19

Loni hatte sein Versprechen erfüllt und für Magiere neue Kleidung bereitgelegt: eine schwarze Kniehose, ein weißes Hemd und eine gut sitzende Lederweste. Darin bewegte sich Magiere nun viel leichter als in dem schweren Kleid. Als der Elf es anbot, erlaubte sie dem Hausmädchen, ihr das Haar zu kämmen und mit Lederschnüren zu einem langen Zopf zu flechten.

Lonis Angebot war wie ein Beitrag für das, was Magiere für die Stadt leistete – die Geste eines Verbündeten, nicht die eines Freundes. Nach dem Umziehen wollte sie die beiden Amulette unter dem weißen Hemd verschwinden lassen, überlegte es sich dann aber anders und ließ sie baumeln, für alle deutlich zu sehen. Vielleicht konnte der Topas sie rechtzeitig warnen.

Kurz nach Sonnenuntergang ging Magiere durch die Straßen von Miiska heim. Ihre neue Lederrüstung wartete im »Seelöwen«, und sie fühlte sich bereit für das, was ihr bevorstand.

Irgendwann würde sie sich mit ihrer Vergangenheit befassen, der sie so lange keine Beachtung geschenkt hatte.

Knoblauchknollen hingen in jedem Fenster, an dem Magiere vorbeikam. Wie oft war sie durch ein Dorf gegangen, dessen Bewohner Knoblauch an Türen und Fenster gehängt hatten, manche Knollen noch mit Blättern und Blüten versehen?

Suchte sie nach Vergebung? Warum hatte sie im Gegensatz zu Leesil nie an Flucht gedacht?

Die Straßen waren leer und verlassen. Die Bürger von Miiska, die nicht kämpfen wollten und sehr wohl um die Gefahr wussten, verbargen sich in ihren Häusern. Magiere konnte es ihnen nicht verdenken. Als sie den »Seelöwen« erreichte, ging sie zur Rückseite der Taverne. Die Küchentür stand offen, und ein seltsamer Anblick erwartete sie.

Brendens aufgebahrte Leiche lag auf dem Tisch. Er trug ein grünes Hemd, eine dunkle Kniehose und glänzende Stiefel. Der Kragen des Hemdes bedeckte den Hals. Am Ende des Tisches saß Leesil auf einem Stuhl und tauchte Armbrustbolzen ins braune Wasser eines großen Eimers. Er bewegte sich langsam, als bereitete ihm selbst die kleinste Mühe Schmerzen. Die Verbände an der Brust hingen lose herab.

»Du solltest im Bett liegen«, sagte Magiere von der Tür.

Leesil rang sich ein Lächeln ab. »Normalerweise würde ich dir da nicht widersprechen, aber uns steht eine lange Nacht bevor.«

Magiere trat ein, blieb neben dem Tisch stehen und blickte auf Brendens geschlossene Augen hinab.

»Er scheint nur zu schlafen«, sagte sie. »Man könnte meinen, er hätte sich nur für ein Nickerchen hingelegt.«

Es blieb Magiere nicht genug Zeit, richtig um Brenden zu trauern. Sie erinnerte sich daran, wie mutig er im Kampf gegen die Untoten gewesen war.

»Ich weiß«, sagte Leesil. »Es war ein makabrer Anblick. Mehr als zehn Personen haben hier zusammen mit mir gearbeitet. Ich habe versucht, Brenden zu ignorieren, wie er so dalag, aber dann musste ich die anderen fortschicken, damit sie ihre Plätze einnehmen, und seitdem bin ich mit ihm allein. Ich habe sogar mit ihm gesprochen und ihn gescholten, weil er bei der Arbeit eingeschlafen ist. Klingt verrückt, nicht wahr?«

Magiere berührte Brendens steife Schulter. »Nein, es klingt nicht verrückt. Ich habe ihm nie dafür gedankt, dass er mich aus dem Tunnel getragen hat.«

»Er hat keinen Dank erwartet. Nicht von uns.«

Überall standen Töpfe und Pfannen, manche leer, andere mit Knoblauchwasser gefüllt.

Magiere seufzte. »Ich hole meine Lederrüstung. Sind wir bereit?«

»Ich denke, schon. Oh, es gibt da einen verborgenen Keller unter einem Stall die Straße hinauf. Ich habe Rose und die anderen Kinder dort untergebracht … so viele der Kleinsten, wie dort Platz fanden.«

»Gut. Wo wirst du sein?«

»Bei Karlin und den anderen ›Schützen‹. Jemand muss ihnen sagen, was sie tun sollen, wenn der Kampf beginnt.«

Magiere blinzelte. »Leesil … Du kannst kaum gehen.«

»Schon gut. Caleb hat mir übel riechende Baumrinde zum Kauen gegeben. Sie dämpft Schmerzen und schmeckt noch schlimmer als sie riecht. Ich muss nur die nächsten Stunden überstehen.«

Der Instinkt sagte Magiere, dass sie ihn von hinten niederschlagen und zusammen mit Rose in dem Keller unterbringen sollte. Aber er hatte recht. Die anderen brauchten jemanden, der ihnen Anweisungen gab, jemanden, der einen kühlen Kopf bewahrte und sie zusammenhielt. Andernfalls würde die Hälfte von ihnen bei Rasheds Anblick weglaufen.

Leesil war so ruhig, und er hatte so viel hinter sich.

»Sei vorsichtig«, sagte Magiere schlicht.

»Du auch.«

Als Rashed erwachte, teilten ihm seine Sinne mit, dass die Sonne schon vor einer ganzen Weile untergegangen war. Der Rumpfboden fühlte sich hart an. Er drehte sich auf die Seite und stellte fest, dass er allein war.

»Teesha?« Er stand auf, von einem Augenblick zum anderen hellwach. »Teesha?«, rief er lauter.

Er kletterte durch die Falltür aufs Deck des alten Schiffes, tastete dort mit seinen Gedanken umher und suchte nach Teeshas Präsenz. Rashed hatte nie die Nähe eines anderen Untoten fühlen können, von Parko abgesehen, aber er versuchte es trotzdem, nahm aber nur das Hintergrundflüstern des Waldlebens wahr.

Rashed gab die Vorsicht auf, sprang ans Ufer und rief noch lauter. »Teesha!« Es war ihm gleich, wer ihn hörte.

»Sie ist fortgegangen«, ertönte eine leise, hohle Stimme.

Edwans tragische Gestalt erschien neben ihm. Zwar fehlte es Rashed nicht an Anteilnahme dem Geist gegenüber, doch es gefiel ihm nicht, mit Teeshas Ehemann zu reden. Aber jetzt war seine Sorge größer als die Abneigung.

»Wohin?«, fragte er.

»Zur Stadt, um dich zu verteidigen.« Edwan lachte höhnisch und machte keinen Hehl aus seinem Hass. Der auf der Schulter liegende Kopf verzog den Mund.

Ein Ruck ging durch Rashed. Zuerst erkannte er das Gefühl nicht, denn Erstaunen überlagerte es. Dann fühlte er Furcht.

»Warum hast du sie nicht aufgehalten?«, fragte er.

»Ich? Sie aufhalten?« Edwans durchscheinendes Gesicht war leer, aber nicht etwa wegen eines Mangels an Gefühl, sondern weil Zorn und Hass kalt wie Eis wurden. »Sie hört nur auf dich. Nur an dir liegt ihr etwas. Hat sie vielleicht getrauert, als Rattenjunge euch verließ?«

Rashed schluckte eine scharfe Antwort hinunter und bemitleidete Edwan plötzlich. Er bedauerte, dass Corische einen hilflosen Wirt hingerichtet hatte, aber solche Empfindungen waren trivial und nicht mehr als Schatten im Vergleich mit den Gefühlen, die Teesha galten.

»Wohin in der Stadt will sie?«, fragte er so ruhig wie möglich.

Zum ersten Mal sah Rashed, wie Edwan ihm gegenüber offene Verzweiflung zeigte. Sein langes blondes Haar wehte wie in einem Wind, der nur ihn berührte, und seine Stimme bekam einen fast flehentlichen Klang.

»Hör mir zu. Die Jägerin ist keine Sterbliche. Hast du verstanden? Sie ist zur Hälfte eine Edle Tote – die eine Hälfte von ihr gehört zu deiner Art.« Edwan stockte. »Teesha schert sich nicht um Rache. Finde sie und bring sie fort, bitte. Ich habe dich nie um etwas gebeten und auch nichts von dir erwartet, doch jetzt richte ich diese Bitte an dich.«

Rashed verschränkte verärgert die Arme.

»Edwan …« Er versuchte, geduldig zu klingen. »Ich kann nicht. Wenn ich die Jägerin am Leben lasse, gibt es keine Sicherheit für uns.«

»Ich glaube … ich habe mich in Bezug auf die Absichten der Jägerin geirrt!«, jammerte der Geist. »Sie nahm den Rat des Fremden entgegen, der im Keller der ›Samtrose‹ wohnt. Und jetzt spielt ihr beide das dumme Spiel der Rache. Ihr glaubt beide blind daran, dass der jeweils andere ein erbitterter Feind ist, der den Kampf sucht. Begreifst du das denn nicht? Finde Teesha und bring sie fort. Niemand wird dir folgen.«

Rashed schnallte sich das lange Schwert an den Gürtel, griff nach einer Fackel, die er in der Nacht zuvor angefertigt hatte, und winkte ab. »Verschwinde. Du bist mir keine Hilfe.«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als das Erscheinungsbild des Geistes verschwamm und zu rotieren begann. Zuerst dachte Rashed, dass Edwan irgendetwas versuchte und von einer neuen Fähigkeit Gebrauch machte, die er bisher noch nicht gezeigt hatte. Aber das Wirbeln und Wogen dauerte an, und es wurde klar: Der Geist verlor sich in seinem eigenen emotionalen Gewirr aus Zorn und Hoffnungslosigkeit.

»Du bist ein Narr!«, rief Edwan.

Rashed wandte sich einfach von ihm ab und lief in den Wald, ließ das Schiff und die Werkzeuge hinter sich zurück. Unter den dunklen Bäumen um ihn herum pulsierte das Leben. Am Rande des Waldes verharrte er, schloss die Augen und konzentrierte sich. Teeshas geistige Fähigkeiten waren besser als seine, aber er verfügte über einige ausgeprägte Talente, die er nur selten benutzte. Er schickte Gedanken auf die Reise, die von der Jagd kündeten: der von Furcht bestimmte Geruch der Beute; Heißhunger, wenn sich die Jagd dem Ende entgegenneigte.

Aus weiter Ferne drang ein Geräusch an Rasheds Ohren. Es war so leise, dass es sich fast in den anderen Geräuschen der Nacht verlor.

Das Heulen eines Wolfs.

»Kinder der Jagd«, flüsterte Rashed. »Kommt herbei.«

Leesil lehnte sich an die vordere Wand des Kerzenmacherladens und sah zur Taverne auf der anderen Straßenseite. Er dachte daran, wie lange er sich noch auf den Beinen halten konnte.

Der Bäcker Karlin stand in der Nähe und sah sich immer wieder besorgt um. Leesil versuchte, seine körperliche Schwäche so gut es ging zu verbergen. Aus den Schmerzen in Brust und Rücken war eine taube Rebellion des ganzen Körpers geworden. Er fürchtete, dass die Beine unter ihm nachgaben und ihn verrieten. Das durfte nicht geschehen.

Magiere befand sich in der Taverne und zog ihre Lederrüstung an, während er seinen Teil des Plans ausführte. Er war ganz einfach und bestand im Wesentlichen darin, die Bürger der Stadt wo möglich mit Armbrüsten und Bogen zu bewaffnen, ansonsten mit Heugabeln und Schaufeln. Die meisten von ihnen hatte Leesil in Häusern, Hütten und Ställen postiert, in einem Kreis um den »Seelöwen«. Wenn zu viele von ihnen auf Dächern hockten, hätten sie sich verraten. Leesil hatte zunächst mit dem Gedanken gespielt, eine Feuerfalle vorzubereiten, diese Idee dann aber wieder aufgegeben – sie wäre für den Feind zu leicht erkennbar gewesen. Stattdessen gab er Frauen trockenes Holz, Ölflaschen und Feuersteine und ließ zwischen den Gebäuden Zunder und noch mehr Holz bereitlegen. Alles sollte schnell angezündet werden können.

Die Vampire sollten innerhalb des Kreises bleiben und ihn nicht wieder verlassen können, wenn sie ihn einmal erreicht hatten. Leesil hoffte, dass es keine weiteren Überraschungen gab und er alles gesehen hatte, wozu jene Geschöpfe fähig waren. Er erinnerte sich an Kindergeschichten über Untote, die fliegen und sich in große und kleine Tiere verwandeln konnten. Davon sagte er den Bürgern der Stadt nichts.

Vier von Ellinwoods Wächtern, unter ihnen Darien, hatten ihre Hilfe angeboten und warteten jetzt in einem alten Lagerhaus, nicht weit von der Taverne entfernt. Zwei von ihnen waren sogar richtig bewaffnet und schienen für einen harten Kampf bereit zu sein. Vielleicht hatten sie wie Darien geliebte Menschen verloren, oder sie waren nach dem Verschwinden des Konstablers desorientiert und suchten nach Führung. Der Grund spielte für Leesil keine Rolle. Es erleichterte ihn ein wenig, dass seine Truppe nicht nur aus Bäckern, Webern, Kaufleuten und anderen Leuten bestand, die noch nie gekämpft hatten.

Sonderbarerweise erwies sich Karlin als sein zuverlässigster »Soldat«. Der Einfallsreichtum des Mannes war erstaunlich. Er verstand es, einen Haufen ängstlicher Arbeiter zu organisieren, aus Werkzeugen Waffen zu improvisieren, und damit war er für Leesil eine große Hilfe. Sie näherten sich jetzt der Taverne und bemerkten hier und dort Leute, die aus dem Fenster sahen.

»Sind alle bereit?«, fragte Leesil und erinnerte sich zu spät daran, dass er diese Frage schon zweimal gestellt hatte.

Karlin nickte, und für einen Moment erinnerte er Leesil an Brenden. Zwar fehlte ihm ein Bart, aber er war kräftig gebaut, und seine Ruhe wirkte vertraut. Außerdem dachte er mit und hatte Leesil ein dickes, dunkelblaues Hemd gebracht, das die Verletzungen des Elfen verbarg und ihn mit der Nacht verschmelzen ließ. Leesil band sein Haar unter einem langen schwarzen Kopftuch zusammen, das er auch vors Gesicht zog, bis nur noch die Augen unbedeckt waren. Er konnte in den Schatten der Nacht verschwinden, wenn es sein musste.

»Was ist, wenn einer der Untoten aus der Taverne entkommt und Magiere ihn nicht töten kann?«, fragte Karlin. Sie waren allein, und zum ersten Mal brachte er Zweifel zum Ausdruck.

»Ich habe den Schützen und den Wächtern im Lagerhaus gesagt, dass sie den Gegner möglichst schwer verletzen sollen.« Leesil hob seine Axt. »Dadurch bin ich vielleicht imstande, ihm den Kopf abzuhacken.«

Karlin zuckte zusammen und biss sich auf die Lippe.

»Es mag grausig klingen«, räumte Leesil ein. »Aber wenn das Geschöpf entkäme, würde es viel schlimmere Dinge anrichten.«

»Ich stelle deine Maßnahmen nicht infrage«, erwiderte Karlin leise. »Du und Magiere … Ihr seid mutiger, als ich mir das vorstellen kann.«

»Da galt auch für Brenden.«

»Ja«, sagte der Bäcker und nickte. »Das galt auch für Brenden.«

Leesil erinnerte sich an das Gespräch, das er am Morgen mit Magiere geführt hatte, an seinen Vorschlag, an Bord eines Schiffes zu gehen und einfach zu verschwinden. Wenn dem Bäcker das bekannt gewesen wäre, hätte er von seinem Begleiter bestimmt nicht so viel gehalten.

»Wir sollten uns besser verstecken«, sagte Leesil. »Alle wissen, was es zu tun gilt. Ich möchte mich in der Nähe der Taverne in Bereitschaft halten. Die Wächter haben alles im Blick. Lass uns in diesem Schuppen warten. Von hier aus können wir jederzeit eingreifen.«

Karlin nickte. Aus irgendeinem Grund dachte Leesil an seine schöne Mutter und die Bäume seines Heimatlandes. Sie waren kahl im Winter und voll grüner Pracht im Frühling, im Gegensatz zu den kalten Tannen und immergrünen Pflanzen um ihn herum, die sich nie änderten. Manchmal hatte er überlegt, wo und wie er sterben würde, aber er hätte es nie für möglich gehalten, dass sein Ende vielleicht bei dem Versuch kam, eine kleine Hafenstadt vor Untoten zu schützen. Andererseits: Vielleicht hatten Karlin und die anderen gar nichts mit seinen Bemühungen zu tun. Von den Gesichtern, die vor Leesils innerem Auge erschienen, war nur eins wirklich wichtig. Es hatte glatte Haut, trug einen ernsten Ausdruck und war von schwarzem Haar umgeben, in dem manchmal rote Strähnen glänzten.

Teesha sprach nie von den zusätzlichen Sinnen, die sie nach der Verwandlung durch Corische entwickelt hatte. Ihre besondere Sensibilität in Hinsicht auf die kleinen, lästigen Gerüche, die es überall gab, hielt sie für wenig damenhaft. Doch als sie durch Miiska schlich und sich Magieres Taverne näherte, erschien ihr der Geruch der Stadt falsch. Sie roch den Schweiß der Furcht und nervöser Anspannung, und je näher sie dem »Seelöwen« kam, desto deutlicher wurde diese Wahrnehmung. Die Intensität des Geruchs passte überhaupt nicht zu den stillen, leeren Straßen.

Sie horchte mental und empfing Gedanken vom Leben in der Stadt.

Ich habe Durst.

Wo ist Mutter?

Joshua zieht mich immer auf, weil ich klein bin.

Ich heirate Leesil, wenn ich groß bin.

Sie dürfen Magiere nicht entkommen.

Wie dumm die Sterblichen doch waren. Dann bemerkte sie Gedanken sehr dicht beieinander. Sie waren voller Furcht, aber auch einfach und klar.

Kinder. Wo befanden sie sich?

Mit halb geschlossenen Augen drehte Teesha den Kopf so, als wären die Gedanken der Kinder wie ein Wind, den sie im Gesicht fühlen und dessen Richtung sie bestimmen konnte.

Lautlos trat sie an den Gebäuden vorbei und verharrte, als die Gedankenströme stärker wurden. Sie stand am Ende einer Straße, die in den unteren Teil der Stadt führte, und dort bemerkte sie einen Stall, nicht weit von der Taverne entfernt. Auf dem Dach hockten zwei Männer, und Teesha spürte ihre Anspannung. Es fiel ihr nicht weiter schwer, ihnen einen Hauch Furcht zu schicken, der sie veranlasste, zur Küste zu sehen, als hätten sie dort etwas gehört. Ohne ein Geräusch zu verursachen, eilte Teesha über die Straße und erreichte den Stall.

Sie zögerte an der Wand und trennte die einzelnen Gedankenmuster voneinander, bis sie zehn einzelne identifizieren konnte … nein, es waren sogar zwölf. Sie wollte den Stall betreten und die Kinder suchen, als ihr plötzlich etwas einfiel.

Leere Straßen mit dem Geruch der Furcht.

Versteckte Kinder.

Zwei Wächter auf dem Dach.

Die Bewohner der Stadt hatten eine Falle vorbereitet.

Teesha schob sich durch die Tür des Stalls. Als sie hereinkam, hob ein großer rotbrauner Wallach den Kopf und schnaubte. Sie berührte seine Gedanken und beruhigte ihn.

»Pscht, gutes Tier«, sprach sie leise zu dem Pferd. »Du schläfst nachts.«

Der Wallach scharrte einmal mit dem Huf auf dem Stallboden und senkte dann die Lider.

Teesha spürte, dass eins der kleineren Mädchen seine Mutter sehr vermisste. Sie blickte sich um, sah aber nur zwei Heuballen, auf dem Boden verstreutes Stroh, einige zerbrochene Heugabeln und das Pferd in seiner Box. Die fünf anderen Boxen waren leer. Erneut ließ Teesha ihren Blick durch den Stall schweifen und lauschte.

»Murika«, sagte sie leise und mit freundlicher Stimme. »Wo bist du?«

Stille folgte, und dann: »Mama? Ich bin hier unten.«

Unten. Die Kinder versteckten sich unter dem Stall.

Teesha suchte den Boden ab, schob so leise wie möglich das Stroh beiseite und fand eine Falltür, getarnt mit einer Schicht aus Schmutz unter dem Stroh. Sie ließ sich leicht öffnen, und in dem Raum darunter sah Teesha eine Gruppe kleiner Kinder, die neugierig zu ihr aufschauten. Keins von ihnen war älter als acht.

Teesha lächelte warm.

»Hallo«, sagte sie. »Was macht ihr da unten?«

»Wir verstecken uns«, sagte ein grünäugiger, etwa sechs Jahre alter Junge. »Du solltest dich ebenfalls verstecken. Etwas Schlimmes wird passieren, und wir müssen still sein.«

»Du bist nicht still«, sagte ein kleineres Mädchen rechts von ihm.

Teesha nickte und projizierte die Vorstellung, dass dies nur ein Traum war. »Auch ich werde sehr leise sein. Sagt mir, wer von euch möchte Leesil heiraten?«

Ein hübsches Mädchen von etwa fünf Jahren stand auf. Das Haar war sehr zerzaust, aber die cremefarbene Haut und das zarte Gesicht versprachen zukünftige Schönheit. Selbst die kleinen Hände zeichneten sich schon durch anmutige Eleganz aus.

»Ich bin Rose.«

Teesha lächelte. »Leesil hat mich zu dir geschickt, Rose. Komm, Schatz.«

Die kleine Rose trat sofort unter die Falltür und hob die Arme. Teesha zog sie mühelos hoch, und als sie das Mädchen aus dem Stall trug, fühlte sie das weiche Musselinkleid und die Wärme des Körpers unter dem Stoff. Niemand auf dem Dach sah sie.

So weit von der Stadtmitte entfernt waren die Straßen fast schwarz. Teesha huschte durch die tieferen Schatten der Gebäude und näherte sich dem an der Küste gelegenen Teil von Miiska. Gelegentlich empfing sie die von Furcht geprägten Gedanken von Personen, die sich irgendwo in der Nähe versteckten. Zwar konnte Teesha sie nicht sehen, aber wie bei den Wächtern auf dem Dach des Stalls fiel es ihr leicht, die Aufmerksamkeit der Sterblichen zu beeinflussen und von ihr abzulenken. Rasch brachte sie die letzte offene Stelle hinter sich und erreichte die Rückseite des »Seelöwen«.

Teesha setzte sich Rose auf die Hüfte und schlang ihr den Arm um die Taille.

»Halt dich an meinem Hals fest, Schatz«, murmelte sie. »Wir klettern nach oben und durch dein Fenster.«

»Ich mag dein Kleid«, sagte Rose. »Ich habe mir immer ein rotes Kleid gewünscht.«

»Dann solltest du eins bekommen, ganz rot. Halt dich jetzt an meinem Hals fest.«

Es fiel Teesha nicht weiter schwer, an der Wand emporzuklettern. Sie hielt Rose vorsichtig, als sie im Obergeschoss durch ein zerbrochenes Fenster schlüpfte.

»Dies ist nicht mein Zimmer«, stellte Rose fest. »Es ist Magieres.«

»Tatsächlich?«, erwiderte Teesha. »Wie schön.«

Sie wusste nicht, wann Rashed erwachen und seinen Angriff beginnen würde. Seine einzige Schwäche war sein unregelmäßiger Schlaf. Teesha konzentrierte sich auf ihre Absicht, trug Rose zur gegenüberliegenden Seite des Raums und setzte sie dort auf den Boden, vor der offenen Tür. Dann kniete sie.

»Sieh mich an«, sagte Teesha.

Sofort richtete das Kind den Blick auf ihr Gesicht – das sich plötzlich in eine Fratze verwandelte. Lange Eckzähne glänzten, und Gier glühte in den weit aufgerissenen Augen.

»Schrei«, sagte Teesha.

Rose schrie.

Mit dem Schwert in der Hand kauerte Magiere hinter der Theke und spähte durch ein kleines Loch, das sie hineingebohrt hatte. Rashed wollte sie vermutlich im Obergeschoss in die Enge treiben – dort hatte sie weniger Platz für die Hiebe mit dem Falchion, und er konnte seinen körperlichen Vorteil besser nutzen. Wahrscheinlich durchsuchte er dort oben alle Zimmer, bevor er nach unten kam, und von ihrer gegenwärtigen Position aus konnte sie ihn auf der Treppe sehen. Wenn er sich ihrem Versteck näherte, gelang es Magiere vielleicht, ihm in einem Moment der Überraschung den Kopf abzuschlagen. Chap saß neben ihr und drückte ihr gelegentlich die Schnauze an den Arm, blieb aber still. Inzwischen wunderte sie sich nicht mehr über das Verhalten des Hunds. Seine Ruhe deutete darauf hin, dass ihr noch Zeit blieb.

Plötzlich sprang Chap auf, knurrte leise und sah nach oben.

»Pscht, verrate uns nicht«, flüsterte Magiere.

Sie wusste, dass er sie nicht verraten würde, aber sie warnte ihn trotzdem. Jetzt mussten sie nur noch warten, bis Rashed seine Suche im Obergeschoss beendete und herunterkam. Die Bretter unter Magieres Füßen gehörten zu ihrem Zuhause, und sie war entschlossen, ihr neues Leben zu verteidigen. Sie beugte sich näher zum Loch in der Theke und blickte zur Treppe.

Mattes Licht kam von unten, und als Magiere den Kopf senkte, stellte sie fest, dass der Topas glühte. Chap jaulte fast mitleiderregend, und sie wollte ihn erneut auffordern, leise zu sein, als oben ein Schrei erklang. Es war der schrille, entsetzte Schrei eines Kinds.

Magiere kannte die Stimme: Rose.

Chap stürmte zur Treppe, bevor sie reagieren konnte. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

»Warte!«, flüsterte sie laut.

Er blieb stehen, knurrte leise und bebte am ganzen Leib.

Magiere hatte gehofft, in einem offenen Kampf gegen Rashed anzutreten. Sie hatte seine Gedanken in der Höhle unter dem Lagerhaus gespürt. Ob Ungeheuer oder nicht: In ihm steckte die Ehre eines Kriegers, und die verlangte von ihm, allein anzugreifen. Würde Rashed ein Kind als Köder benutzen? So etwas schien überhaupt nicht zu ihm zu passen.

Magiere trat zu Chap vor der Treppe.

Rose schrie erneut, und diesmal hörte sie nicht auf. Magiere packte Chap am Genick.

»Langsam«, sagte sie. »Pass auf.«

Sie verabscheute die Vorstellung, in eine Falle gelockt zu werden, aber ihr blieb keine Wahl. Rose war in Gefahr.

Wachsam stiegen sie die Treppe hoch, während oben weiterhin Roses Schreie erklangen. Mit jeder Stufe fiel es Magiere schwerer, nicht einfach loszulaufen. Als sie fast das Ende der Treppe erreicht hatte, begriff sie, dass die Schreie aus ihrem Zimmer kamen. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und stellte fest, dass die Tür offen stand.

»Hol Rose«, flüsterte Magiere. »Verstehst du? Ich kämpfe. Du musst Rose wegbringen.«

Chap blickte ebenfalls um die Ecke, sah dann zu ihr auf und knurrte.

Magiere trat in den Flur und sah, dass Rose in ihrem Zimmer auf dem Boden saß und weinte. Sie schien unverletzt zu sein, aber Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie war so verängstigt, dass Magiere sich sehr beherrschen musste, um nicht in den Raum zu stürmen und sie in die Arme zu nehmen. Niemand schien in ihrer Nähe zu sein.

»Komm«, flüsterte sie und hoffte, dass Rose auf sie hörte und zu ihr lief. »Komm zu mir.«

Rose schüttelte nur den Kopf und weinte laut.

Magiere setzte sich vorsichtig in Bewegung, und Chap schlich an ihrer Seite durch den Flur. Als sie sich der Tür näherte, wandte sie den Rücken der rechten Wand zu und schob sich langsam vor, bis die linke Hälfte des Zimmers in ihr Blickfeld geriet. Sie streckte die Hand aus und bedeutete Chap zu warten. Als ihre Schulter über den Türpfosten strich, konnte sie das ganze Zimmer sehen.

Abgesehen von dem Kind war es leer. Wind wehte durch das Fenster, das Rashed einige Nächte zuvor zerbrochen hatte. Magiere entspannte sich ein wenig und trat zu Rose.

Das kleine Mädchen sah nach oben.

Magiere duckte sich, als eine Hand von oberhalb der Tür herabkam. Fingernägel kratzten über ihren Hals und suchten daran nach Halt. Jemand fiel auf ihren Rücken, und Magiere sank auf ein Knie. Aus Roses Weinen wurden hysterische Schreie, die sich mit Chaps Knurren vermischten.

Die Hand an Magieres Hals versuchte noch immer, fest zuzupacken, vermutlich mit der Absicht, ihr das Genick zu brechen. Kraft und Zorn wogten in Magiere empor, und diesmal hatte sie damit gerechnet, wurde nicht davon überwältigt.

Sie stieß sich ab, neigte Kopf und Schultern nach vorn, drehte sich und rutschte zusammen mit dem Angreifer über den Boden. Einen Moment später prallte sie gegen den Bettpfosten, und der Pfosten geriet zwischen sie und ihren Kontrahenten.

Das Bett ruckte, und die Hand löste sich von Magieres Hals.

Magiere rammte den Ellenbogen nach hinten, und seine Spitze traf den Oberkörper des Angreifers. Rasch kroch sie fort, drehte sich und hob das Falchion, um damit einen möglichen Schwerthieb abzuwehren.

Wie in der Nacht zuvor zögerte sie beim Anblick von Teesha. Alles an diesem schönen Geschöpf wirkte unwirklich, wie ein Traum. Doch die Kratzer an Magieres Hals fühlten sich echt an und erinnerten sie an die Gefahr.

Teesha kam sofort wieder auf die Beine, und Magiere sprang vor, trieb die Frau durch das kleine Zimmer. Offenbar wollte Teesha das Fenster erreichen, doch Magiere schnitt ihrer Gegnerin den Weg ab.

»Jetzt, Chap!«

Teesha erstarrte, als der Hund hereinkam, mit den Zähnen den Rücken von Roses Kleid packte und das weinende Kind nach draußen in den Flur trug.

Offenes, ehrliches Gefühl zeigte sich im Gesicht der Schönen: Hass.

»Du wolltest mir beim Hereinkommen das Genick brechen, nicht wahr?«, fragte Magiere. »Hast du noch eine andere Idee?«

»Ich bin schneller als du und werde nicht zulassen, dass du ihn noch einmal verletzt.«

Wieder zögerte Magiere. Normalerweise erfüllte sie rasender Zorn, wenn sie es mit diesen Wesen zu tun hatte, aber diesmal erschien er ihr schwach.

Sie sah Teesha an, ihre braunen Locken, das rote Kleid und die schmale Taille. Ihr Gegenüber hielt kein Schwert in der Hand, schien einfach nur eine schöne junge Frau zu sein. Voller Hass, ja, aber kein Monstrum. Und obwohl Magiere es besser wusste: Teeshas Erscheinungsbild beeinflusste sie, ebenso die Worte der zierlichen Frau. Sie versuchte nur, ihren … Partner oder Gefährten zu schützen.

»Ich habe diesen Kampf nie gewollt«, sagte Magiere, ohne zu wissen, warum sie sprach. »Er hat damit angefangen.«

»Rashed? Nein, dies ist von dir ausgegangen.«

»Er und Rattenjunge brachen in mein Haus ein und töteten Roses Großmutter.«

»Nachdem du mit dem Schmied Freundschaft geschlossen, am Todesort seiner Schwester herumgeschnüffelt und Fragen gestellt hattest. Belüg dich selbst, wenn du willst, aber nicht mich. Du jagst uns seit deiner Ankunft in der Stadt.«

Verwirrung erfasste Magiere. Gingen die Untoten von der Annahme aus, dass sie nach Miiska gekommen war, um sie zu jagen?

»Nein, Teesha, das stimmt nicht. Ich …«

»Du bist müde«, sagte die Frau, und ihre Stimme klang nicht mehr kalt, sondern warm und freundlich. »Ich sehe es in deinem Gesicht. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was du während der letzten Nächte durchgemacht hast. Armes Ding.«

Magiere spürte Anteilnahme und Mitgefühl.

»Das Leben ist nicht leicht für jemanden wie dich«, fuhr die mitfühlende Stimme fort. »Nein, es ist genauso hart wie für uns. Immer in Bewegung, immer wachsam sein, warten und beobachten. Setz dich zu mir. Schütte mir dein Herz aus. Ich höre dir zu. Und ich verstehe dich.«

In einem teuren Gasthof hatte Magiere einmal einen Wandteppich gesehen, der eine Meeresnymphe zeigte. Die Darstellung war so gut gewesen, dass sie sie lange betrachtet hatte. Die Nymphe wirkte fast lebendig: Sie hatte die Arme zu einem Willkommen ausgestreckt, und das üppige Haar reichte ihr bis zur Taille; einige feuchte Locken hafteten an den Wangen.

Teesha saß vor ihr auf den Felsen, mit Meerwassertropfen an Wangen und Hals. Trug sie ein rotes Kleid? War die weiße Haut des Bauchs durch einen Riss im Stoff zu sehen? Verständnisvolle Augen sahen Magiere an, und Arme streckten sich ihr entgegen.

Sie brauchte nur ihr Schwert sinken zu lassen und den Kopf an die Schulter der Nymphe zu lehnen. Teesha würde sie verstehen. Soweit sich Magiere zurückerinnern konnte, hatte nie jemand sie in den Armen gehalten und sie getröstet. Keine Freunde … es hatte keine Freunde gegeben, und auch keine Angehörigen. Selbst Tante Bieja hatte sie nie umarmt.

Leesil. Sie war einmal in seinen Armen erwacht, auf der Straße. Vielleicht sogar zweimal? Oder hatte sie sich das nur eingebildet?

Magiere trat vor, und ein dankbares Lächeln belohnte sie.

»Erzähl mir alles«, flüsterte Teesha. »Ich kümmere mich um dich. Ich nehme deinen Kummer und trage ihn fort.«

Ihre Finger berührten Magiere am Kinn, dann an der Schläfe.

Chap knurrte in der offenen Tür.

Teeshas Blick ging kurz zum Hund.

In Magieres Wahrnehmung löste sich das Bild der Nymphe auf. Nur noch die Frau stand vor ihr, das Geschöpf, Teesha. Sie trat einen Schritt zurück, hob gleichzeitig ihr Falchion und schlug zu.

Teeshas Blick kehrte zu Magiere zurück.

Magiere begriff erst, was geschehen war, als sie auf den in Rot gekleideten Leichnam hinabstarrte, der auf ihrem Bett lag. Der Kopf wackelte noch auf dem Boden, und dunkle Flüssigkeit quoll aus dem Halsstumpf ins zerzauste Haar. Die Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht aber ausdruckslos.

Magiere triumphierte nicht, fühlte stattdessen tiefe Trauer. Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen und galten nicht dem Tod dieses Geschöpfs, sondern dem Ende der Illusion, die Teesha in ihren Gedanken geschaffen hatte.

Chap schnüffelte an dem Kopf, bellte dann leise und dumpf.

»Bring Rose zum Stall und beschütz die Kinder«, wandte sich Magiere an ihn.

Er sah zu ihr auf und jaulte unzufrieden.

»Na los!«, sagte Magiere.

Chap zögerte kurz, bevor er das Zimmer verließ.

Magiere stand noch eine ganze Weile dort. Schließlich hob sie Teeshas Kopf am Haar hoch und ging nach unten.