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Lange nach Sonnenuntergang erreichte Magiere ein weiteres strawinisches Dorf und schenkte ihm kaum Beachtung. Bauern lebten überall auf die gleiche Art und Weise. Nach sechs Jahren verschwammen die schlichten, trostlosen Hütten, und Magiere nahm nur ihre Anzahl zur Kenntnis, als einen Hinweis auf die Größe der Bevölkerung. Hier lebten nicht mehr als hundert Menschen, vielleicht nur fünfzig. So spät in der Nacht zeigte sich niemand von ihnen, aber sie hörte das Knarren einer Tür oder eines Fensterladens, als sie an einer Hütte vorbeikam und jemand nach draußen sah. Das einzige andere Geräusch war das Kratzen ihres Jagdmessers am Holz, als sie das Ende des armlangen Stocks zuspitzte.
Die Dunkelheit machte ihr keine Angst. Für Magiere enthielt sie keine der Schrecken, die die Bauern veranlassten, hinter ihren verriegelten Türen zu zittern. Sie überprüfte das Falchion in seiner Scheide und vergewisserte sich, dass sie es leicht ziehen konnte, wenn es notwendig werden sollte, setzte dann den Weg zum Ende des Dorfes fort. Es begann zu nieseln, und bald war ihr schwarzes Haar nass, wodurch die roten Töne darin verschwanden. Mit ihrer blassen Haut musste sie auf die Bewohner des Dorfes so unheilvoll wirken wie ihre Visionen von dem Geschöpf, das sie für sie töten sollte.
Nicht weit außerhalb des Dorfes blieb Magiere am Friedhof stehen und sah die frischen Gräber, jedes von Zinnlaternen umgeben, die böse Geister daran hindern sollten, die Körper der Toten zu übernehmen. Es gab noch keine Grabsteine, denn die Bestattungen hatten in aller Eile stattgefunden. Magiere wandte sich um und ging noch einmal durchs Dorf, beobachtete dabei die Gebäude und hielt nach dem Gemeinschaftshaus Ausschau.
Bestimmt hatten sich die meisten Bauern in einem Haus versammelt, das allen zur Verfügung stand – sie glaubten, in der Gruppe sicherer zu sein. Magiere blickte sich um, auf der Suche nach einem Gebäude, das groß genug war, aber die Hütten sahen alle gleich aus: schlichtes, verwittertes Holz, Strohdächer und tönerne Schornsteine. Sie waren trostlos und still, wie alles in diesem Land ohne Hoffnung. Kränze aus getrockneten Knoblauchknollen hingen über den wenigen Fenstern. Den einzigen Hinweis auf Leben bot der Rauch, der hier und dort zum Nachthimmel aufstieg. Ein vager Geruch von Eisen und Holzkohle lag in der feuchten Luft; vermutlich befand sich eine Schmiede in der Nähe, darin unbeaufsichtigt die Reste eines Feuers. In Zeiten wie diesen ließen die Leute bei Sonnenuntergang alles stehen und liegen.
Bewegung weckte Magieres Aufmerksamkeit. Zwei fröstelnde Gestalten liefen über den matschigen Weg, gehüllt in zerfranste Lumpen, unter denen schmutzige Haut zum Vorschein kam. Geistesabwesend steckte Magiere ihr Messer in die Scheide und zog sich dann ihren warmen Umhang enger um die Schultern. Die Gestalten eilten zum Friedhof und hielten ihre Laternen so, dass der böige Wind sie nicht auspustete.
»Hallo«, sagte Magiere mit ruhiger Stimme. Beide zuckten zusammen und wirbelten zu ihr herum.
Schmale, von Leid gezeichnete Gesichter wandten sich ihr besorgt zu. Die eine Gestalt wich zurück, und die andere hob eine Heugabel. Magiere blieb still stehen und gab ihnen Gelegenheit zu erkennen, wer sie war. Doch ihre Hand schloss sich etwas fester um den Stock. Die Mentalität dieser Leute zu verstehen, darin bestand ein großer Teil ihrer Arbeit. Ganz langsam tastete ihre freie Hand unter dem Umhang nach dem Heft des Falchions, bereit dazu, die Waffe zu ziehen. Bei von Panik erfassten Bauern war man besser vorsichtig.
Der Mann mit der Heugabel starrte unsicher durch den Regen, sah das nietenbesetzte Leder und den Stock. Die Furcht in seinem Gesicht wich erster vager Hoffnung.
»Bist du der Jäger?«, fragte er.
Magiere nickte knapp. »Hat es bei euch weitere Tote gegeben?«
Beide Männer atmeten erleichtert auf und traten vor.
»Nein, keine weiteren Toten, aber der Sohn des Zupans ist dem Tode nahe.« Der zweite Mann winkte. »Komm mit, schnell.« Die Bauern drehten sich um und hasteten über den schlammigen Weg zurück.
Magiere folgte den beiden Männern und blieb mit ihnen vor einer Tür stehen, über der ein Schild hing, dessen Aufschrift schon seit Langem nicht mehr zu lesen war. Dieses einfache Gebäude schien das Gemeinschaftshaus zu sein. Einen Gasthof für Reisende gab es hier nicht; dafür war das Dorf zu abgelegen. Zupan – so lautete der Titel des Dorfoberhaupts. Bestimmt wartete er drinnen zusammen mit einigen anderen Bewohnern.
Ein erwartungsvolles Seufzen entkam Magieres Lippen, als sie sich fragte, was für ein Mensch dieser Zupan wäre. Sie hoffte auf einen harten Verhandlungspartner. Am scheußlichsten fand sie jene, die versuchten, sich bei ihr einzuschmeicheln, in der Hoffnung, dass sie nicht das ganze Dorf aussaugte. Es war leichter, wenn die Leute Widerstand leisteten, bis sie ihnen klarmachte, dass sie gar keine Wahl hatten: Entweder zahlten sie den verlangten Preis, oder sie waren des Todes. Besonders gefährlich waren die Ruhigen und Umgänglichen. Wenn Magiere ihre Arbeit getan hatte, musste sie beim Verlassen des Dorfes auf ungebetene Gesellschaft in den Schatten achten, auf Leute, die versuchten, das bezahlte Geld zurückzuholen, indem sie ihr ein Ernte- oder Schermesser in den Rücken bohrten.
»Macht auf!«, rief einer der beiden Männer. »Wir haben den Jäger bei uns.«
Die Tür schwang knarrend nach innen. Orangeroter Feuerschein fiel nach draußen, begleitet von intensivem Knoblauch- und Schweißgeruch. Magiere sah in die Augen einer vom Alter gebeugten Frau hinab, deren Hände ein fleckiges Schultertuch hielten. Sie war blass und hohlwangig, schien seit Tagen nicht geschlafen zu haben. Als sie die junge Fremde sah, erschien verzweifelte Hoffnung in ihrem Gesicht. Magiere hatte so etwas oft gesehen.
»Den Schutzgeistern sei Dank!«, flüsterte die Frau. »Wir haben gehört, dass du kommen würdest, aber ich konnte kaum glauben …« Sie unterbrach sich. »Bitte komm herein. Ich hole dir etwas Warmes zu trinken.«
Magiere trat in die stickige Hitze des kleinen Gemeinschaftshauses. Ein anderer Aspekt ihres Berufs, den sie verabscheute, waren die häufigen Reisen im Winter. Acht Männer und drei Frauen hatten sich in dem winzigen Raum versammelt. Auf einem zur Seite geschobenen Tisch lag ein bewusstloser Junge. Immer blieben mindestens zwei Personen an seiner Seite, falls er starb.
Ein abergläubischer Haufen. Diese Bauern glaubten, dass böse Geister die Körper gerade Verstorbener heimsuchten und die Leichen benutzten, um den Lebenden aufzulauern und ihr Blut zu trinken. Die ersten sechsunddreißig Stunden hielten sie dabei für besonders kritisch, denn während dieser Zeit fiel es einem bösen Geist angeblich recht leicht, den Toten zu übernehmen. Magiere kannte all die Legenden und Geschichten; diese war weit verbreitet. Manche glaubten, dass sich Vampirismus wie eine Krankheit ausbreitete oder dass solche Geschöpfe böse Menschen waren, vom Schicksal verflucht und zu einer untoten Existenz verurteilt. Die Einzelheiten variierten, aber das Ergebnis war immer das gleiche: Die Menschen verbrachten lange Nächte vor Furcht zitternd, während sie auf den Jäger warteten.
Am Kopf des Tisches stand ein großer, dunkelhaariger Mann, wie ein Bär mit grauem Stoppelbart. Er sah auf die geschlossenen Augen des Jungen hinab, und es dauerte einige Sekunden, bis er den Blick hob und Magieres Präsenz zur Kenntnis nahm. Seine Kleidung war ebenso beschaffen wie die der anderen, schien nur etwas weniger schmutzig zu sein, doch die Haltung wies ihn als Zupan aus. Langsam trat er auf sie zu, und die anderen wichen beiseite.
»Ich bin Petre Evanko«, sagte er mit überraschend sanfter Stimme. Er deutete auf die Frau, die Magiere begrüßt hatte. »Meine Frau Anna.«
Magiere nickte höflich, stellte sich aber nicht vor. Rätsel und Geheimnisse waren Teil ihres Auftritts.
Zupan Petre stand da und musterte sie – ein wichtiger Moment, auf den Magiere gut vorbereitet war.
Sie trug den nietenbesetzten Lederharnisch einer Kriegerin, die zu viel unterwegs war, um sich mit einer schwereren Rüstung zu belasten. Der weite Umhang ließ nicht erkennen, was sich darunter befand. Das dichte schwarze Haar mit den rötlichen Tönen war, vernünftig und praktisch, zu einem langen, schlichten Zopf gebunden. Am Hals hingen zwei sonderbare Amulette, die niemand identifizieren konnte und die sie nur dann zeigte, wenn sie in einem Dorf arbeitete. Hinzu kam ein spitzer Holzstock mit lederumwickeltem Griff.
Magiere nahm den Rucksack ab, und er öffnete sich, als sie ihn auf den Boden stellte. Zupan Petre sah auf den Inhalt hinab: nicht etikettierte Gläser, Urnen und Beutel, einige davon mit seltsamen Kräutern und Pulvern gefüllt. Eine solche Ausstattung erwartete man bei jemandem, der gegen die Untoten kämpfte.
»Es ist mir eine Ehre, Zupan Petre«, sagte Magiere. »Deine Nachricht erreichte mich vor zwei Wochen. Leider konnte ich nicht eher kommen – es gibt nur wenige Jäger und viel Arbeit für uns.«
Er lächelte dankbar. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Komm und sieh dir meinen Sohn an. Er stirbt.«
»Ich bin keine Heilerin«, wandte Magiere ein. »Ich kann euch von dem Untoten befreien, aber ich bin nicht in der Lage, den bereits angerichteten Schaden zu beheben.«
Anna streckte die Hand aus und berührte ihren Umhang. »Sieh ihn dir einfach nur an. Vielleicht erkennst du etwas, das wir nicht sehen.«
Magiere blickte zum Jungen und trat näher. Die Dorfbewohner machten ihr Platz. Sie achtete immer darauf, deutlich auf ihre Grenzen hinzuweisen und nie leere Versprechungen zu machen. Der Junge war blass und atmete sehr flach, doch Magieres Verwunderung wuchs. Es gab weder wunde Stellen noch Fieber; nichts deutete auf Verletzung oder Krankheit hin.
»Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«
»Seit zwei Tagen«, sagte Anna leise. »Genau wie die anderen.«
»Waren auch die anderen Opfer Jungen in seinem Alter?«
»Nein. Ein älterer Mann und zwei junge Frauen.«
Kein Muster. Magiere sah auf den schlafenden Jungen hinab und wandte sich dann an Anna. »Zieh ihm das Hemd aus.«
Sie wartete, bis Anna ihrer Aufforderung nachgekommen war, untersuchte dann Arme und Brust des Jungen. Anschließend nahm sie sich die Gelenke seiner Gliedmaßen vor. Die Haut war intakt, aber so blass, dass sie im bernsteinfarbenen Schein des Kaminfeuers fast blau wirkte. Magiere hob den Kopf des Knaben und kniff andeutungsweise die Augen zusammen, als sie unter dem linken Ohr zwei feuchte Löcher entdeckte. An ihrem ernsten Gesichtsausdruck änderte sich nichts.
Ihr Blick glitt zu Zupan Petre. »Hast du das hier gesehen?«
Der große Mann runzelte die Stirn. »Natürlich. Trinkt der Vampir nicht das Blut seines Opfers durch den Hals?«
Magiere betrachtete erneut die Löcher. »Ja, aber …«
Die Löcher waren groß – vielleicht stammten sie von einer großen Schlange. Möglicherweise gingen Blässe und flacher Atem auf die Wirkung von starkem Gift zurück.
»Ist jemand die ganze Zeit über bei ihm gewesen?«, fragte Magiere.
Petre verschränkte die Arme. »Anna oder ich. Es käme uns nicht in den Sinn, ihn allein zu lassen.«
Magiere nickte. »Sonst noch jemand?«
»Nein«, hauchte Anna. »Warum stellst du solche Fragen?«
Magiere riss sich zusammen; sie durfte diese Leute nicht zu sehr verunsichern. »Keine zwei Untote töten auf die gleiche Weise. Das Wissen um die Einzelheiten hilft mir bei der Vorbereitung.«
Die alte Frau entspannte sich und wirkte fast verlegen. Ihr Mann nickte anerkennend.
Magiere kehrte zu ihrem Rucksack zurück. Zwei Dorfbewohner, die sich neugierig über ihn gebeugt hatten, wichen rasch beiseite. Magiere legte ihren Stock auf den Boden und entnahm dem Rucksack einen großen Messingbehälter, von der Form her eine Mischung aus Schüssel und Urne. Ein Deckel aus hartem Leder verschloss ihn und wies sonderbare Zeichen auf, ebenso wie auch der Behälter selbst.
»Dies brauche ich, um den Geist des Vampirs einzufangen. Viele Untote sind geistige Geschöpfe.«
Alle beobachteten sie voller Faszination und Interesse, und als Magiere sicher sein konnte, die volle Aufmerksamkeit der Dorfbewohner zu haben, wechselte sie das Thema. Es wurde Zeit, über den Preis zu reden.
»Ich weiß, dass euer Dorf leidet, Zupan, aber meine Materialien sind teuer.«
Petre war bereit und winkte Magiere zu einem Hinterzimmer. »Letzte Woche ging meine Familie von Tür zu Tür und bat um Spenden. Wir sind nicht reich, aber alle haben geholfen, indem sie etwas gaben.«
Er öffnete die Tür, und Magiere sah Dinge auf einer Steppdecke, die man auf dem schmutzigen Boden ausgebreitet hatte: zwei dicke Scheiben geräuchertes Schweinefleisch, vier große Stücke weißer Käse, etwa zwanzig Eier, drei Wolfsfelle und zwei silberne Statuetten, vielleicht kleine Bildnisse einer Gottheit, die die Gebete dieser Leute nicht erhört hatte. Alles in allem gesehen handelte es sich um ein sehr typisches erstes Angebot.
»Tut mir leid«, sagte Magiere. »Du verstehst nicht. Lebensmittel sind willkommen, aber die Decke ist nutzlos für mich, und der Rest deckt nicht meine Kosten. Es geschieht recht oft, dass ich ohne Gewinn arbeite, aber ich kann nicht mit Verlust arbeiten. Ohne genug Münzen brauche ich wenigstens Dinge, die ich verkaufen kann, um mit dem Erlös zu bezahlen, was ich für den Kampf brauche. Die meisten meiner Materialien sind rar und daher sehr teuer.«
Petre erbleichte bestürzt. Offenbar hatte er das Angebot für großzügig gehalten. »Mehr haben wir nicht. Ich habe meine Familie betteln geschickt. Du kannst uns nicht sterben lassen. Müssen wir jetzt um unser Leben feilschen?«
Magiere war an solche Wortwechsel gewöhnt, doch Zupan Petre schien intelligenter zu sein als die meisten anderen Dorfoberhäupter, mit denen sie zu tun gehabt hatte. Ihr Gesicht brachte Anteilnahme zum Ausdruck, aber auch feste Entschlossenheit. In solchen Dörfern gab es fast immer einen kleinen Schatz, dort verborgen, wo ihn Steuereintreiber nicht finden konnten: Familienerbstücke, vielleicht ein kleiner Edelstein oder etwas Silber.
»Du bist den ganzen weiten Weg gekommen und willst nichts tun?«, fragte Petre voller Kummer.
Anna legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Gib ihr das Saatgeld, Petre.« Sie sprach leise, und Furcht vibrierte in ihrer Stimme.
»Nein«, erwiderte er scharf.
Anna wandte sich an die anderen, die bisher geschwiegen hatten. »Was nützt uns das Saatgeld, wenn wir bis zum Frühling alle tot sind?«
Petre atmete scharf ein. »Wie lange überleben wir nächstes Jahr, wenn wir nichts zu essen haben? Wie lange überleben wir in den Verliesen des Herrn, wenn wir die Steuern nicht bezahlen können?«
Magiere nahm nicht an dem Gezänk teil. Es würde eine Zeit lang hin und her gehen, bis sich schließlich die Furcht durchsetzte. Ihr folgte die Hoffnung, dass sie im nächsten Jahr irgendwie über die Runden kommen würden, wenn sie den jetzigen Schrecken überstanden. Magiere kannte diese Bauern. Sie waren alle gleich.
Argumente flogen hin und her. Magiere achtete nicht darauf, inspizierte den Inhalt ihres Rucksacks und war sicher, wie die Diskussion enden würde. Jene, die das Saatgeld behalten und hinsichtlich des Vampirs ein Risiko eingehen wollten, würden bald in die Minderzahl geraten. Und tatsächlich: Der Streit hörte so schnell auf, dass sein abruptes Ende überraschend gewesen wäre, wenn Magiere dies nicht oft erlebt hätte.
Zuerst sprach niemand. Dann trat ein schmächtiger Mann in mittleren Jahren von einer Ecke in die Mitte des Raums und sah den Zupan an. Die Rußflecken auf seiner Lederschürze ließen vermuten, dass er der Schmied des Dorfes war.
»Gib ihr die Münzen, Petre. Uns bleibt keine Wahl.«
Petre verließ das armselige Gemeinschaftshaus und kehrte kurz darauf schnaufend zurück. Mit feurigen Augen sah er Magiere an, als wäre sie die Ursache des Leids, nicht als hätte man sie gerufen, um das Dorf zu retten.
»Hier ist das, was nach den Steuern dieses Jahres übrig blieb.« Petre warf ihr den Beutel zu, und Magiere fing ihn auf. »Nächstes Jahr gibt es vielleicht kein Getreide.«
»Es steht euch frei zuzusehen«, sagte sie, und mehrere Dorfbewohner wichen in die Schatten zurück. »Ich werde den Untoten unter meine Kontrolle bringen. Bleibt zu Hause und beobachtet durch die Fensterläden, wie gut ihr das Saatgeld angelegt habt.«
Der Hass in Petres Augen verwandelte sich in Resignation. »Ja, wir sehen zu, wie du das Ungeheuer tötest.«
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Magiere kniete mitten auf dem Hauptweg des Dorfes, im Licht von zwei Fackeln, deren Griffe sie in den Boden gesteckt hatte. Sie stellte die Messingurne in den Matsch und drehte sie einige Male, bis sie sicher war, dass das Gefäß nicht kippen konnte. Einen kleinen Holzhammer legte sie daneben.
Anna und zwei Männer beobachteten das Geschehen durch einen Spalt zwischen den Fensterläden des Gemeinschaftshauses. Weitere neugierige Blicke kamen aus anderen kleinen Häusern und Hütten. Doch der Zupan stand vor der Tür des Gemeinschaftshauses.
Magiere nahm eine Flasche aus ihrem Rucksack und gab daraus feines weißes Pulver auf eine Handfläche. Sie ließ es zwischen ihren Händen hin- und herrieseln, warf es dann mit einer schwungvollen Bewegung hoch und wartete. Die winzigen Partikel fielen nicht, sondern bildeten eine Wolke, die im Licht der beiden Fackeln auf wundersame Weise zu glühen begann. Sie hörte, wie die Bauern nach Luft schnappten.
Aus einer anderen Flasche schüttete sich Magiere rotes Pulver auf die Hand und warf es ebenfalls hoch, noch schwungvoller. Die winzigen roten Teilchen tanzten zwischen den weißen und bewegten sich wie sandkorngroße Glühwürmchen.
Magiere stand still da und schloss für einen Moment die Augen. Dann hob sie die Lider, ohne den Blick auf etwas zu richten. Von der glühenden Wolke umgeben wirkte sie mit ihrer blassen Haut und dem dunklen Haar wie ein Geist, wie etwas, das mit den Geschöpfen der Nacht, die sie jagte, verwandt war. Wenn das vom Fackelschein geschaffene rote Funkeln und Schimmern ihren Kopf berührte, so erschienen karmesinrote Streifen in ihrem Haar. Sie nahm den zugespitzten Stock und schloss die Hand fest um den ledernen Griff.
»Das Rote lockt den Untoten an, wie Blut!«, rief sie. »Er kann ihm nicht widerstehen.« Sie ging in die Hocke, ließ den Zopf über die linke Schulter fallen und sah über den Weg, in die Richtung, aus der das Ungeheuer kommen würde.
Ein vager Schemen huschte zwischen den Gebäuden.
Magiere deutete auf eine halb verfallene Hütte zehn Schritte den Weg hinunter. »Dort! Er kommt!«
Mit den Fingerspitzen der freien Hand öffnete sie den Deckel der Urne, nahm eine andere Flasche mit rotem Pulver und warf ihren Inhalt in die Luft.
Von einem Augenblick zum anderen prallte etwas gegen ihren Rücken und stieß sie mit solcher Wucht zu Boden, dass sie beinahe ohnmächtig wurde. Hinter ihr schrie Anna. Magiere spuckte Dreck und rollte sich auf dem Boden zur Seite, um dem Angreifer zu entgehen. Rasch ging sie wieder in die Hocke, drehte sich und hielt nach dem Gegner Ausschau. Leer erstreckte sich der Weg vor ihr.
Mehrere Sekunden vergingen, als Magiere von einer Seite zur anderen sah und zwischen den Hütten des Dorfes nach Bewegung suchte. Der Zupan war zur Tür des Gemeinschaftshauses zurückgewichen und hatte die Augen weit aufgerissen, aber er blieb draußen und beobachtete weiterhin.
»Was in …«
Das Etwas kam erneut heran, diesmal von der Seite, warf Magiere einmal mehr zu Boden. Wasser drang durch die Kniehose und unter den Lederharnisch, als sie durch den Schlamm rutschte und mit der Schulter gegen eine der beiden Fackeln stieß. Sie fiel um und ging zischend aus.
Magiere sprang auf und sah sich um. Es brannte nur noch eine Fackel, und dadurch verdichteten sich die Schatten um sie herum.
Die Dorfbewohner gerieten in Panik, schrien und klappten Fensterläden zu. Magiere stellte fest, dass Petre ins Gemeinschaftshaus zurückgekehrt und bereit war, die Tür zu schließen, wenn die Umstände es erforderten.
»Dort, links von dir!«, rief der Zupan.
Aus dem Augenwinkel sah sie etwas, duckte sich unter einem schwingenden Arm hinweg und griff danach. »Keine Spielchen mehr«, flüsterte sie.
Ihre Hand bekam etwas Wollenes zu fassen, und sie zog.
Etwas riss, als Magiere ihre Kraft der des Angreifers entgegenstellte, aber der Stoff hielt der Belastung stand. Sie weigerte sich, das Kleidungsstück loszulassen, wodurch sie sich zusammen mit dem Angreifer drehte, das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte. Zusammen fielen sie zu Boden und suchten im Schlamm nach Halt. Magiere kam auf die Knie, wandte sich dem Geschöpf zu und hielt den Stock bereit. Im Licht der einen Fackel hob das Wesen den Kopf.
Es war dünn und schmutzig, und die Haut zeigte das gleiche weiße Glühen wie das erste in die Luft geworfene Pulver. Silberblondes, verdrecktes strähniges Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit schräg stehenden bernsteinfarbenen Augen und spitz zulaufenden Ohren. Der Umhang, den Magiere gepackt hatte, hing in Fetzen um die Schultern.
Sie wich zwei Schritte zurück, den Stock in der Hand, und suchte nach festem Boden unter ihren Füßen, ohne dabei den Blick von der bleichen Gestalt abzuwenden.
Das Wesen griff erneut an und bewegte sich sehr schnell. Eine Klauenhand schoss nach vorn und schloss sich um das Ende des Zopfes. Sie waren beide völlig durchnässt, und hinzu kam der Schlamm, der alles glitschig und jede Bewegung schwierig machte. Magiere ließ sich zu Boden fallen, zog ihren Gegner mit und rollte zur Seite, kam dann wieder nach oben, über dem Angreifer. Sie rammte den Stock nach unten, hielt ihn dabei so fest wie möglich.
Blut spritzte aus der Brust, als das Wesen im Schlamm zuckte und heulte. Magiere biss die Zähne zusammen und hielt das Geschöpf am Boden, mit dem Pflock im Herzen.
Die Kreatur zappelte und versuchte, nach dem Stock zu greifen. Sie wölbte den Oberkörper, hob dadurch Magiere halb in die Höhe, und ein gutturaler Schrei entrang sich ihrer Kehle. Schließlich erschlaffte das Wesen und blieb im Schlamm liegen.
Magiere hielt den Pflock fest, bis sich das Geschöpf überhaupt nicht mehr regte. Dann eilte sie zur Messingurne, hob sie, nahm den Holzhammer daneben und schlug ihn an die Seite des Behälters.
Ein lautes Scheppern hallte durch die Nacht. Magiere lief zur anderen Seite des Wesens und schlug mit dem Hammer immer wieder an die Urne. Es war ein solcher Lärm, dass sich der Zupan im Eingang des Gemeinschaftshauses die Ohren zuhielt. Schließlich wurde es wieder still, und Magiere drückte den Deckel auf die Urne. Dann stand sie da und hörte nur noch das eigene Schnaufen.
Zupan Petre wollte zu ihr kommen, um einen Blick auf das Ungeheuer zu werfen oder seine Hilfe anzubieten, aber Magiere hob die Hand und hielt ihn zurück.
»Nein«, keuchte sie erschöpft. »Bleib, wo du bist. Solche Geschöpfe können selbst tot gefährlich sein.«
»Jägerin …« Petre suchte nach Worten, und sein Gesicht zeigte ein Durcheinander von Gefühlen. »Hast du jemals ein solches Wesen gesehen?«
Magiere sah auf die blutbesudelte Gestalt am Boden hinab und schüttelte den Kopf. »Nein, Zupan, das habe ich nicht.«
Sprachlos beobachtete der Zupan, wie Magiere ein Seil und eine Plane aus dem Rucksack holte. Die Plane wies mehrere dunkle Flecken auf, und sie wickelte den Leichnam darin ein, schlang das Seil um die Füße. Anschließend sammelte sie rasch ihre Sachen ein, verstaute sie im Rucksack und schwang ihn sich auf den Rücken. Die Messingurne klemmte sie sich unter den Arm.
»Ist es vorbei?«, fragte Petre.
»Nein.« Magiere nahm das Ende des Seils. »Ich muss die Reste des Wesens auf angemessene Weise beseitigen und seinen Geist zur letzten Ruhe schicken. Morgen früh seid ihr frei.«
»Brauchst du Hilfe?« Offenbar widerstrebte es Petre Evanko, dies zu fragen, aber er wollte sich von seiner Furcht nicht zurückhalten lassen.
»Ich muss dabei allein sein«, erwiderte Magiere unverblümt und ließ es wie einen Befehl klingen, der Gehorsam verlangte. »Der Geist macht sich nicht freiwillig auf den Weg. Er wird für ein neues Leben kämpfen, noch härter und entschlossener als eben, und wenn ein Körper in der Nähe ist, den er übernehmen kann, so waren alle meine Bemühungen umsonst. Bis morgen früh geht niemand in den Wald; andernfalls lehne ich die Verantwortung für die Konsequenzen ab. Wenn alles klappt, sehen wir uns nicht wieder.«
Petre nickte. »Wir danken dir, Jägerin.«
Magiere sagte nichts mehr, als sie das Dorf verließ und den Leichnam hinter sich herzog.
Schlamm war in jede Öffnung von Magieres Lederharnisch und Kleidung gedrungen. Der scheuernde Dreck und der lange Marsch durch den Wald, bei dem sie den Körper ziehen und ihre Ausrüstung tragen musste, dämpften ihre Stimmung. Schließlich erreichte sie eine kleine Lichtung und warf dort einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen war. Es wäre sehr bedauerlich gewesen, einen dummen Dorfbewohner töten zu müssen, aber es schien ihr niemand gefolgt zu sein, und sie hörte nur die natürlichen Stimmen der Bäume im Wind. Magiere ließ das Seil los und nahm den Rucksack ab.
Ein dumpfes Knurren kam aus dem Gebüsch auf der anderen Seite der Lichtung, und Magiere versteifte sich. Blätter raschelten, und ein geradezu riesiger Hund erschien. Er erinnerte an einen Wolf, doch bei ihm gingen die Grautöne fast ins Blaue über, und das Weiß schien heller zu sein als bei einem Wolf. Seltsame, fast silberblaue Augen sahen Magiere an. Das Tier knurrte noch einmal und blickte zum Bündel hinter ihr.
»Ach, sei still, Chap«, brummte Magiere. »Nach all der Zeit solltest du die Geräusche erkennen, die ich mache.«
Plötzlich bekam Magiere einen Stoß von hinten. Verblüfft riss sie die Augen auf, als sie fiel und über den weichen Boden rutschte, bis sie an einem Ahornstamm landete. Rasch stand sie auf und drehte sich um.
Das Bündel hatte sich geöffnet, und auf der Lichtung stand die bleiche Gestalt mit dem Pflock im Herzen.
»Verdammt, Magiere, das tat weh!« Er schloss die Hand um den Stock. »Du hast das Ding nicht richtig geölt, oder?«
Magiere lief über die Lichtung und brachte den jungen Mann mit einem Tritt zu Fall. Er landete auf dem Rücken, und sie war sofort auf ihm, drückte ihm mit den Knien die Arme an den Boden und schloss beide Hände um den Pflock.
Zorn brannte wie ein Fieber in ihr. Einige Strähnen des schmutzigen, nassen Haars klebten in ihrem Gesicht, als sie auf die weiße Gestalt hinabsah und ihr den Pflock aus der Brust zog.
»Du verdammter Narr!«, sagte sie scharf. »Wenn du dich an den Plan gehalten und mich nicht in den Schlamm gestoßen hättest, wäre kein Dreck in die Scheide geraten.«
Wo sich zuvor die Spitze des Stocks befunden hatte, war jetzt nichts mehr. Der Pflock hörte am Ende des lederbezogenen Griffs auf. Magiere blickte kurz ins hohle Ende und schlug den Stock dann an eine aus dem Boden ragende Wurzel. Es klackte, und die Spitze sprang aus dem Griff.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Sie packte den jungen Mann am Hemd. »Du solltest es besser wissen, Leesil. Wir gehen immer gleich vor. Keine Veränderungen, keine Fehler. Wo ist dein Problem?«
Leesils Kopf sank auf den Boden zurück. Er blickte zum Blätterdach hoch und seufzte melancholisch, was für Magiere viel zu übertrieben klang.
»Es läuft überall auf die gleiche Weise ab«, jammerte er. »Es langweilt mich!«
»Steh auf«, schnappte Magiere und gab Leesil frei. Sie warf den Pflock neben ihre Ausrüstung, griff unter einen Busch und holte einen zweiten Rucksack und eine Laterne hervor. Die Laterne brannte noch – Leesil hatte sie angezündet, bevor er für seine Vorstellung ins Dorf gekommen war. Magiere öffnete die Klappe und drehte den Docht höher, wodurch sie etwas mehr Licht bekamen.
Leesil setzte sich auf und öffnete sein zerrissenes Hemd. Unter dem Halsausschnitt wurde die wahre Farbe seiner Haut sichtbar: kein leichenhaftes Weiß, sondern warmes Braun. Er kratzte am weißen Puder, der den Hals bedeckte. An der Brust war ein geplatzter Lederbeutel festgebunden, aus dem noch immer rote Farbe quoll. Darauf befand sich ein kleiner Höcker aus Wachs, der den Pflock festgehalten hatte. Leesil verzog das Gesicht, als er die Schnüre löste, die alles zusammenhielten.
»Du sollst von vorn angreifen, damit ich dich sehen kann«, sagte Magiere, als sie die fleckige Plane zusammenrollte, in der sie Leesil aus dem Dorf gezogen hatte. »Und wo hast du gelernt, dich so gut zu verbergen? Zuerst konnte ich dich überhaupt nicht erkennen.«
»Sieh dir das an«, antwortete Leesil erstaunt und verärgert. Mit der einen Hand wischte er Farbe beiseite. »Ich habe einen großen roten Striemen mitten auf der Brust.«
Der Hund namens Chap kam näher und setzte sich neben Leesil. Er beschnupperte den weißen Puder im Gesicht und winselte verdrossen.
»Geschieht dir ganz recht«, sagte Magiere. Sie stopfte Plane, Seil und Messingurne in den Rucksack und schwang ihn sich auf den Rücken. »Nimm die Laterne und lass uns aufbrechen. Ich möchte die Flussbiegung erreichen, bevor wir lagern. Hier übernachten wir nicht; wir sind dem Dorf noch zu nahe.«
Chap wurde unruhig und bellte. Magiere klopfte ihm auf den Rücken.
»Und sorg dafür, dass er still ist«, fügte Magiere hinzu und sah den Hund an.
Leesil nahm seine Sachen und die Laterne, folgte ihr dann. Chap fand seinen eigenen Weg durchs Unterholz.
Sie kamen gut voran, und Magiere war erleichtert, als sie sich der Biegung des Wudrask näherten. Jetzt waren sie weit genug vom Dorf entfernt, um das Nachtlager aufschlagen und ein Feuer entzünden zu können. Sie wandte sich vom offenen Flussufer ab und wählte eine Lichtung im Wald, gut verborgen hinter Büschen. In Begleitung von Chap ging Leesil sofort wieder zum Fluss, um sich zu waschen, und Magiere zündete ein kleines Feuer an. Als Leesil zurückkehrte, sah er wieder mehr wie er selbst aus, wirkte aber keineswegs wie ein normaler Mensch.
Seine Haut war tatsächlich braun, und im Vergleich mit ihm kam sich Magiere sehr blass vor. Bei seinem Haar lag der Fall anders: Es war so blond, dass es in der Dunkelheit weiß zu sein schien – für den Auftritt in einem Dorf musste es nicht gefärbt werden. Mit einem gelbweißen Glanz fiel es ihm bis auf die Schultern. Die Ohren waren länglich, oben nicht direkt spitz, und die bernsteinfarbenen Augen standen ein wenig schräg. Die Brauen darüber hatten die gleiche Farbe wie das Haar.
Magiere hatte oft daran gedacht, wie sehr dieser geschmeidige Mann das Gegenteil von ihr selbst war. Die meiste Zeit trug Leesil sein langes Haar zusammengebunden unter einem Tuch, das auch die oberen Teile der Ohren bedeckte. In diesem Teil des Landes war das Volk, dem seine Mutter entstammte, so selten, dass er und Magiere befürchteten, ein Halbblut wie er könnte zu viel Aufmerksamkeit erregen – was es angesichts der Art und Weise, wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdienten, zu vermeiden galt.
Leesil nahm am Feuer Platz, zog sich eine Decke um die Schultern und holte einen Weinschlauch hervor.
Magiere sah ihn an. »Ich dachte, du hättest nichts mehr.«
Er lächelte. »Gestern habe ich in dem Ort, durch den wir gekommen sind, einige notwendige Dinge besorgt.«
»Ich hoffe, du hast sie mit deinem Geld bezahlt.«
»Natürlich.« Leesil zögerte. »Da wir gerade bei Geld sind … Wie viel haben wir bekommen?«
Magiere öffnete den kleinen Beutel und zählte die Münzen. Sie reichte Leesil zwei Fünftel der Einnahmen und behielt den größeren Teil für sich. Leesil erhob nie Einwände, denn es war Magiere, die es direkt mit den Dorfbewohnern zu tun bekam. Er steckte die Münzen in einen Beutel am Gürtel, neigte dann den Kopf nach unten, trank und drückte dabei den Weinschlauch.
»Trink nicht zu viel«, sagte Magiere. »Es dauert nicht mehr lange bis zum Morgen, und ich möchte nicht, dass du bis mittags schläfst. Wir müssen uns früh auf den Weg machen.«
Leesil erwiderte ihren Blick und rülpste. »Beruhig dich. Dies ist das Beste an der ganzen Sache: Wir haben das Geld in der Tasche und Gelegenheit, uns zu entspannen.«
Das Feuer zischte und knackte. Chap legte sich dicht neben Leesil. Magiere lehnte sich zurück, und ein Teil ihrer Anspannung löste sich auf. In solchen Momenten wusste sie gar nicht mehr, wie viele Nächte seit dem ersten Abend dieser Art vergangen waren. Wenn sie sich wirklich die Zeit nahm, sie zu zählen, so wurde ihr klar, dass sie erst vor einigen Jahren mit dem Spiel begonnen hatten. Sie rieb sich einen schmerzenden Nackenmuskel. Dies war ein besseres Leben als jenes, in das sie hineingeboren worden war – es hätte darin bestanden, von morgens bis abends auf dem Bauernhof zu schuften und früh alt zu werden. Doch Leesils unerwarteter Strategiewechsel an diesem Abend und seine »Verspieltheit« erschienen ihr nun wie ein Omen, und Unruhe erfasste sie, als sie an ihre sorgfältig geplante Zukunft dachte. Eine Zukunft, von der sie ihm noch nichts erzählt hatte. Ihr fiel ein, dass sie in dieser Hinsicht vielleicht ebenso abergläubisch war wie die Bauern, die sie verachtete, aber das Unbehagen verschwand nicht. Möglicherweise lag es daran, wie sie aufgewachsen war.
Im nahen Land Dröwinka geboren, hatte Magiere nie ihren Vater kennengelernt, aber während ihrer Kindheit dies und jenes über ihn erfahren. Als reisender adliger Vasall beaufsichtigte er die Bauern für die hohen Herren und sammelte Abgaben für gepachtetes Land. Manchmal blieb er Monate oder gar Jahre an einem Ort, aber schließlich zog er im Auftrag seiner Gebieter weiter. Man hatte ihn immer nur am frühen Abend gesehen, wenn das Licht des Tages Dunkelheit wich und man alle Leute nach der Arbeit in ihren Häusern und Hütten antreffen konnte. Magieres Mutter war eine junge Frau aus einem Dorf unweit des Anwesens des Barons. Der Adlige nahm sie als seine Mätresse, und fast ein Jahr lang sah man sie nur noch sehr selten.
Im Dorf machten Gerüchte über das Schicksal von Magieres Mutter die Runde, aber die kaum bekannte Wahrheit war recht banal. Einige Leute berichteten, sie abends auf dem Gelände des Herrenhauses gesehen zu haben, blass und apathisch. Doch später wurde deutlich, dass sie schwanger war. Sie starb bei der Geburt ihres Kindes, eines Mädchens, und der Baron erhielt die Anweisung, ein anderes Lehensgut aufzusuchen. Er wollte sich nicht mit einer unehelichen Tochter belasten, überließ den Säugling der Schwester der Verstorbenen und verschwand. Diese Tante war es, die Magiere ihren Namen gab, nach ihrer Mutter, Magelia. Den Namen von Magieres Vater erfuhren die Dorfbewohner nie – die Kluft zwischen den Klassen war zu groß. Er hatte Macht. Sie nicht. Mehr brauchte niemand zu wissen.
Tante Bieja versuchte, freundlich zu sein und sie als eine Angehörige der Familie zu behandeln, im Gegensatz zu den anderen Dorfbewohnern. Magieres Vater war ein Adliger und hatte sich einfach eine hübsche Frau aus dem Dorf genommen, weil er dazu in der Lage war – das genügte, um in den einfachen Leuten Hass und Wut zu wecken. Der Baron war fort, Magiere blieb. Und doch, es steckte mehr dahinter als nur Feindseligkeit.
Die Dorfbewohner flüsterten, richteten furchterfüllte Blicke auf sie und riefen Schimpfwörter, wenn Magiere an ihnen vorbeiging. Sie wollten nicht, dass ihre Kinder etwas mit ihr zu tun bekamen. Der einzige Junge, der den Kontakt mit ihr suchte – Geshan, der Sohn eines Ziegenhirten –, bekam eine Tracht Prügel und die Aufforderung, sich von dem »Unheilskind« fernzuhalten. Etwas an ihrem Vater hatte ihnen Angst eingejagt, etwas, das über seine Position und Macht hinausging. Zuerst hatte Magiere alles über ihn wissen wollen und nach Antwort auf die Frage gesucht, warum die Leute sie mieden und ihren Vater fürchteten.
Tante Bieja sagte einmal voller Mitgefühl: »Sie fürchten, dass dein Vater unnatürlich ist.« Mehr gab sie nicht preis.
Irgendwann ließ Magieres Neugier in Hinsicht auf ihre Eltern nach, und gleichzeitig begann sie, die Dorfbewohner wegen ihres Aberglaubens und ihrer Dummheit zu verabscheuen. Im Lauf der Jahre erfuhr sie kaum mehr, und die Feindseligkeit ihr gegenüber wuchs. Schließlich scherte sie sich nicht mehr um ihre Vergangenheit und legte sich allen anderen gegenüber ein dickes Fell zu.
Als sie sechzehn wurde, nahm Tante Bieja sie beiseite, holte einen verschlossenen Holzkasten unter dem Bett hervor und gab ihn ihr. Er enthielt mehrere Gegenstände, in Wachstuch gehüllt, damit sie vor Feuchtigkeit geschützt waren: ein Falchion, zwei seltsame Amulette und einen nietenbesetzten Lederharnisch, passend für einen jungen Mann. Eins der Amulette bestand aus einem Topas, von Zinn umfasst; der Stein hing an einer schlichten Lederschnur. Das andere war ein halbes Oval auf Zinn: Es enthielt offenbar einen Knochensplitter, in den sonderbare Zeichen eingeritzt waren. Dieses Amulett hing nicht an einer Lederschnur, sondern an einer Kette, und zwar so, dass die Wölbung des halben Ovals nach unten zeigte und der Knochensplitter zu sehen war.
»Vermutlich hat er einen Sohn erwartet«, sagte Tante Bieja und meinte Magieres geheimnisvollen Vater. »Vielleicht kannst du die Dinge verkaufen.«
Magiere nahm das Falchion. Es war erstaunlich leicht, und die Klinge glänzte im matten Kerzenschein. Das Heft wies ein Zeichen auf, vielleicht der Buchstabe einer Sprache, die sie nicht kannte. Der Glanz des Metalls deutete darauf hin, dass Tante Bieja es über die Jahre hinweg immer wieder geputzt hatte, aber der Holzkasten hatte eine dicke Staubschicht, was den Schluss zuließ, dass er lange Zeit nicht geöffnet worden war. Die Klinge hätte auf dem Markt vielleicht einen guten Preis erzielt, doch von jenem Abend an gingen Magieres Gedanken in eine andere Richtung. In einer Frühlingsnacht verließ sie das Dorf, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Es musste etwas Besseres in der Welt geben … etwas Besseres als morgens nach draußen zu gehen und hasserfüllte Gesichter zu sehen oder Menschen zu begegnen, die einem keine Beachtung schenkten. Auf ihre Vergangenheit konnte sie keinen Einfluss mehr nehmen, wohl aber auf ihre Zukunft, und die wollte sie nicht in Gesellschaft solcher Leute verbringen.
Die folgenden Jahre waren sehr schwer gewesen. Magiere zog von Ort zu Ort und nahm jede Arbeit an, um zu überleben. Dabei lernte sie alles Notwendige: wie man kämpfte und jagte, wie man den Dummen und Unachtsamen Geld abnahm. Für eine reisende junge Frau gab es kaum Arbeit, und zweimal wäre sie fast verhungert. Aber sie kehrte nie in ihr Heimatdorf zurück. Das kam für sie nicht infrage.
Ihr Hass auf den Aberglauben ließ nicht nach. Immer deutlicher merkte sie, wie abergläubisch die Leute auf dem Land waren und wie sehr sie sich ähnelten, und es fiel ihr letztendlich nicht schwer, das auszunutzen. Die einfachen Menschen fürchteten vor allem Dunkelheit und Tod und alles, was damit in Zusammenhang stand. Die Idee für »das Spiel« kam ihr nicht plötzlich. Sie reifte vielmehr in Phasen heran, als sie nach und nach begriff, dass sie ihren Lebensunterhalt verdienen konnte, indem sie sich die Furcht der Leute zunutze machte – die gleiche Art von Furcht, durch die sie einst zu einer Ausgestoßenen geworden war.
Zuerst arbeitete sie allein und überzeugte Bauern davon, dass Vampire oft geistige Wesen waren, die man fangen und töten konnte. Glühende Wolken aus schwebendem Pulver, falscher Zauber und Beschwörungen ließen dumme Bauern tatsächlich glauben, dass sie in der Lage war, Untote zu fangen und in die Messingurne zu sperren. Sie fügte ihrer Vorstellung den Trick mit der Farbe im Weinschlauch hinzu und entsetzte ihre Kunden durch »blutende Wunden«, die sie sich beim Kampf gegen unsichtbare Angreifer zuzog. In den Gebieten, in denen sie unterwegs war, schuf sie eine Art Nachrichtenzentrum, für gewöhnlich in einer gut besuchten Taverne, wo Erzählungen die Runde machten und sich ihre Taten schnell herumsprachen. An einem solchen Ort kam es zur ersten Begegnung mit Leesil. Er war sehr gut bei dem, was er machte. So gut, dass sie ihn eigentlich nicht hätte erwischen sollen.
Als sie eines Abends von einer Taverne fortging, spürte sie plötzlich ein Prickeln im Kreuz, das nach oben kroch und den Kopf erreichte. Die ganze Nacht um sie herum schien lebendig zu werden, als ihre Sinne empfindlicher wurden, und sie hörte die Hand, die in den Kleiderbeutel über ihrer Schulter griff, anstatt sie zu fühlen. Magiere drehte sich um, packte das Handgelenk des Diebs und sah die große Überraschung in seinem Gesicht. Ein seltsames Gesicht war es, braun, mit glitzernden bernsteinfarbenen Augen unter hohen, dünnen und blonden Brauen.
Magiere wusste nicht mehr, was sie gesagt hatten, um dem Moment die Spannung zu nehmen. Vielleicht waren ihnen beiden die besonderen Talente des anderen klar geworden. Magiere hatte nie zuvor einen Elfen gesehen, denn sie lebten weit im Norden und reisten nicht viel. Die Kombination von Menschen- und Elfenblut schuf ein exotisches Aussehen. Bei viel Wein verbrachten sie einen Abend im Gespräch, und dabei nahm Leesil sein Kopftuch ab und ließ sie seine Ohren sehen. Am nächsten Morgen machten sie sich gemeinsam auf den Weg, in Begleitung von Leesils Wolfshund. Das alles lag nun vier Jahre zurück.
Wieder knackte das Feuer. Chap hob den Kopf, starrte in die Finsternis und jaulte.
»Sei still«, sagte Leesil undeutlich. Er hatte den Weinschlauch zur Hälfte geleert. »Da draußen ist nichts.« Er kraulte den Hund am Hals, und Chap leckte ihm das Gesicht, bis Leesil die Schnauze zur Seite drückte.
Magiere beugte sich vor und sah in den Wald. Normalerweise wurde Chap nicht ohne Grund unruhig, aber andererseits: Er war ein Hund. Wahrscheinlich hatte er gerade ein Eichhörnchen oder einen Hasen gehört.
»Ich sehe nichts«, sagte sie und wandte sich wieder dem Feuer zu. In seinem roten Schein erinnerte sie sich ans Gemeinschaftshaus des Dorfes und die beiden seltsamen feuchten Löcher am Hals von Zupan Petres Sohn. Ihr Kopf schmerzte – sie fürchtete das Gespräch, das sie mit Leesil führen musste. Seit einem Monat schob sie es auf und wartete immer wieder auf einen besseren Zeitpunkt. Aber nach dem letzten Auftritt im Dorf fragte sie sich, wie lange sie noch warten durfte. Sie hatte dies alles satt, und Leesil wurde unvorsichtig. Die Dinge wurden ein wenig zu unberechenbar.
»Bevor du zu viel trinkst …«, sagte Magiere ruhig. »Wir müssen miteinander reden.«
»Ich trinke nie zu viel, nur genug.« Leesil setzte den Weinschlauch an die Lippen und wollte erneut einen Schluck nehmen, bemerkte dann Magieres Tonfall und ließ den Schlauch wieder sinken. »Worüber?«
Sie griff in ihren Rucksack und holte ein zusammengefaltetes, leicht zerknittertes Pergament hervor. »Es gibt eine Bank in Belaski, in der ich Geld deponiere, wenn wir in der Stadt sind. Außerdem werden dort Mitteilungen für mich aufbewahrt.«
»Mitteilungen?«, wiederholte Leesil verwundert. »Wie meinst du das?«
Magiere reichte ihm das gefaltete Pergament. »Dies ist von jemandem, der Land und Häuser verkauft.«
Leesil nahm das Pergament entgegen und war noch immer völlig verdutzt. »Du hast Geld gespart?«
»Er hat für mich nach einer bestimmten Art von Taverne gesucht, irgendwo an der Küste. Und offenbar hat er eine gefunden.« Magiere zögerte. »Ich werde eine Taverne in einem belaskischen Städtchen namens Miiska kaufen.«
Leesil blinzelte und schien kein Wort zu verstehen. »Was?«
»Ich wollte dir erst davon erzählen, wenn der richtige Ort gefunden ist. Es war nie meine Absicht, für immer die Jägerin zu spielen. Ich bin müde geworden.«
»Du hast Geld gespart?« Leesil schüttelte den Kopf. »Ich fasse es nicht. Ich habe nur das, was in meinem Beutel steckt.«
Magiere rollte mit den Augen. »Weil du alles versäufst oder an einem Kartentisch verspielst.«
Sie hörte, wie Leesil nach Luft schnappte, und plötzlich strömten die Worte aus ihm heraus.
»Einfach so?«, rief er, ohne auf Magieres Antwort einzugehen. »Ohne jede Vorwarnung. Ohne auch nur ›Übrigens, Leesil, ich spare für eine Taverne‹. Du schweigst darüber. Wie viel hast du … Schon gut. Aber das ist unsere gemeinsame Sache. Ich meine, wir nehmen uns noch vier oder fünf Dörfer vor und entscheiden dann, ob wir Schluss machen sollen.«
»Ich bin fertig damit«, erwiderte Magiere sanft. »Ich möchte etwas Eigenes.«
»Was ist mit mir?«
»Miiska wird dir gefallen«, sagte Magiere schnell. »Wir setzen den Weg in Richtung Küste fort und wenden uns dann nach Süden. Von der Hauptstadt Bela sind es zehn Wegstunden die Küste hinunter. Ich kümmere mich um die Getränke. Du kannst den Kartentisch übernehmen. Du hast von einem eigenen Pharo-Tisch gesprochen – immer dann, wenn du deine letzte Münze an einem verloren hast.«
Leesil winkte ab und brummte.
»Chap hält für uns Wache«, fuhr Magiere fort. Der Hund hob den Kopf, als er seinen Namen hörte. »Wir haben jede Nacht ein Dach über dem Kopf und brauchen nicht mehr all die Risiken einzugehen.«
»Nein! Ich bin noch nicht bereit, Schluss zu machen.«
»Du könntest dich als Kartenmeister betätigen …«
»Es ist zu früh.«
»… ein warmes Bett, jede Menge Bier und Met …«
»Ich will nichts mehr davon hören.«
»… und Glühwein vorm eigenen Kamin.«
Leesil schwieg. Magiere glaubte zu sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, wie er über die Möglichkeiten nachdachte. Er war nicht dumm, ganz im Gegenteil. Schließlich brummte er, oder vielleicht war es ein Rülpser.
»Können wir morgen darüber reden?«, fragte er und trank, noch immer beleidigt.
»Ja, wenn du möchtest.«
Und damit rollte sich Leesil auf die Seite, mit dem Rücken zum Feuer. Magiere beugte sich vor, nahm das Pergament, das er sich nicht einmal angesehen hatte, und steckte es ein. Sie wollte es sich gerade gemütlich machen, als sich Leesil plötzlich aufrichtete und verwirrt umsah. Damit erschreckte er Chap und brachte ihn auf die Beine.
»Wie konntest du so viel Geld sparen?«, entfuhr es ihm verärgert und verwundert.
»Ach, sei still und schlaf«, schnappte Magiere.
Leesil legte sich wieder hin und grummelte leise.
Magiere versuchte zu schlafen, aber Ruhelosigkeit hielt sie wach. Leesil würde sich nicht so einfach mit dieser Änderung der Pläne abfinden. Damit hatte sie gerechnet, aber wenigstens dachte er jetzt darüber nach. Sie hoffte, dass es nicht zu schwer sein würde, ihn endgültig zu überzeugen, auch wenn es sicher eine Weile dauerte. Wenn er Geld im Beutel hatte, war das der richtige Zeitpunkt. Mit leeren Händen hätte er mehr Widerstand geleistet und auf einem weiteren »Spiel« bestanden.
Magiere sah, wie die kleinen Finger des Feuers vor ihr tanzten. Sie bemerkte, dass sich Chap nicht wie sonst neben Leesil zusammenrollte, sondern ein wenig abseits saß und in den Wald blickte. Schließlich hatte sie es satt, ihn dabei zu beobachten, wie er nichts beobachtete, und schloss die Augen. Deshalb sah sie nicht, wie Chap die Position wechselte und sich neben dem Feuer niederließ, gleich weit von Leesil und ihr entfernt.
Draußen im dichten Wald bewegte sich etwas. Von Baum zu Busch und zu einem anderen Baum huschte das Geschöpf, näherte sich immer mehr dem Schein des Feuers. Es verharrte hinter einer alten Eiche mit Pilzen, die wie Schuppen aus den Seiten wuchsen, und spähte zur Lichtung mit den beiden Schlafenden. Zwischen ihnen saß ein Hund, dessen Körper für den Beobachter etwas zu hell schimmerte. Doch das Wesen schenkte dem Tier keine Beachtung mehr, als sein Blick auf die Frau fiel, die unter einer Wolldecke lag.
Ihre blasse Haut glänzte im Schein des Feuers, und in ihrem dunklen Haar zeichneten sich blutrote Strähnen ab.
»Jäger«, flüsterte das Geschöpf und lachte leise, als seine Klauenfinger über die Rinde der Eiche tasteten.