15
Als es hell wurde, hob Leesil Chap hoch und trug ihn nach Hause. Inzwischen war der Hund halb wach, aber noch immer so entkräftet, dass Leesil ihn zu seinem Lieblingsplatz am großen Kamin des »Seelöwen« bringen wollte. Brendens Hütte fühlte sich kalt und unvertraut an.
Auf dem kurzen Weg zur Taverne sah er fast niemanden und fragte sich, wo die meisten Ladenbesitzer waren. Die Antwort bekam er, als er den Rauch sah, der noch immer über dem Hafen aufstieg. Vermutlich waren viele Stadtbewohner die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, um das Feuer zu löschen. Leesil wählte eine Route durch Miiska, die ihn nicht in die Nähe des Lagerhauses brachte.
Als er den Schankraum der Taverne betrat und ihn leer vorfand, hätte er vor Erleichterung fast geseufzt. Es wäre ihm sehr unangenehm gewesen, jetzt Caleb oder Rose gegenüberzutreten, und er hoffte, dass sie den ganzen Morgen schliefen. Im Kamin war noch glühende Asche, und alles in dem matt erhellten Raum – von der Eichentheke über die Holzstühle bis zum Pharo-Tisch – vermittelte Leesil die Gewissheit, dass diese Welt noch immer einen Sinn ergab.
Leesil hatte Chap durch die halbe Stadt getragen und zitterte nun unter seinem Gewicht. Die Ereignisse des vergangenen Abends und der Blutverlust hatte den Elfen viel Kraft gekostet. Daran änderte auch das Essen nichts, das Brenden gebracht hatte.
Leesil keuchte fast vor Erschöpfung, wankte durch den Raum und legte Chap auf einen kleinen Läufer neben dem Kamin. Die meisten Wunden des Hunds sahen zwar schlimm aus, waren aber nur oberflächlicher Natur.
Er strich über Chaps samtweiche Ohren. »Ich erhitze Wasser und kehre gleich zurück.«
Der Hund jaulte leise und versuchte, seine Hand zu lecken.
Dann begann der Aufruhr.
Zuerst hörte er nur ein dumpfes Brummen von draußen. Als er zum Fenster ging, um einen Blick hinauszuwerfen, vernahm er in dem Grollen einzelne laute Stimmen, nicht weit von der Taverne entfernt. Leesil ging zur Tür und öffnete sie. Mehrere Dinge fielen ihm auf.
Brendens breiter, in Leder gehüllter Rücken war nur eine Armeslänge entfernt. Der Schmied hielt eine von Konstabler Ellinwood angeführte Menschenmenge zurück. Zorn hatte Ellinwoods rundes Gesicht gerötet.
»Wie kannst du es wagen, mich an der Ausübung meiner Pflichten zu hindern?«, fuhr er den Schmied an.
»Seit Jahren kümmerst du dich nicht um deine Pflichten«, erwiderte Brenden.
»Was ist los?«, fragte Leesil verwirrt.
Brenden sah zu ihm zurück. »Tut mir leid. Ich konnte sie nicht aufhalten.« Er verschränkte die Arme und wandte sich wieder an den Konstabler. »Aber ich werde sie nicht in die Taverne lassen.«
Der Schmied wirkte abgespannt und müde; der Schmutz im Gesicht und an der Kleidung erinnerte an den mühevollen Weg durch die Tunnel unter dem Lagerhaus. Leesil beobachtete die etwa zwanzig Stadtbewohner vor der Taverne und entdeckte drei Stadtwächter unter ihnen. Was hatte dies zu bedeuten? Wollte ihn irgendein böswilliger Gott erneut auf die Probe stellen?
»Brenden hier hat zugegeben, dass du zusammen mit deiner Partnerin Miiskas bestes Lagerhaus niedergebrannt hast«, sagte Ellinwood und deutete mit dem dicken Zeigefinger auf Leesil. »Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«
Der Halbelf verstand plötzlich.
»Oh, das Lagerhaus. Darum geht es also, wie? Ihr solltet dankbar sein. Eure Stadt ist jetzt viel sicherer.«
»Dankbar?«, wiederholte ein Mann in mittleren Jahren. »Wo soll ich jetzt arbeiten? Wie soll ich meine Kinder ernähren?«
Die Hafenarbeiter taten ihm leid, aber Leesil war einfach nicht mehr imstande, mit starken Gefühlen fertigzuwerden. Er sah keinen Sinn darin, diese nutzlose Diskussion fortzusetzen.
»Wenn der Inhaber des Lagerhauses Anzeige erstatten möchte, so soll er sich an den Konstabler wenden«, sagte er. »Ich muss mich um einen verletzten Hund kümmern.«
»Ihr habt den Inhaber getötet!«, rief Ellinwood. »Du und deine Partnerin steht hiermit unter Arrest. Das gilt auch für den Schmied.«
Brenden blieb mit verschränkten Armen stehen, und Leesil fragte sich, warum er nicht schon verhaftet worden war. Dann bemerkte er, dass sich die Wächter zurückhielten – sie versuchten nicht einmal, in Brendens Nähe zu gelangen. Und Ellinwoods Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass er der Hysterie nahe war.
Brenden sprach laut und mit klaren, präzisen Worten. »Der Inhaber schlief in einem Sarg, auf der Erde seines Heimatlandes, so tief unter dem Lagerhaus, dass wir durch einen Tunnel kriechen mussten, um ihn zu erreichen.«
Furcht und Unbehagen brachten die Leute zum Schweigen. Brenden trat vor, und Ellinwood wich zurück.
»Wenn jemand daran zweifelt, dass diese Stadt von Untoten heimgesucht wurde, so soll er meine Schwester ausgraben und sie sich ansehen«, sagte der Schmied. »Diebe und Mörder hinterlassen keine Zahnspuren. Sie trinken kein Blut.«
Inzwischen stand er inmitten der Leute.
»Dieser Feigling, den ihr Konstabler nennt, weiß seit Jahren von den Geschöpfen, und er hat nichts getan, um euch zu schützen! Das Lagerhaus existiert nicht mehr, aber wenigstens sind eure Kinder jetzt sicher. Ihr solltet dem Mann hinter mir danken. Und auch der Frau dort.« Brenden deutete an der Menge vorbei.
Leesil bemerkte Magiere hinter den Hafenarbeitern – allein stand sie dort auf der Straße. Mehr als jemals zuvor sah sie wie eine Kriegerin aus: groß und geschmeidig, in ihre Lederrüstung gekleidet, das Falchion am Gürtel. Aus tief in den Höhlen liegenden Augen starrte sie die Leute an. Schmutz klebte an Wangen und Händen, und am Hals fiel eine dünne rote Linie auf.
Niemand sprach. Einer der Wächter löste sich aus der Menge und wirkte sehr ernst, als er Magiere entgegentrat.
Leesil beobachtete seine Partnerin. Die Leute standen im Weg – er konnte Magiere nicht rechtzeitig erreichen, wenn dieser Wächter versuchte, seinen Zorn an ihr auszulassen. Und sie hatte viel hinter sich, war schwach.
Der junge Wächter blieb vor ihr stehen. Alle auf der Straße schwiegen und beobachteten das Geschehen. Der Mann stand einfach nur da und sah Magiere an.
»Mein Bruder verschwand vor zwei Jahren«, sagte er. »Ich verhafte niemanden.«
Mehr sagte er nicht, drehte sich um und ging fort. Die beiden anderen Wächter zögerten kurz und folgten ihm dann.
Ellinwood schnaufte mehrmals, und Leesil wusste, dass er seine Autorität verloren hatte. Wenn sich die Wächter weigerten, seinen Anweisungen nachzukommen, war er machtlos. Aber warum reagierte er mit solchem Zorn? Die Empörung war keineswegs gespielt; sie diente nicht dazu, den Eindruck zu erwecken, dass er mit großer Hingabe seiner Arbeit nachging. Außerdem dachte der dicke Kerl bestimmt nicht an die Hafenarbeiter, die jetzt arbeitslos geworden waren. Warum also regte er sich so sehr über den Brand des Lagerhauses auf?
Magiere ging geradewegs durch die Menge, und Leesil trat rasch beiseite, um sie eintreten zu lassen. Sie gab keinen Ton von sich.
Brenden behielt noch immer den Konstabler im Auge. Leesil wandte sich den Hafenarbeitern zu und schüttelte den Kopf.
»Bitte geht nach Hause. Wenn ihr ein Bier trinken oder Karten spielen wollt: Wir öffnen, wenn die Sonne untergeht.« Mit einem kurzen Blick auf Ellinwood fügte er hinzu: »Freut euch. Jetzt ist die Stadt sicher.«
Er erlebte die erste echte Freude seit Tagen, als viele Leute den Konstabler voller Abscheu ansahen. Sie wandten sich um und gingen fort.
Doch Ellinwood war noch nicht fertig.
»Ich müsst Schadenersatz leisten«, sagte er und klang ernster als jemals zuvor. »Dafür werde ich diese Taverne beschlagnahmen und versteigern, und auch die Schmiede.«
Brendens Miene wurde noch finsterer, und Leesil befürchtete, dass er sich dazu hinreißen lassen konnte, über den ebenfalls sehr zornigen Ellinwood herzufallen.
»Töte ihn nicht«, sagte der Elf müde. »Dann würde man dich tatsächlich verhaften, und ich habe nicht eine Kupfermünze übrig, um dich freizukaufen.«
Nur das Werkzeug des trockenen Humors war ihm geblieben, aber er erzielte die gewünschte Wirkung damit. Brenden blieb stehen und entspannte sich ein wenig.
»Du kannst tun, was du willst«, sagte Leesil zum Konstabler. »Aber ich bezweifle, dass der Stadtrat dir gestatten wird, wegen dieser Sache irgendetwas zu verkaufen, das uns gehört.«
Ellinwood wirkte bestürzt, als er diese Worte hörte, und Leesil entschied, das Gespräch zu beenden. Er griff nach Brendens Arm und zog ihn in die Taverne, ließ Ellinwood und die übrigen Leute auf der Straße stehen. Er schloss die Tür und legte den dicken Holzriegel vor.
»Soll er anklopfen, wenn er was will.« Aber es klopfte niemand an die Tür.
Der Schankraum war leer – Magiere musste nach oben gegangen sein. Leesil und Brenden waren allein.
»Jemand muss die Kratzer in deinem Gesicht säubern«, sagte Brenden ruhig. »Sonst bleiben Narben zurück.«
Leesil seufzte und schenkte den Worten keine Beachtung. »Wie begann das dort draußen?«
»Ich bin zum Lagerhaus gegangen, um mich zu vergewissern, dass es eingestürzt ist. Als Ellinwood und die Wächter eintrafen, verlangten die Leute von ihm, etwas zu unternehmen. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, warum du das Gebäude angezündet hast, aber sie wollten nur jemandem die Schuld geben. Ellinwood wollte Magiere und dich zu Sündenböcken machen und führte die Leute hierher. Ich konnte sie nicht daran hindern, die Taverne zu erreichen.«
Leesil schürte das Feuer. Wenigstens war Brenden noch immer auf ihrer Seite. Angesichts seiner Reaktion in der vergangenen Nacht wäre Leesil nicht überrascht gewesen, wenn er die Seite gewechselt hätte.
»Brenden, bitte kümmere dich um Chap, während ich nach Magiere sehe.«
Der Schmied zögerte unsicher. »Was ist sie?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, und sie weiß es ebenso wenig.«
»Sie sieht ganz wie eine Frau aus. Ich habe sogar daran gedacht …« Brenden beendete den Satz nicht. »Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.«
Leesil versteifte sich unwillkürlich. Wovon sprach der Schmied da? Hatte er mit dem Gedanken gespielt, Magiere den Hof zu machen? Als ob das möglich wäre. Magiere hätte es gar nicht zugelassen, dass ihr jemand den Hof machte. Leesil fühlte sich plötzlich versucht, Brenden fortzuschicken. Dann rief er sich zur Ordnung und begriff, wie dumm er war. Brenden war sein Freund, und davon hatte er nicht viele.
»Kümmerst du dich um Chap?«, fragte er.
Der Schmied nickte. Als Brenden Wasser aufsetzte, ging Leesil nach oben, blieb vor der zertrümmerten Tür von Magieres Zimmer stehen und klopfte an.
»Ich bin’s. Ich komme herein.«
Magiere saß still auf dem Bett und hielt den Kopf gesenkt – das Haar fiel nach vorn. Die Aussicht auf ein offenes, ehrliches Gespräch reizte Leesil nicht sonderlich, und so blieb er in der Tür stehen.
»Was geschehen ist, ist geschehen. Komm mit mir in die Küche. Wir müssen uns waschen und feststellen, wie sehr wir verletzt sind. Unter all dem Schmutz ist das gar nicht richtig zu sehen.«
»Ich habe keine Wunden«, erwiderte Magiere leise. »Ich hatte nur eine, und die hast du geheilt.«
Ob erschöpft oder nicht: Es ließ sich nicht vermeiden, darüber zu reden.
»Sie sind tot, Magiere. Das Lagerhaus ist über ihnen abgebrannt und eingestürzt. Was auch immer mit dir passiert: Es geschieht nur dann, wenn du gegen Untote kämpfst, und sie existieren jetzt nicht mehr. Es ist vorbei.«
Sie hob den Kopf. »Dein Gesicht. Sieh nur, was sie mit deinem Gesicht gemacht haben.«
»Keine Sorge. Ich bleibe trotzdem hübsch.«
Magiere lächelte nicht. »Du musst mir erzählen, was passiert ist.«
Leesil straffte die Schultern und versuchte, sich in eine Aura unerschütterlicher Entschlossenheit zu hüllen.
»Brenden ist unten. Komm mit mir in die Küche, damit wir uns waschen können. Beim Essen erzähle ich dir alles. Abgemacht?«
Magiere wollte widersprechen, nickte dann aber und stand auf. »Na schön.«
»Nimm den Morgenmantel«, sagte Leesil. »Die Hose, die du trägst, ist so zerrissen und schmutzig, dass selbst ich sie verbrennen möchte – und du bist doch immer so auf Sauberkeit bedacht.«
Leesils Beharren darauf, dass sie sich wuschen und etwas aßen, hatte Magiere zuerst gestört, aber später musste sie seinem Instinkt recht geben. Nach dem Bad flocht sie ihr Haar, streifte den dicken, warmen Morgenmantel über, kochte Tee und schnitt Brot, während Leesil sich den Dreck abschrubbte. Die einfachen Tätigkeiten gaben ihr Zeit, sich zu sammeln und Kraft zu schöpfen für das, was Leesil ihr zu sagen hatte.
In der vergangenen Nacht war sie voll von Blut gewesen, und nicht nur von ihrem eigenen. Mit einem festen, harten Knoten im Bauch war sie in den Stunden vor der Morgendämmerung umhergewandert.
Magiere erinnerte sich daran, wie viel Blut Leesil in der vergangenen Nacht für sie verloren hatte, holte ihm kaltes Lammfleisch und Käse. Dann säuberte sie sorgfältig die Kratzer in seinem Gesicht und trug die von Welstiel stammende Salbe auf. Als sie auf einem Stuhl saß und Leesil die Medizin auf die Haut strich, kam sie sich wieder mehr wie sie selbst vor. Es fühlte sich gut an, etwas für ihn zu tun. Vermutlich blieben tatsächlich einige Narben zurück, aber er hatte recht: Er würde hübsch bleiben.
Während sie noch mit Leesil beschäftigt war, kam Brenden herein und kümmerte sich um seine eigenen Verletzungen. Niemand von ihnen sprach über die Ereignisse der vergangenen Nacht, bis sie alle im Schankraum an einem Tisch saßen. Der Tee schmeckte gut, und Magiere war durstig.
Sie trank eine Tasse, goss sich eine zweite ein und fragte dann: »Wollen wir anfangen?«
Bisher hatten Brenden und sie vermieden, miteinander zu reden, aber seine fragenden Blicke waren kaum zu übersehen.
Leesil schluckte einen Bissen Lammfleisch hinunter. »An wie viel erinnerst du dich?«
»An einige Eindrücke vom Kampf, aber das letzte klare Erinnerungsbild zeigt mir, wie ich Rasheds Sarg öffne.« Brenden und Leesil beugten sich erstaunt vor, als Magiere den Namen des Untoten nannte. »So heißt er«, fügte sie hinzu. »Er muss mir seinen Namen genannt haben.«
Leesil nippte an seinem heißen Tee. Magiere stellte fest, dass sein Gesicht weniger zerkratzt und geschwollen wirkte. Die Salbe wirkte bereits, und vielleicht blieben ihm Narben ganz erspart.
»Danach brach Rattenjunge von innen durch den Deckel seines Sargs«, sagte Leesil ruhig.
Ausführlich schilderte er den Kampf. Magiere wusste, dass er solche Geschichten nicht gern chronologisch geordnet erzählte, und sie wusste sein Bemühen um Details zu schätzen. Doch der Schluss erfüllte sie noch immer mit Unbehagen und Verlegenheit. Brenden wandte den Blick ab, als Leesil ins Stocken kam. Er wies nur darauf hin, dass er Magiere sein Blut gegeben hatte, ohne Einzelheiten zu nennen.
»Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte«, sagte er. »Du lagst im Sterben.«
Leesil hatte ihr das eigene Blut zu trinken gegeben und ihr damit das Leben gerettet. Wie sollte sie auf dieses Opfer reagieren? Ungebetene Erinnerungsfragmente offenbarten sich ihr: die sanften Bewegungen seiner Finger an ihrem Hinterkopf, sein Handgelenk in ihrem Mund, seine Lebenskraft, die sie erfüllte und heilte.
»Nach dem Einsturz des Tunnels hast du mich mit deinem Atem am Leben erhalten«, sagte Leesil. »Ich habe mich nur revanchiert.«
Diese Erklärung schien Magiere zu einfach. Jeder musste atmen, um zu leben. Aber nicht jeder musste Blut trinken, um zu überleben. Was war sie?
»Es gibt da noch etwas«, sagte Leesil. »Ich weiß nicht, was es bedeutet.« Er deutete auf Magieres Hals. »Welstiel wies mich an, eins deiner Amulette hervorzuholen und den Knochen auf deine Haut zu legen. Hast du eine Ahnung, was der Grund dafür sein könnte?«
Magieres Verwirrung wuchs, und sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er scheint viel mehr zu wissen als wir. Aber er drückt sich auch sehr unklar aus, und ich frage mich, wie viel wir ihm glauben können. Du hast gesagt, dass er das Wort Dhampir verwendete. Er benutzte es auch, als ich dort stand, wo …« Sie sah Brenden an. »Wo Eliza starb.«
Stille folgte.
»Ein Dhampir ist der Nachkomme eines Vampirs und eines Sterblichen«, sagte Leesil nach einer Weile. »Aber solche Geschöpfe sind nur Legende. Das Volk meiner Mutter lebt weit im Norden, und meine Großmutter war eine Weise; sie kannte sich mit Schutzmagie und einfacher Zauberei und solchen Dingen aus. Ich habe das eine oder andere über die Untoten gehört: Sie können weder Kinder zeugen noch empfangen. Solche Nachkommen wären unmöglich.«
»Wie erklärst du dir dann meinen verheilten Hals?«, fragte Magiere, obwohl sie eigentlich gar keine Antwort wollte. »Was ist mit meiner Waffe und den Amuletten? Und mit meinen Veränderungen beim Kampf gegen Rashed?«
»Wir können nicht alles glauben, was Welstiel sagt«, erwiderte Leesil. »Er bezeichnete Chap als Maya-hì, und ich weiß, dass das absurd ist.«
»Warum?«, fragte Brenden. »Was bedeutet es?«
»Meine Kenntnisse der Elfensprache sind sehr begrenzt, aber ich habe darüber nachgedacht. Ich glaube, es bedeutet so viel wie ›magischer Hund‹, oder besser ›Feenhund‹. Aber die Feen und Naturgeister, von denen ich gelesen habe, sind nicht unbedingt angenehme Geschöpfe. Welstiel weiß vielleicht mehr als wir, und in mancher Hinsicht könnte er nützlich sein, aber er ist entweder verrückt oder ebenso abergläubisch wie die Bewohner von Strawinien.«
»Du kannst nicht leugnen, dass Chap ein besonderer Hund ist«, hauchte Magiere. »Wie ich verändert er sich, wenn er gegen solche … Geschöpfe kämpft.«
Leesil wurde nachdenklich. »Auch darüber habe ich nachgedacht. Meine Mutter meinte einmal, Chap sei dazu bestimmt, mich zu beschützen. Vielleicht gab es in ferner Vergangenheit mehr Untote als heute, und das Volk meiner Mutter züchtete Hunde, die in der Lage waren, gegen solche Ungeheuer zu kämpfen.«
Magiere sah ihn an und blinzelte überrascht. Es war lange her, seit Leesil zum letzten Mal von seiner Vergangenheit gesprochen hatte, und seine Familie erwähnte er nie.
»Hast du deine Mutter gekannt?«
Er versteifte sich. »Ja.«
Es klopfte an der Tür.
»Oh, um aller Trunkenbolde willen!«, entfuhr es Leesil. »Wenn Ellinwood uns noch immer zu verhaften versucht, erlaube ich dir, ihn zu töten, Brenden.«
Der Schmied stand mit finsterer Miene auf und öffnete die Tür, aber draußen wartete nicht etwa Ellinwood. Auf der anderen Seite der Tür standen ein Mädchen, das Magiere nicht kannte, und ein vage vertraut wirkender Junge.
»Geoffry?«, fragte Leesil. »Was machst du hier?«
Dann erkannte Magiere den Jungen. Es war der Sohn des Bäckers Karlin.
»Hallo, Brenden«, sagte das Mädchen und hob einen grünen Beutel. »Wir bringen Bezahlung für die Jägerin.«
Das Mädchen mochte etwa fünfzehn sein, hatte große Augen und ein attraktives Gesicht. Ein Vorderzahn fehlte, und es sprach mit einem seltsamen Akzent, den Magiere nicht kannte.
»Ich habe gehört, dass du bei ihr warst«, fügte sie hinzu. »Ich habe dich immer für tapfer gehalten.«
»Das ist Aria«, stellte Brenden die Besucherin vor. »Ihre Familie kam vor einigen Jahren aus dem Osten hierher. Sie war mit Eliza befreundet.«
Aria trat in den Schankraum und sah sich um. Geoffry folgte ihr.
»Mein Vater hat Geld gesammelt und uns hierher geschickt«, sagte sie.
Zuerst verstand Magiere nicht. Dann blickte sie auf den Beutel, den Aria ihr reichte, und in ihrer Magengrube krampfte sich etwas zusammen. Man bezahlte sie für die Tötung von Miiskas Untoten.
»Nimm es, Jägerin«, sagte Geoffry. »Es ist echtes Geld, keine Kinkerlitzchen oder Lebensmittel. Wir wissen, dass du nicht billig bist. Der Konstabler mag ein Narr sein, aber viele Bewohner der Stadt sind dir dankbar.«
»Dies ist ein hübscher Ort«, sagte Aria und berührte die Theke aus Eichenholz. »Ich bin nie hier gewesen.«
Magiere versuchte aufzustehen, fand aber nicht die Kraft dazu. Sie legte den Beutel auf den Tisch und schob ihn Aria zu.
»Nimm die Münzen und gib sie den Leuten zurück, von denen sie stammen. Wir haben dies nicht für Geld getan.«
Aria und Geoffry sahen sie verwirrt und sogar ein wenig enttäuscht an. Vielleicht hatten sie um die Ehre gebeten, der Jägerin ihr Geld zu bringen. Magiere wusste, wie sich der Beutel gefüllt hatte. Vor dem inneren Auge sah sie Bäcker, Fischhändler und jetzt arbeitslose Hafenarbeiter, die ihr letztes Geld zusammenkratzten.
Sie fühlte sich elend, und ihr Frühstück drohte nach oben zu kommen. Dies war wie ein Albtraum, aus dem sie nicht erwachen konnte. Die Vergangenheit holte sie ein und wiederholte sich.
Brenden führte die jungen Besucher höflich hinaus. Magiere hörte freundliche Worte wie »weiß das zu schätzen«, »danke deinem Vater« und »die Jägerin ist müde«. Aber als er Aria und Geoffry fortgeschickt hatte, richtete er einen verwunderten Blick auf Magiere.
»Sie wollten dir nur danken. Und solcher Dank ist euch keineswegs unvertraut. Du und Leesil … ihr habt schon oft Untote vernichtet und dafür Bezahlung entgegengenommen.«
Magiere wandte sich von ihm ab. Sie konnte einfach nicht anders, sah ihren Partner an und wartete auf eine Reaktion. Leesil trank seine Teetasse aus, trat damit hinter die Theke und füllte sie mit Rotwein.
»Natürlich«, sagte er. »Oft.«