4
In Sichtweite der Küstenstraße eilte Rattenjunge durch den Wald und schnüffelte immer wieder nach einem Hinweis auf seine Beute, obwohl er wusste, dass ihn noch Stunden von ihr trennten. Wie roch die Vampirjäger-Schwindlerin? Wie schmeckte sie? In einer nie endenden Existenz war jede neue Erfahrung einzigartig und verdiente es, ganz ausgekostet zu werden.
Als sich die Nacht dem Ende entgegenneigte und überm Meer die ersten hellen Streifen der Morgendämmerung erschienen, wuchs Rattenjunges Besorgnis, aber sie betraf nicht die Frage, wo er tagsüber schlafen sollte. Es gab genug Brandungshöhlen, und wenn er doch keine finden sollte, konnte er sich in den weichen Waldboden graben und unter die Plane schlüpfen, die er auf dem Rücken trug. Aber wenn die Jägerin an ihm vorbeikam, während er schlief? Das würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit. Er hatte gehofft, ihr Lager zu erreichen, während sie schlief, doch der Geruch nur weniger Reisender erreichte ihn, und der Duft einer Frau war nicht darunter.
Was sollte er tun? Wie weit war die Jägerin entfernt? Und wenn sie erwachte: Wie weit konnte sie an einem Tag reisen? Er runzelte die Stirn und begriff, dass er dringend Deckung brauchte. Die Straße unweit der Baumgrenze erstreckte sich leer in beide Richtungen.
Er verließ den Wald, eilte zur Küste und hielt an den Klippen nach einer ausreichend tiefen Höhle Ausschau. Rattenjunge schwang sich über den Klippenrand, kletterte wie eine Spinne über die steile Wand, erreichte eine Öffnung und kroch so weit wie möglich vom Licht fort, ohne Furcht vor irgendwelchen Dingen, die vielleicht schon an diesem Ort hausten. Er legte den Beutel mit der Sargerde auf den Höhlenboden, rollte sich darum herum zusammen und zog die Plane über sich, um vor jedem Sonnenlicht geschützt zu sein, das den Weg zu ihm fand.
Die Logik sagte ihm: Zwar war er nur eine halbe Nacht unterwegs gewesen, aber bestimmt konnte die Jägerin an einem Tag nicht die Distanz zurücklegen, die sie noch von Miiska trennte. Er würde schlafen und dann in die Richtung zurückkehren, aus der er kam. Auf die eine oder andere Weise gelang es ihm bestimmt, sie zu finden und zu töten, und dann brachte er Rashed ihren Kopf als spöttisches Geschenk. Immer wenn jemand in Miiska verschwand, machte Rashed ihn dafür verantwortlich. Manchmal war es tatsächlich seine Schuld, aber gewiss nicht beim Inhaber der Taverne. Ein alter Trunkenbold konnte jemanden wie Rattenjunge nicht in Versuchung führen.
Ihm wurden die Lider schwer, und seine Gedanken verloren sich.
Am späten Nachmittag jenes Tages schmerzten Leesils schmale Füße, und seine sowieso verhaltene Freude darauf, die Taverne zu sehen, verschwand ganz. Selbst die Schönheit der Küste und des bis zum Horizont reichenden Meeres erfüllte ihn nicht mehr mit Ehrfurcht. Eine solche Eile erschien ihm unnötig. Die Taverne war bestimmt noch da, wann immer sie eintrafen. Beim Spiel trieb ihn Magiere nie so sehr an. Nein, sie waren immer gemütlich unterwegs gewesen, bis sie schließlich das nächste Ziel erreichten. Ihr ständiges Gezeter ging ihm auf die Nerven: »Schneller, Leesil. Es ist jetzt nicht mehr weit, Leesil. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es bis heute Abend.«
Selbst Chap wirkte müde auf dem Karren, winselte leise und gelangweilt, aber Magiere erlaubte dem Hund noch nicht, wieder zu laufen. Der alte Esel schien dem Tode nahe. Was dachte sich Magiere bloß? Der plötzliche Wunsch, eine ehrliche Geschäftsfrau zu sein, hatte sie auf unangenehme Weise verändert. Leesil war der Erschöpfung nahe – oder was er für Erschöpfung hielt –, als er bemerkte, dass der untere Rand der Sonne den Meereshorizont berührte.
»Das reicht«, verkündet er laut.
Als Magiere, die vor Esel und Karren herging, nicht reagierte, wankte Leesil theatralisch zum Straßenrand und sank ins Gras.
»Komm her, Chap!«, rief er. »Zeit für eine Pause.«
Der elegante, graublaue Kopf des Hunds kam hoffnungsvoll nach oben, und der Blick richtete sich sofort auf seinen Herrn.
»Na los, komm her!«, wiederholte Leesil laut.
Diesmal hörte Magiere den Ruf, drehte den Kopf und sah, wie Chap vom Karren sprang und zu Leesil lief. Verärgert blieb sie stehen. Nicht so der Esel, der den Karren weiter über die Straße zog.
»Was zum …«, begann Magiere. Dann bemerkte sie den vorbeirollenden Karren, eilte zum Esel, griff nach dem Halfter und hielt das Tier an. »Verdammter Elfen-Narr!«, rief sie Leesil zu und führte Esel und Karren in seine Richtung. »Was machst du da?«
»Rast?«, erwiderte er so, als brauchte er eine Bestätigung. Er blickte auf die lang ausgestreckten Beine und nickte sich selbst zu. »Ja, kein Zweifel. Ich raste.«
Chap legte sich nicht hin, sondern schnüffelte im Seegras, streckte die Glieder und sprang dann ins nahe Gebüsch. Leesil nahm den Riemen des Weinschlauchs von der Schulter. Er zog den Stöpsel heraus, hob den Schlauch an die Lippen und trank. Der dunkle D’areeling-Wein schmeckte immer ein wenig nach Winterkastanien. Er spendete ihm auf eine Weise Trost, die er nicht beschreiben konnte, und vermutlich war es der einzige Trost, den er bekommen würde – es sei denn, Magiere hörte endlich damit auf, sie derart halsstarrig anzutreiben. Aber auch Leesil konnte eigensinnig sein.
Magiere stand verdutzt da und starrte ihn an. Sie war völlig verstaubt und brauchte dringend ein Bad.
»Wir haben keine Zeit für eine Rast. Seit Mittag habe ich dich praktisch hinter mir hergezogen.«
»Ich bin müde. Chap ist müde. Selbst der lächerliche Esel scheint jeden Augenblick umkippen zu wollen.« Leesil zuckte mit den Schultern, unbeeindruckt von Magieres Ärger. »Du bist überstimmt.«
»Möchtest du nach Sonnenuntergang reisen?«, fragte sie.
Leesil trank einen weiteren Schluck und bemerkte dann, dass auch er ein Bad benötigte. »Natürlich nicht.«
»Dann steh auf.«
»Hast du in letzter Zeit einen Blick zum Horizont geworfen?« Leesil gähnte, legte sich ins Gras, bewunderte den hellbraunen, sandigen Boden und den salzigen Geruch in der Luft. »Wir sollten unser Lager aufschlagen. Um deine Taverne kümmern wir uns morgen.«
Magiere seufzte, wirkte traurig und enttäuscht. Leesil verspürte den plötzlichen Wunsch, sie zu trösten, bis ihn die Schmerzen in seinen Füßen daran erinnerten, wie sehr Magiere sie alle angetrieben hatte. Sollte sie schmollen, solange sie wollte – bis zum Morgen würde Leesil die Straße nicht mehr betreten.
Er beobachtete, wie Magiere übers Meer schaute, bemerkte dabei die klaren Linien ihres Profils vor dem hellen Orange des Himmels. Sie blickte so zum Horizont, als wolle sie den Rand des Wassers mit ihrer Willenskraft zwingen, die Sonne festzuhalten. Langsam senkte sie den Kopf so weit, dass das Haar ihr Gesicht verbarg. Leesil hörte das leise Seufzen, das von Magieres Lippen kam, und er seufzte ebenfalls, laut und übertrieben.
»Auf diese Weise ist es besser. Welchen Sinn hat es, die Verwalter mitten in der Nacht zu wecken?« Er zögerte, wartete auf Bestätigung oder eine scharfe Erwiderung, aber Magiere blieb still. »Vielleicht sieht die Taverne des Nachts trostlos und deprimierend aus. Nein, wir treffen am Mittag ein, wie es sich gehört, und sehen uns alles bei Tageslicht an.«
Magiere blickte kurz zu ihm und nickte. »Ich wollte nur … etwas zieht mich wie eine Marionette.«
»Sprich nicht wie ein Dichter«, entgegnete Leesil. »Das ist nervig.«
Sie schwieg, und zusammen begannen sie mit der vertrauten Routine, das Lager aufzuschlagen. Chap schnüffelte noch immer, grub im Sand und war ganz offensichtlich froh, nicht mehr auf dem Karren liegen zu müssen.
Leesil sah gelegentlich zur untergehenden Sonne. Vielleicht hatten sie sich zu lange in der grauen, feuchten Welt von Strawinien aufgehalten. Es gab verschiedene Arten von Feuchtigkeit, begriff er jetzt. Die eine bestand aus salzigem Sprühnebel, der vom Meer kam, begleitet von einem ablandigen Wind, der einen sanft trocknete. Die andere bescherte einem Kälte, selbst unter Decken, in irgendeiner Berghütte, deren Wände Schimmel ansetzten.
»Sehen wir das jeden Abend in Miiska?«, fragte er.
»Was?«
»Den Sonnenuntergang … Licht, das sich am Horizont ausbreitet, Feuer und Wasser.«
Für einen Moment runzelte Magiere die Stirn, als redete er in einer fremden Sprache. Dann verstand sie, was er meinte, und wandte sich ebenfalls dem Meer zu. »Ich denke, schon.«
Leesil schnaufte. »Ich nehme alles zurück. Du hast keine dichterische Ader.«
»Mach dich auf die Suche nach Feuerholz, du faules Halbblut.«
Sie richteten ihr Lager auf der anderen Seite der Straße ein, die sie von der Küste trennte. Eigentlich war das Wasser noch ein ganzes Stück entfernt, aber die Größe des Meeres schuf die Illusion von Nähe. Die letzten Reste des Tageslichts verblassten am Horizont, und dicke, windgebeugte Bäume boten Schutz vor der Abendbrise. Leesil suchte in den Jutebeuteln auf dem Karren nach Äpfeln und Dörrfleisch, als Chap plötzlich zu schnüffeln aufhörte und wachsam die Ohren spitzte. Er sah zum Wald, und aus seiner Kehle kam ein Knurren, wie es Leesil noch nie zuvor gehört hatte.
»Was ist los, Junge?«
Der Hund stand starr wie ein Wolf, der aus der Ferne Beute erspähte. Seine silberblauen Augen schienen die Farbe zu verlieren und wurden grau. Er bleckte andeutungsweise die Zähne.
»Magiere«, sagte Leesil leise.
Sie hatte das Verhalten des Hunds bereits bemerkt, beobachtete ihn und sah zum Wald.
»So war es an dem Abend in Strawinien, am Fluss«, flüsterte sie.
Sie hatten in Strawinien mehrere Nächte an Flüssen verbracht, aber Leesil wusste, was sie meinte. Er zog die Hände vom Karren zurück, schob sie in die Ärmel und tastete nach den Stiletten in den Unterarmfutteralen.
»Wo ist dein Schwert?«, fragte er, den Blick auf die Bäume gerichtet.
»In meiner Hand.«
Rattenjunge öffnete die Augen, und für ein oder zwei Sekunden verwirrten ihn die feuchten Wände der Höhle. Dann erinnerte er sich an seine Mission. Die Jägerin. Es wurde Zeit, in Richtung Miiska zurückzukehren.
Als er hinauskroch in die kühle Nachtluft, genoss er das Gefühl der Freiheit, das ihm das offene Land bot. Dies war eine gute Nacht. Doch ein Teil von ihm vermisste bereits Teesha und die von ihr im Lagerhaus geschaffene Gemütlichkeit. Sie nannte es »Zuhause«, aber Rattenjunge wusste nicht, warum Geschöpfe ihrer Art ein Zuhause brauchten. Es war Teeshas Idee gewesen, und Rashed hatte sie unterstützt. Wie sehr Rattenjunge auch das offene Land liebte: Er war inzwischen an die Welt gewöhnt, die sie sich in Miiska aufgebaut hatten. Er beschloss, die Jägerin schnell zu finden, damit er sich beim Töten Zeit lassen und sie leer saugen konnte, um anschließend vor Sonnenaufgang heimzukehren.
Der weiße Sandstrand unter der Klippe erstreckte sich in beide Richtungen, doch Rattenjunge verließ ihn schon nach kurzer Zeit und kletterte mühelos an der Felswand empor. Auf dem Strand wäre er schneller vorangekommen, aber dort gab es keine Deckung für ihn. Er erreichte den oberen Rand der Klippe, schwang sich darüber hinweg und verharrte, um sich zu orientieren. Der Geruch eines Lagerfeuers wehte ihm entgegen.
Er drehte den leicht spitz zulaufenden Kopf und witterte eine Frau, einen Mann und einen Esel. Dann nahm seine Nase noch eine andere Präsenz wahr. Ein Hund? Edwan hatte irgendetwas Lächerliches über einen Hund gesagt. Rattenjunge hasste Edwan fast noch mehr als Rashed, der ihm wenigstens Nützliches anbot: einen Platz zum Schlafen, ein regelmäßiges Einkommen, eine normale Existenz als Tarnung. Edwan beanspruchte einfach nur Teeshas Zeit, ohne eine Gegenleistung. Na schön, er hatte die Jägerin und ihre Begleiter gefunden, aber was war das schon? Und was hatte er, Rattenjunge, von einem zahmen Hund zu befürchten, der Herrchen und Frauchen bei ihren Reisen begleitete?
Euphorie prickelte in ihm. Hatte er sein Opfer so leicht gefunden? Konnte diese Frau die Frau sein? Hatte sie ihr Lager fast in Sichtweite seiner Schlafhöhle aufgeschlagen?
Die orangefarbenen Flammen des Lagerfeuers züngelten zwischen den Bäumen, und Rattenjunge wollte näher heran, um einen besseren Blick zu bekommen. Er sank auf den Bauch und suchte nach einer Möglichkeit, die Straße ungesehen zu überqueren. Sie bot keine Deckung, und so entschied er, einfach nur schnell auf die andere Seite zu gelangen. Wie ein Schatten huschte er über die Straße, verschwand dann wieder im Gebüsch zwischen den Bäumen und näherte sich dem Lager.
Die Frau war groß, trug nietenbesetzte Lederkleidung und schien jünger zu sein, als Rattenjunge erwartet hatte. Sie sah recht reizvoll aus. Ein staubiger schwarzer Zopf reichte ihr über den Rücken, als sie aus einer Flasche Wasser in einen Topf am Feuer goss. Ihr Begleiter war ein schlanker, weißblonder Mann mit länglichen Ohren, der fast wie ein Bettler gekleidet war und am Karren hantierte. Und dann war da noch …
Ein silbergrauer Hund, der Rattenjunge fast bis zur Hüfte gereicht hätte, sprang auf und starrte ihn an, als gäbe es überhaupt keine Sträucher zwischen ihnen. Er bleckte die Zähne, und sein Knurren hallte durch den stillen Wald, erreichte Rattenjunges Ohren. Irgendetwas an dem Geräusch weckte ein sonderbares Gefühl in ihm. Was auch immer es sein mochte: Er verabscheute es, und es veranlasste ihn, hinter einen dicken Baumstamm zurückzuweichen.
Edwan hatte einen Hund erwähnt.
Ein Hund war nichts. Rattenjunge spähte hinter dem Baum hervor, und sah, wie die Frau ihr Schwert nahm. Er lächelte.
»Was ist los mit ihm?«, fragte Leesil.
Chap knurrte noch immer, lief aber nicht los.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Magiere. Sie wusste es tatsächlich nicht, begann aber zu ahnen, dass der Hund über einen zusätzlichen Sinn verfügte, eine Möglichkeit, Dinge zu sehen, die ihr verborgen blieben. »Hol die Armbrust vom Karren und lade sie.«
Leesil verzichtete auf Einwände und kam Magieres Aufforderung schnell nach.
Chaps Knurren wurde lauter und zu dem gespenstischen Heulen, das Magiere in jener Nacht am Wudrask gehört hatte. Sie trat näher, streckte die Hand aus und berührte das weiche Fell an Chaps Nacken.
»Du bleibst hier«, sagte sie. »Hast du verstanden? Bleib hier.«
Er knurrte erneut, wieder leise und kehlig, sah nach links und drehte sich langsam.
»Es umkreist das Lager«, flüsterte Magiere Leesil zu.
»Was?« Leesil sah sich um, den Fuß am Bogen der Armbrust und beide Hände an der Sehne, um sie zu spannen. »Was umkreist das Lager?«
Magiere musterte ihren Partner, sah sein schmales Gesicht und das dünne, strähnige Haar. Wenigstens war er diesmal nüchtern und hatte die Armbrust geladen, aber sie bedauerte jetzt, dass sie ihm nicht mehr über den Kampf gegen den verrückten Dorfbewohner erzählt hatte. Wie stark der bleiche Mann gewesen war, wie entsetzlich. Und das seltsame Verlangen, das sie plötzlich verspürt hatte … Nachher war ihr alles unwirklich erschienen, und sie hatte es darauf zurückgeführt, dass die Schwindeleien und Tricks des Spiels sich mit der Realität vermischten. Eine schlimme Begegnung hatte sie in einem Moment voller Panik veranlasst, ihre eigenen Lügen zu glauben.
Und jetzt wusste sie keine Antwort auf Leesils Frage.
Chap hob die weiße und silbrige Schnauze, und Magiere erwartete, dass er zu heulen begann. Doch er blieb still, blickte zur Seite und nach oben, zur Seite und nach oben.
»Die Bäume!«, rief Magiere und duckte sich hinter dem Karren, aus Furcht vor dem, was ein Fremder von den Baumwipfeln aus anstellen konnte. Sie langte über die Seite des Karrens hinweg, bekam Leesils Gürtel zu fassen und zog ihren Partner nach unten. »Was auch immer es sein mag: Es ist in den Bäumen.«
Die Fähigkeit des Hunds, ihn zu sehen, ärgerte Rattenjunge immer mehr, denn es bedeutete, dass er sich nicht heranschleichen konnte. Deshalb näherte er sich dem Ziel von oben, kroch vorsichtig über Äste.
»Ich bringe dein Fell nach Hause und mache einen kleinen Teppich daraus, du blöder Hund«, flüsterte Rattenjunge. Er fühlte sich besser, als er daran dachte, das blutige silberne Fell des Hunds um die Schultern geschlungen zu tragen. Vielleicht fand Teesha Gefallen an der Farbe.
Wen sollte er zuerst töten? Rattenjunge sah nicht zum ersten Mal einen Mischling und war sicher, dass in den Adern des Mannes auch Elfenblut floss. Die Armbrust beunruhigte ihn nicht. Sie würde ihn kaum aufhalten, nicht einmal dann, wenn es dem Halbblut gelang, ihn damit zu treffen.
Wenn er auf den Hund sprang, konnte er ihm leicht das Genick brechen, aber das hätte den anderen beiden Zeit gegeben, sich auf den Kampf vorzubereiten. Nein, es war besser, zuerst das zu erledigen, was ihn hierhergebracht hatte – wenn die Jägerin tot war, konnte er sich um den Hund und das Halbblut kümmern.
Rattenjunge blickte auf die Jägerin hinab, konzentrierte sich und sprang.
Es gab keine Vorwarnung. Leesil bemerkte einen Schatten in der Dunkelheit, einen gesichtslosen Schemen, der aus einem Baumwipfel geflogen kam.
Eine drahtige, braunköpfige Gestalt, wie ein Bettler gekleidet, stieß gegen Magiere und warf sie zu Boden. Leesil rechnete damit, dass der Angreifer ebenfalls fiel, aber zu seiner großen Überraschung landete er sicher auf den Füßen und holte sofort zum Schlag aus.
»Magiere!«, rief Leesil. Er hatte gerade die Armbrust gehoben, um zu zielen, als die Faust des Angreifers gegen Magieres Jochbein knallte. Der Kopf der jungen Frau prallte auf den Boden. Leesil schoss.
Der Bolzen schlug durch den Rücken des Fremden, und die Spitze ragte vorn aus dem Bauch. Aber die Gestalt erbebte nur kurz und wandte sich zu Leesil um.
Mit einem fast menschlich klingenden Heulen sprang Chap und stürzte sich auf den Angreifer. In einem wilden Durcheinander aus Zähnen und Fell wälzten sich beide durchs Feuer; Funken stieben in die Luft.
Magiere lag reglos auf dem Boden, als Leesil vom Karren sprang. Der Schlag war so heftig gewesen, dass sie vermutlich das Bewusstsein verloren hatte. Für einen Moment fragte sich Leesil, ob er nach Magiere sehen oder seinem Hund dabei helfen sollte, den Angreifer unschädlich zu machen. Von dem Armbrustbolzen getroffen und mit Chaps Wildheit konfrontiert, konnte der Fremde ohnehin nur noch wenige Sekunden überleben. Doch Leesil wollte ihm nicht den Rücken kehren und dadurch eventuell eine böse Überraschung erleben. Er zog einen weiteren Bolzen aus dem Köcher unter der Armbrust, eilte um das Feuer herum und wollte seine Waffe erneut laden, doch dann hielt er plötzlich inne.
Hund und Angreifer hatten sich voneinander gelöst. Der drahtige kleine Mann – vielleicht ein Junge – duckte sich tief, als Chap erneut loslief. Der Hund war mitten im Sprung, als der Fremde einen Satz nach vorn machte, die Hand hob und damit nach dem Fell an Chaps Bauch griff. Der Hund jagte an seinem Ziel vorbei.
Vielleicht lag es an der Dunkelheit oder der aufgewirbelten Asche in der Luft. Möglicherweise schuf das Glühen der Feuerreste Trugbilder. Aber Leesil hätte schwören können, dass der kleine Mann irgendwie die Richtung änderte, als sich Chap noch in der Luft befand. War er gelandet und dann sofort herumgewirbelt? Oder hatte er den Boden gar nicht verlassen? Leesil wusste es nicht.
Die Füße des Fremden kamen nach oben, trafen die Seite des Hunds und gaben ihm zusätzliches Bewegungsmoment. Chap knurrte, als er über die Lichtung flog, und ein schmerzerfülltes Jaulen kam von ihm, als er an einen Baum prallte und zu Boden sank. Sofort sprang er wieder auf.
Leesil zog die Sehne und versuchte, die Armbrust erneut zu spannen. Fast hätte er sie fallen lassen, als hinter ihm eine laute Stimme erklang.
»Chap, nein!«
Leesil drehte den Kopf weit genug, um einen Blick zur Seite zu werfen und gleichzeitig den Fremden im Auge zu behalten. Magiere stand dort, mit dem Falchion in der Hand. Sie schwankte ein wenig.
»Zurück, Chap!«, rief sie.
Der Hund zitterte und knurrte, wahrte aber Abstand zum Angreifer. Alle Muskeln unter seinem vom Feuer versengten Fell waren angespannt und bebten wie im Protest gegen den Befehl.
Niemand rührte sich.
Der junge Fremde hob die Hand und starrte auf die Wunden, die Chaps Zähne darin hinterlassen hatten.
»Ich blute«, brachte er verwirrt hervor. »Es brennt.«
Er riss die braunen Augen auf, und Unsicherheit glänzte in ihnen. Aus irgendeinem Grund war er verblüfft und schien nicht damit gerechnet zu haben, verletzt zu werden und Schmerz zu fühlen. Er konnte kaum älter sein als sechzehn und sah aus, als hätte er die Hälfte seines Lebens gehungert. Er beruhigte sich wieder, aber seine Haltung brachte eine gewisse Sorge zum Ausdruck, als er das Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte und vielleicht überlegte, ob er kämpfen oder fliehen sollte. Er griff nach dem aus seinem Bauch ragenden Bolzen und zog ihn mit einem Ruck heraus, ohne dabei zusammenzuzucken.
Leesil war so erstaunt, dass er für einige Sekunden vergaß, die Armbrust neu zu laden. Der seltsame Junge hätte tot oder dem Ende nahe sein müssen. Und Magiere hätte noch bewusstlos auf dem Boden liegen sollen. Aber seine Partnerin stand neben ihm, das Falchion in der rechten Hand, die Knie ein wenig gebeugt, wachsam und kampfbereit. Und der Angreifer auf der anderen Seite des Feuers wirkte putzmunter, obwohl er dem Tode viel näher sein sollte als dem Leben.
»Wie heißt du?«, flüsterte Magiere in der Dunkelheit.
»Spielt es eine Rolle?«, fragte der Junge.
Leesil stellte fest, dass beide, Magiere ebenso wie der Fremde, nicht mehr auf ihn achteten.
»Ja«, sagte Magiere.
»Man nennt mich Rattenjunge.«
Magiere nickte. »Komm und töte mich, Rattenjunge.«
Der Fremde lächelte und sprang.
Leesil ließ sich fallen und rollte sich seitlich ab. Er hörte, wie jemand direkt hinter ihm landete, blickte zurück und sah, wie sich Magiere auf dem Boden drehte und hinter dem Angreifer auf die Beine kam, das Falchion bereits in Bewegung. Der Junge versuchte, der Klinge auszuweichen, aber sie traf ihn am Rücken, und er schrie auf.
Die Stimme war unmöglich laut und hoch. Leesil zuckte zusammen.
Rattenjunge verlor das Gleichgewicht, hielt sich mit beiden Händen am Karren fest und drehte sich dann zu Magiere um. Sie lief bereits auf ihn zu und trat ihm an die Brust, noch bevor er sich ganz aufrichten konnte. Rattenjunge kippte nach hinten, und seine Füße verloren den Bodenkontakt. Magieres Klinge sauste auf ihn herab, während er noch in der Luft war.
Leesil staunte erneut – ein gewöhnlicher Tritt konnte wohl kaum so stark sein, dass jemand so nach hinten flog, wie er es gerade beobachtet hatte. Und Magiere bewegte sich schneller als jemals zuvor. Aber Rattenjunge war ebenso schnell wie sie.
Das Falchion bohrte sich dort in den Boden, wo der Fremde hätte landen müssen. Stattdessen stand er jetzt rechts vom Feuer, zischte und tastete mit der einen Hand zum Rücken, dorthin, wo Magieres Klinge ihn getroffen hatte.
»Es brennt«, kreischte er verblüfft und zornig. »Woher hast du das Schwert?«
Magiere antwortete nicht. Leesil stand auf und sah zu seiner Partnerin.
Ihre Augen waren groß und der Blick auf Rattenjunge gerichtet. Die Lippen wurden feucht, als unkontrolliert Speichel aus dem Mund troff. Leesil fragte sich, ob Magiere in diesem Zustand fähig gewesen wäre, verständliche Worte zu formulieren.
Sie atmete tief und schnell, und die glatten Züge ihres Gesichts verzerrten sich. Falten des Hasses erschienen auf der Stirn. Auf ihrer Haut glänzte Schweiß, obwohl sie sich bisher noch nicht so heftig bewegt hatte, um ins Schwitzen zu geraten.
Chap näherte sich von der Seite. Seine Muskeln zitterten, und er zeigte die Zähne. In diesem wilden Zustand fiel die Ähnlichkeit zwischen Hund und Frau auf. Magiere öffnete den Mund und schien wie Chap die Zähne zu fletschen. Ihre Augen blinzelten nicht und begannen zu tränen.
Leesil richtete nicht seine volle Aufmerksamkeit auf Rattenjunge und blieb so stehen, dass er auch Magiere sah. Dies war nicht die Frau, mit der er seit Jahren reiste.
Hund, Junge und Frau standen bewegungslos da, angespannt und bereit. Alle hielten nach dem ersten Anzeichen von Bewegung Ausschau. Leesil konnte nicht länger still stehen und spannte die Armbrust.
Rattenjunge täuschte einen Angriff vor und wich im letzten Augenblick zur Seite aus, beobachtete dabei Magiere und Chap. Rücken und Arme des Fremden bluteten, und in seinem Gesicht zeigte sich ganz deutlich Furcht.
»Jägerin«, flüsterte er und sauste zu den Bäumen.
Leesil hob die Armbrust und zielte auf den Fliehenden, obwohl er inzwischen daran zweifelte, mit seiner Waffe viel ausrichten zu können. Magieres Klinge und Chaps Zähne waren für Rattenjunge aus irgendeinem Grund gefährlicher als ein Armbrustbolzen aus kurzer Distanz. Bevor er schießen konnte, verschwand der Junge in der Dunkelheit. Rasch trat Leesil um das Lagerfeuer herum, damit er den matten Schein im Rücken hatte, aber von dem Geflüchteten war weit und breit nichts mehr zu sehen. Chap wollte zum Rand der Lichtung laufen, doch Leesil weckte mit einem Fingerschnippen die Aufmerksamkeit des Hunds und schüttelte den Kopf. Chap winselte, setzte sich und starrte in die Dunkelheit zwischen den Bäumen.
»Leesil?« Magieres Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern. Leesil drehte sich um.
Magiere atmete schwer, wie plötzlich von Anstrengung und Verletzung eingeholt. Die Falten des Hasses verschwanden aus ihrem Gesicht, und sie sah sich verwirrt um.
»Leesil?«, fragte sie erneut, als könnte sie ihn nicht sehen. Dann sank sie auf die Knie, und das Falchion bohrte sich in den Boden.
Leesil zögerte; der Knoten der Furcht in seiner Brust hatte sich noch nicht gelöst. Eine Gefahr hatte das Lager verlassen, doch es blieb eine andere, der er seit Jahren nichts ahnend Gesellschaft leistete. Er hatte gesehen, wie sich ein Junge unmöglich schnell bewegte, mit einer Kraft, die er eigentlich gar nicht haben konnte. Er hatte gesehen, wie seine Partnerin nach einem Hieb aufstand, der einen normalen Menschen ins Reich der Träume geschickt hätte. Er hatte gesehen, wie sie sich verwandelte, in etwas, das mehr einem Tier ähnelte als einem Menschen.
Magiere sank nach vorn. Sie hatte ihr Schwert ganz losgelassen und versuchte, sich mit der Waffenhand abzustützen.
Bisher hatte Leesil sie nur während ihrer Scheinkämpfe beim Spiel berührt. Der Gedanke, näher an sie heranzutreten, ließ seine Anspannung wachsen. Instinktiv hob er die Armbrust und richtete sie auf Magiere.
Doch dann ließ er die Armbrust fallen, eilte zu ihr und hielt Magiere fest, bevor sie ganz zu Boden sinken konnte. Schwer sank sie in seine Arme, so schwer, dass er in seiner halben Hocke das Gleichgewicht verlor und auf den Hosenboden fiel. Kopf und Schultern der jungen Frau drückten ihn fast der Länge nach zu Boden.
»Ich habe dich«, sagte er und hielt sie fest. Mit einem Arm stemmte er sich hoch; den anderen hatte er Magiere um die Schultern geschlungen. »Es ist alles in Ordnung.«
Er wusste, dass es eine Lüge war. Mit Magiere war eindeutig etwas nicht in Ordnung, und das galt auch für ihn. Nichts war mehr in Ordnung. Was sollte er jetzt tun? Würde Magiere bis zum nächsten Morgen diese Sache – was auch immer es sein mochte – überwunden haben?
Die Hitze von Kampf und Furcht löste sich auf, und die Nacht wurde plötzlich sehr kalt. Leesil fühlte, wie Magiere schauderte, sich an ihn lehnte und erschlaffte.
Er zog eine alte Wolldecke über Magiere, bemerkte dabei ein mattes Glühen auf ihrer Brust, dicht unter dem Hals, sah aber nur die Amulette, die Magiere halb ins Oberteil ihrer Lederkleidung gesteckt hatte.
Rattenjunge erinnerte sich nicht an seine Rückkehr nach Miiska. Er entsann sich nur an zunehmende Schmerzen und Schwäche und an Fassungslosigkeit. Er war so sehr verletzt, dass er nicht mehr klar denken konnte. Die Kraft verließ ihn, rann aus den Wunden im Rücken und in den Armen. Er war in der Lage gewesen, seinen Willen zu konzentrieren und die Bolzenwunde zu schließen, doch gegen die anderen Verletzungen, die vom Schwert und den Hundezähnen geschaffenen, konnte er nichts ausrichten; sie blieben offen, und Blut tropfte aus ihnen.
Er war schon früher verletzt worden, hatte dadurch aber nie so viel Kraft verloren, und die Rätselhaftigkeit der jüngsten Ereignisse machte ihm Angst. Er stolperte, fiel gegen die Holzwand eines Gebäudes und wusste nicht einmal, in welchem Teil der Stadt er sich befand. Wenn er den Rest seiner Kraft verlor, bevor er einen Unterschlupf fand, würde er der Sonne zum Opfer fallen.
Zu dieser frühen Stunde war es still in Miiska. Rechts und links von Rattenjunge erstreckten sich Reihen kleiner, verwitterter Häuser. Er brauchte einen sicheren Ort, wo er sich vor der aufgehenden Sonne verstecken konnte. Er brauchte Kraft und Leben. Er brauchte Nahrung.
Eine leise, summende Stimme weckte seine Aufmerksamkeit, und er witterte warmes Fleisch und Blut. Hunger und Verlangen weckten Rattenjunge aus seiner Benommenheit, und auf allen vieren kroch er zur nächsten Ecke eines Hauses. Er nahm auch den Geruch von Pferdedung und Metall wahr, ebenso von Kohle und Holzasche. Es dauerte einige Sekunden, bis er verstand, was ihm seine Augen zeigten. Rechts von ihm ragte ein Holzhaufen auf, und links, hinter der Ecke, sah er Stalltüren. Unter dem Dachvorsprung hingen Hufeisen.
Rattenjunges Augen wurden größer, als er den Ort erkannte. Er befand sich bei der einzigen Schmiede in Miiska. Die summende Stimme wies ihm den Weg, als er zum Holzhaufen und dem Zaun dahinter huschte. Ganz vorsichtig kletterte er am Haufen hoch und spähte über den Zaun.
Ein etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen kniete vor dem Holzstapel auf der anderen Seite, das seidene, mausbraune Haar so zerzaust, als hätte es bis eben im Bett gelegen. Es trug nur ein weißes Nachthemd aus Baumwolle, das Rattenjunge unter anderen Umständen reizend gefunden hätte. Jetzt dachte er nur daran, dass er Blut brauchte, um sich zu stärken, bis er eine Möglichkeit fand, die von der Jägerin und dem Hund verursachten Wunden zu schließen.
Das Mädchen summte erneut und sagte dann: »Komm da raus, Misty. Du kratzt immer an meinem Fenster, um hereingelassen zu werden. Hör mit den Spielchen auf und komm ins Haus.«
Ein leises Miau ertönte, und eine junge Tigerkatze streckte den Kopf aus dem Holzstapel. Rattenjunge beobachtete, wie das Mädchen übertrieben die Stirn runzelte und sich verärgert gab.
Er sprang.
Die Katze fauchte und wich in ihr Versteck zurück.
Rattenjunge war über den Zaun hinweg und auf ihr, bevor sie ihn sah. Mit einer Hand packte er das Haar und zog den Kopf zurück, und mit der anderen drückte er sie an sich. Gierig biss er in die Kehle und zerriss die Haut. Schreien konnte sie gar nicht, denn seine Zähne zerfetzten die Luftröhre. Sie bekam auch keine Gelegenheit, Widerstand zu leisten. Ihre Hände zitterten nur, das war alles.
Die ersten Sekunden von Wärme und Leben nahm Rattenjunge nicht bewusst zur Kenntnis. Dann kehrte Klarheit in sein Selbst zurück.
Er hatte Blut im Gesicht und auf Händen und Hemd, aber das war ihm gleich. Seine Gedanken galten allein dem Schmerz in Rücken und Armen, der endlich nachließ und zu einem dumpfen Brennen wurde, als er die Tote zu Boden sinken ließ.
Kälte machte den Untoten nichts aus, aber der Luxus von innerer Wärme nach der Nahrungsaufnahme war ein Vergnügen, das Rattenjunge immer wieder genoss, ganz gleich, wie oft sich das Erlebnis wiederholte. Diesmal fühlte es sich noch herrlicher an als sonst, war sogar noch schöner als damals zu seinen Lebzeiten. Die Wärme tilgte das Verlangen, befreite ihn vom Schmerz und gab ihm Kraft zurück.
Satt und euphorisch hätte er fast die Zeit vergessen, bis ihm ein weniger angenehmes Prickeln über die Rückenhaut strich.
Im Osten glühte ein Lichtstreifen am Horizont. Die Sonne ging gleich auf.
Rattenjunge lief an der Hafenseite der Stadt zum Lagerhaus. Es gab viel zu erklären; vielleicht musste er auf die eine oder andere Lüge zurückgreifen.
Leesil hatte einige Holzstücke ins Feuer geworfen, aber für den Rest der Nacht brachte es nur noch einige wenige kleine Flammen zustande. Er konnte es sich nicht leisten, Wein zu trinken, was bedeutete, dass er auch keinen Schlaf fand. Vielleicht hätte er ohnehin nicht schlafen können, denn die Ereignisse dieser Nacht waren fast ebenso beunruhigend wie seine endlosen Träume. Und wenn schon. Er hatte schon einmal drei schlaflose Nächte verbracht, bis ihm vor Erschöpfung die Augen zugefallen waren. Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter in der Lage gewesen war, noch länger ohne Schlaf auszukommen, wenn die Umstände es verlangten. Es stand mit ihrer elfischen Herkunft in Zusammenhang, über die sie nur selten gesprochen hatte.
Chap hatte sich schnell wieder beruhigt und verhielt sich dann so, als wäre überhaupt nichts geschehen. Er fand eine bequeme Stelle in der Nähe seines Herrn und verbrachte den Rest der Nacht damit, sich zu putzen und das eine oder andere Nickerchen zu machen, aus denen ihn gelegentlich Geräusche des Waldes weckten, die nur er hören konnte.
Einige angespannte Stunden lang saß Leesil still und reglos da, mit der auf seinem Schoß schlafenden Magiere. Es dauerte eine Weile, bis er auf ihr Gesicht hinabblicken konnte, ohne sich dabei an die Veränderungen zu erinnern, die er zuvor darin gesehen hatte. Sie schien unverletzt zu sein; bei der Suche nach Wunden hatte er nichts gefunden. Als er schließlich ihr Gesicht betrachten konnte, ohne dabei Unbehagen zu empfinden, zeigte sich das Zwielicht des Morgens. Noch einmal dachte er an den heftigen Schlag, den ihr der Fremde versetzt hatte. Normalerweise hätte ein großer Bluterguss an der Seite ihres Kopfes daran erinnern müssen, vielleicht auch aufgeplatzte Haut, aber er entdeckte nur einen kleinen blauen Fleck an der linken Wange, der ihn nicht etwa erleichterte, sondern ihm noch mehr Furcht und Verwirrung bescherte. Als die Sonne so weit aufgegangen war, dass er ihre Wärme am Rücken spürte, zitterten Magieres Lider und kamen nach oben.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Leesil sanft.
»Ja«, erwiderte Magiere zögernd und fügte hinzu: »Das Kinn tut mir weh.«
»Kein Wunder«, sagte Leesil. Dann fiel ihm ein, dass der Schlag sie nicht dort getroffen hatte, sondern an der Seite des Gesichts.
Bevor er eine weitere Frage stellen konnte, fühlte er, wie Magiere plötzlich die Muskeln spannte. Sie blinzelte, sah verblüfft zu ihm auf und schien erst jetzt zu merken, dass sie auf seinem Schoß lag.
»Was geht hier vor?«, fragte sie.
»Gute Frage.« Leesil hob die Brauen. »Sie gefällt mir. Ich könnte sie selbst stellen.«
Magiere rollte zur Seite und setzte sich so schnell wie möglich auf, ohne sich an ihm abzustützen. Ihr argwöhnischer Blick blieb auf Leesil gerichtet.
»In der vergangenen Nacht bist du zusammengebrochen und hast gezittert«, erklärte er. »Du warst völlig erschöpft, und ich hatte Angst, dass du auskühlst.«
»Ich bin nicht erschöpft«, brummte Magiere verärgert und stand auf.
Sofort hob sie die Hand zur Seite des Gesichts und schwankte kurz. Leesil holte seinen Weinschlauch, nahm einen kleinen Becher aus seinem Rucksack und füllte ihn mit rotem Wein.
»Wir haben nur dies gegen die Schmerzen. Trink. Alles.«
Magiere trank nur selten etwas anderes als Wasser oder Gewürztee. Sie griff zu grob nach dem Becher und verschüttete einen Teil des Inhalts. Sie nippte daran, verzog das Gesicht und rieb sich die Kinnlade. Leesil beobachtete sie misstrauisch.
»Möchtest du mir erzählen, was in der vergangenen Nacht geschehen ist?«, fragte er.
Magiere schüttelte den Kopf. »Was gibt es da zu erzählen?«
Leesil verschränkte die Arme. »Nun, mal sehen. Wir wurden ohne Grund angegriffen. Ich schoss auf den Angreifer, und er zog sich den Bolzen wie einen kleinen Holzsplitter aus dem Leib. Dann hatte er offenbar Angst, Chaps Bisse könnten ihm tödliche Wunden beibringen. Außerdem schien es ihn zu überraschen, dass ihm dein Schwert Schmerzen zufügte. Und dann …« Er zögerte kurz und wartete auf eine Reaktion, die jedoch nicht kam. »Du konntest nicht mehr sprechen, hast einen Mann durch die Luft geschleudert und dich so schnell bewegt, dass du für mich fast zu einem Schemen wurdest … ganz zu schweigen davon, dass du anfingst zu geifern und dein Gesicht etwas Animalisches bekam. Was glaubst du …«
»Ich weiß es nicht!«, rief Magiere.
Sie setzte sich neben dem Karren auf den Boden, lehnte den Rücken an ein Rad und senkte den Kopf, sodass Leesil ihr Gesicht nicht mehr erkennen konnte. Ein tiefes, zorniges Seufzen kam von ihren Lippen, und dann seufzte sie erneut, schwach und schwer.
Leesil kannte mehrere Worte, die sich seiner Meinung nach eigneten, Magiere zu beschreiben: stark, einfallsreich, herzlos, manipulativ, vorsichtig. Bisher hatte er nicht gewusst, dass sie auch verloren und verletzbar sein konnte.
»Ich weiß nicht, was geschehen ist«, sagte sie und sprach so leise, dass Leesil genau hinhören musste. »Wenn ich dir etwas Verrücktes sage, Leesil … Bitte lach nicht.«
»Ich warte gespannt«, sagte er und fragte sich, warum er plötzlich Ärger anstatt Anteilnahme fühlte. Er machte sich Sorgen um Magiere, aber er ärgerte sich auch über sie. Vielleicht lag es an der langen Nacht voller Anspannung und unbeantworteter Fragen.
»Ich glaube, wir haben das Spiel zu lange gespielt.« Magiere hob den Kopf, sah ihn aber nicht an. »Schein und Wirklichkeit geraten in meinem Kopf durcheinander. Ich möchte nicht mehr kämpfen … überhaupt nicht mehr … Dies alles kann ein Ende haben, wenn wir ein friedliches Leben führen. Wir verdienen uns auf ehrliche Weise unseren Lebensunterhalt und halten uns von Schwierigkeiten fern. Dann hört dies auf.«
»Das ist alles?«, fragte Leesil und spürte, wie die Enttäuschung noch mehr Ärger schuf.
»Es ist das, was ich weiß.« Magiere sah ihn kurz an, wandte den Blick dann wieder ab und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was es sonst sein könnte.«
Es war keine Antwort, sondern ein weiteres Ausweichen. Sie hatte ihm nichts gesagt. Oder vielleicht doch? Leesils Vergangenheit hatte jeden Wunsch in ihm ausgelöscht, jemand anderen als sich selbst zu schützen. Es fiel ihm schwer, die eigenen Empfindungen zu deuten. War er einfach nur verwirrt, oder regte sich irgendwo in ihm eine Art Beschützerinstinkt? Nur eins wusste er: Magieres Gesicht zeigte wieder die kühle Distanziertheit, die er kannte und auf die er sich verlassen konnte. Vielleicht waren es all die Jahre der Lügen und des falschen Spiels, die sie schließlich eingeholt hatten. Mit dieser Erklärung musste er sich zunächst zufriedengeben. Aber bei einer anderen Gelegenheit würden sich weitere Fragen ergeben.
»Na schön«, sagte Leesil, warf die Arme hoch und ließ sie wieder sinken. »Wenn du keine Geheimnisse hast, so haken wir dies als einen weiteren verrückten Dieb auf der Straße ab. Heute Mittag sind wir in Miiska.«
»Ja.« Magiere lächelte schief. »Und dort beginnen wir ein neues Leben.«
»Ich koche uns Tee«, brummte Leesil und bückte sich, um die glühende Asche des Feuers anzufachen. Er sah zu Magiere und nickte. »Ein neues Leben.«
In der Morgendämmerung zerrte Rashed den zappelnden, blutverschmierten Rattenjungen in den unterirdisch gelegenen Salon und stieß ihn dort an die Wand.
Teesha sah fast erschrocken von ihrer Näharbeit auf. »Was ist los?«
»Sieh ihn dir an!«, zischte Rashed.
Halb getrocknetes Blut klebte an Rattenjunges Kinn und Oberkörper. Rashed hatte das jüngste Mitglied des Trios für einen ungeduldigen Schnösel gehalten, bisher aber nicht für einen Vollidioten.
»Der hirnlose Narr hat ein Mädchen tot im Garten zurückgelassen, mit zerrissener Kehle!«
Teesha stand auf und strich ihr blaues Satingewand glatt. Ihre schokoladenbraunen Locken gerieten in Bewegung, als sie sich Rattenjunge näherte, der vor der Rückwand des Zimmers lag. Sie sah auf ihn hinab und neigte den Kopf voller Enttäuschung ein wenig zur Seite.
»Stimmt das?«, fragte sie.
»Wenn du mich schon anstarrst … Sieh dir meinen Rücken an«, erwiderte der schmutzige Junge. »Das dunkle Zeug ist kein Menschenblut, sondern mein eigenes.« Er hob die Arme. »Und diese Narben waren bis vor kurzer Zeit offene Wunden. Hast du jemals erlebt, dass jemand von unserer Art Narben bekommt?«
»Unmöglich«, zischte Rashed, runzelte aber die Stirn, als er sich hinabbeugte und genauer hinsah. Die weißen Striemen an Rattenjunges Unterarmen schienen von Zähnen zu stammen. »Wie kam es dazu?«
»Die Jägerin!«, heulte Rattenjunge voller Zorn. »Sie ist wirklich eine Jägerin. Ich habe nur wenige von unserer Art gesehen, die sich so schnell bewegen, und ihr Schwert schnitt so in meinen Rücken, als wäre ich lebendes Fleisch.«
»Unsinn«, sagte Rashed mit offenem Abscheu und trat zurück. »Sie hat mit ihrem erschwindelten Geld eine spezielle Klinge gekauft, das ist alles. Du hast mit deiner üblichen naiven Zuversicht angegriffen und einen Dämpfer bekommen. Die Verletzungen verdankst du deinem Leichtsinn, und anschließend bist du wie ein Feigling weggelaufen. Und noch schlimmer: Du hast überhaupt nicht an uns gedacht, oder? Anstatt hierherzukommen und dich einem langsamen Heilungsprozess zu unterziehen, hast du ein Mädchen getötet, keine zwanzig Häuser von hier entfernt, und die Leiche einfach liegen lassen, auf dass die ganze Stadt in Panik gerät.«
Rattenjunges Mund klappte auf – Rasheds Vorwürfe schienen für ihn so empörend zu sein, dass er sich gar nicht gegen sie wehren konnte. »Ich habe Narben!«
Rashed zögerte nur eine Sekunde und wandte sich dann angeekelt ab.
»Du hast ihn geschickt«, sagte Teesha sanft und hob die Brauen. Es schien ihr darum zu gehen, die Schuld richtig zu verteilen. »Er hat nicht genug Erfahrung, gegen einen Jäger zu kämpfen, ob Scharlatan oder nicht, und das weißt du«, fuhr sie in einem tadelnden Ton fort. »Niemand von uns konnte sicher sein, dass es sich wirklich um eine Schwindlerin handelt. Du hättest dich selbst darum kümmern sollen.«
Wenn diese Worte von Rattenjunge gekommen wären, hätte Rashed ihn wie eine Stoffpuppe geschüttelt, aber bei Teesha klangen sie wahr. Der große Mann blickte erneut auf den Jungen hinab, setzte seine verbalen Angriffe jedoch nicht fort.
»Wann erreicht sie die Stadt?«, fragte er.
»Heute«, erwiderte Rattenjunge noch immer ein wenig bockig. »Sie reist mit einem Elfen-Halbblut und … dem Hund.« Er wandte sich an Teesha. »Edwan hatte recht mit dem Hund. Seine Zähne haben mich verbrannt. Ich war nicht bereit! Wenn ich Bescheid gewusst hätte, wäre ich bestimmt in der Lage gewesen, ihn zu besiegen. Dann hätte ich ihm in einem Augenblick das Genick gebrochen.«
Das Licht der wächsernen Rosenkerzen flackerte, und Teesha klopfte Rattenjunge auf die Schulter. »Wir müssen in die Höhlen hinab und schlafen. Zieh die Lumpen aus und zeig mir deinen Rücken. Ich besorge dir ein anderes Hemd.«
Teeshas Aufmerksamkeit verscheuchte allen Ärger aus Rattenjunges Gesicht, und er folgte ihr gehorsam.
Rashed sah ihnen mit gerunzelter Stirn nach. Rattenjunges Verletzungen waren seine eigene Schuld, ob Narben oder nicht, und Teeshas mütterliche Fürsorge ermutigte den Jungen nur zu weiterem Leichtsinn. Der dumme Bengel hätte die ganze Nacht in seinem eigenen verkrusteten Blut schlafen sollen.
Doch andere, wichtigere Dinge erforderten Rasheds Aufmerksamkeit. Er hatte dieses Zuhause aus dem Nichts geschaffen. Seine kleine Familie war wohlhabend und sicher – so etwas erreichten die älteren der Edlen Toten erst nach Jahren der Planung und Manipulation. Während er an diesem Tag schlief, würde eine Jägerin – Schwindlerin oder nicht – kommen, um ihm all das zu nehmen. Sie musste schnell und sauber beseitigt werden. Teesha hatte recht. Er hätte sich selbst um diese Sache kümmern sollen.
Rashed pustete die Kerzen aus, eine nach der anderen. Es war nicht länger möglich, das Problem von Miiska fernzuhalten. Sein gefallener Bruder Parko musste vor seinem Tod etwas verraten haben – warum sollte die Jägerin sonst hierherkommen? Bestimmt suchte sie nach ihnen. Rashed beschloss zu warten, eine Nacht oder zwei, bis sich die Jägerin eingerichtet hatte. Dann würde er sie sich vornehmen und das Problem aus der Welt schaffen.