, als wäre etwas dort gewesen. Dann gingen sie weiter.
»Er war mit dem Schmied zusammen«, sagte Edwan im kleinen Wohnzimmer unter dem Lagerhaus. »Ich habe ihn gesehen.«
Rashed trat zu Edwan und fragte sich, warum der Geist so besorgt wirkte. Eben noch hatte er mit Teesha die Importbücher überprüft, und dann war plötzlich Edwan erschienen und schwafelte vom Partner der Jägerin, dem Halbelfen, und einem Schmied.
»Langsam«, sagte Rashed. »Worum geht es?«
»Du musst die Jägerin sofort töten«, sagte Edwan und sprach mit großem Nachdruck.
»Nein.« Rashed wandte sich ab. Überstürztes Handeln nach Rattenjunges Dummheit erhöhte die Gefahr der Entdeckung. »Noch nicht. Wir warten, bis sie weniger wachsam ist.«
»Das wäre ein Fehler. Sie ist an dem Ort gewesen, wo Rattenjunge das Mädchen umgebracht hat. Ich habe sie gesehen.«
»Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«, fragte Rashed verärgert.
»Und heute hat der Elf, ihr Partner, für Brendens Freilassung bezahlt. Sie haben miteinander gesprochen.«
Rashed schüttelte den Kopf und wandte sich an Teesha, im Gesicht eine stumme Frage.
»Brenden ist der Bruder des toten Mädchens und der Schmied in dieser Stadt«, sagte die auf der Couch sitzende Teesha.
»Was?« Rashed drehte sich um und sah Edwan so an, als wäre er die Ursache des Unglücks und nicht jemand, der nur die schlechte Nachricht brachte. Er begann mit einer unruhigen Wanderung durchs Zimmer, starrte ins Leere und überlegte.
»Sie bereitet die Jagd vor, nicht wahr?«, fragte Teesha. »Warum sollte sie sonst nach Spuren suchen und das junge Halbblut beauftragen, mit dem Bruder des Opfers Freundschaft zu schließen?«
Ja, welchen anderen Grund gab es dafür? Das fragte sich auch Rashed. Es war gefährlich, nach einem Mord so rasch zu handeln, aber der verdammte Rattenjunge ließ ihnen keine Wahl. Wenn die Jägerin bei ihren Nachforschungen eine Verbindung fand, die zum Lagerhaus führte, so blieb ihnen kaum Zeit, irgendetwas vorzubereiten. Rattenjunge war leichtsinnig gewesen, und anschließend hatten sie nicht einmal genug Zeit gehabt, alle Spuren zu verwischen. Niemand von ihnen wusste, welche Hinweise am Tatort zurückgeblieben waren.
»Wir müssen losschlagen, bevor sie etwas gegen uns unternimmt«, sagte Rashed. »Teesha, du bleibst hier; bereite alles vor, damit wir sofort aufbrechen können, falls es zum Schlimmsten kommt. Rattenjunge begleitet mich.« Er hob die Hand und kam Teeshas Einwänden damit zuvor. »Ich erledige es selbst, still und leise, und niemand wird eine Leiche finden. Die Jägerin verschwindet einfach. Aber ich brauche jemanden, der auf das Halbblut und den Hund achtet.«
»Dann solltest du mich mitnehmen. Ich kann dir bessere Dienste leisten als Rattenjunge.«
»Ich weiß, aber …« Rashed ging zur Couch. »Es ist besser, du bleibst hier.«
»Eine noble Geste«, kommentierte Edwan, der in der Mitte des Raums schwebte. »Ich bin der gleichen Ansicht. Sei vorsichtig, Rashed. Es ist lange her, seit du zum letzten Mal einen stärkeren Gegner hattest als einen Buchhaltungsfehler. Etwas Schlimmes könnte passieren.«
Rashed antwortete nicht, aber er spürte Edwans Aufmerksamkeit wie das erste Glühen der Morgendämmerung auf der Haut. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was ihm die Feindseligkeit des Geistes eingebracht hatte. Ihn traf keine Schuld: Corische hatte ihn unter falsche Anklage gestellt und enthauptet.
»Ja, sei vorsichtig«, bekräftigte Teesha, ohne auf Edwans Sarkasmus einzugehen.
Rashed nickte und ging, um sein Schwert zu holen.