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Chaps langer Kopf lag auf dem Boden, die Schnauze dicht vor den Pfoten. Seine halb geöffneten Augen blinzelten selten, als er unentwegt in die Dunkelheit jenseits des Lagers starrte. Über dem Flüstern der Blätter und des Grases im Wind hörte er Magieres ruhigen Atem und Leesils betrunkenes Schnarchen.

Das Feuer brannte niedrig in der späten Nacht; nur gelegentlich wuchsen kleine Flammen aus den glühenden Holzresten. Hohe Bäume säumten das Lager, umgaben es mit einer schwarzen Wand. Nicht weit entfernt rauschte der Wudrask. Frühlingsregen hatte ihn anschwellen lassen, und seine Fluten platschten gegen die Felsen, spritzten darüber hinweg. Magiere rollte sich mit einem leisen Murmeln auf die Seite. Einige Strähnen lösten sich aus dem Zopf und strichen über Reste von getrocknetem Schlamm im Gesicht. Chap sah kurz in ihre Richtung und setzte dann seine Wache fort.

Etwas bewegte sich zwischen zwei Bäumen, ein halbes Dutzend Sprünge außerhalb des Lagers.

Chap hob den Kopf und knurrte zum ersten Mal, seit sich seine beiden Begleiter schlafen gelegt hatten. Silberblaue und graue Haare richteten sich am Nacken auf, und er bleckte die Zähne. Das Knurren wurde lauter. Magiere bewegte sich erneut, erwachte aber nicht.

Wieder huschte etwas durch die Dunkelheit.

Chap spannte die Hüft-, Schulter- und Beinmuskeln. Er senkte den Kopf, hörte auf zu knurren und schlich zentimeterweise über den Boden.

Ein weißes Gesicht mit Augen wie funkelnde Steine erschien über einem zwei Sprünge entfernten Busch. Es starrte auf Magiere hinab.

Chap sprang mit einem fauchenden Knurren auf und verschwand im dunklen Wald.

Magiere schreckte aus dem Schlaf, warf die Decke beiseite und sah noch, wie Chap in den Wald sprang. Verwirrt und benommen vom Schlaf zerrte sie das Falchion aus der Scheide und fragte sich, welches Geräusch sie geweckt hatte.

»Leesil, wach auf«, sagte sie rasch. »Chap ist weg … Er jagt etwas.«

Der Hund bellte nur dann, wenn er sich bedroht fühlte. Er griff nie an, es sei denn, Leesil forderte ihn dazu auf. In den vier Jahren, die Magiere ihn kannte, hatte er nie das Lager verlassen.

Ein gespenstischer, hasserfüllter Schrei hallte durch den Wald; kam aus der Nähe des Flusses. Magiere hielt es für unmöglich, dass er aus der Kehle eines Hundes stammen konnte.

»Leesil … hast du nicht gehört?« Sie stand auf. »Etwas ist dort draußen.« Ihre Amulette berührten seine Schulter, als sie sich über ihn beugte. »Auf die Beine!«, sagte sie scharf.

Leesil murmelte etwas und rollte sich zur Seite. Der leere Weinschlauch lag neben ihm.

»Verdammter Trunkenbold«, stieß Magiere verärgert hervor.

Ein weiterer Schrei kam aus dem finsteren Wald, und diesmal wusste Magiere, dass er von Chap stammte. Sie zögerte kurz und überlegte, ob sie Leesil allein lassen sollte oder nicht. Dann lief sie in den Wald, in Richtung Fluss.

Etwas hatte den Hund so sehr erschreckt, dass er angegriffen hatte, ohne einen Befehl abzuwarten oder das Lager zu wecken. Die Vorstellung von strawinischen Wolfsrudeln, die Chap zerrissen, ließ Magiere noch schneller werden. Sie stieß niedrig hängende Zweige beiseite, stürmte durchs Unterholz und hörte, wie das Rauschen des Flusses lauter wurde.

Chap war nicht ihr Hund, aber er hatte sich so oft zwischen sie und eine Gefahr geworfen, dass ihr mehr an ihm lag, als sie bisher geahnt hatte. Wieder erklang das seltsame Geheul, und es vermischte sich mit dem Knurren und Bellen des Hunds, doch das lauter werdende Rauschen des Flusses machte es schwer, die Richtung zu bestimmen.

»Chap, wo bist du?«, rief Magiere, ohne innezuhalten.

Sie hatte keine Fackel, aber der fast volle Mond gab ihr genug Licht, einen Weg durch den Wald zu finden. Zweimal stolperte sie und hielt sich mit der freien Hand fest, während sich die andere fester um das Heft des Falchions schloss. Der Kampf mit Leesil im Dorf hatte Magiere einen Muskelkater beschert. Sie verfluchte den übereifrigen Hund, aus Ärger ebenso wie aus Sorge. Weiter vorn, zwischen den Bäumen, glitzerte der Mondschein auf dem Wasser des Flusses.

»Chap!«, rief sie erneut und lief weiter.

Aus dem linken Augenwinkel sah sie ein weißes Huschen und blieb stehen. Chaps Bellen kam aus der gleichen Richtung. Magiere eilte dorthin, doch die Geräusche zogen nach rechts, zum Fluss. Am Ufer des Wudrask öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, und was Magiere dort sah, ließ sie erstarren. Selbst von hinten bemerkte sie die dunklen Flecken an Chaps Hals und Schultern. Sie machte einen weiten Bogen nach links, um ihn nicht zu erschrecken.

Seine Schnauze war verschmiert und tropfte. Magiere wusste, dass es sich um Blut handelte. Das Fell war gesträubt, wo es nicht verfilzt und nass war, und dadurch wirkte der Hund noch größer. Er bleckte die Zähne und knurrte kehlig. Magieres Blick glitt zu Chaps Beute, die am Flussufer festsaß.

Das Geschöpf hatte menschliche Gestalt und hockte im Schlamm, die Hände flach auf dem Boden, als könnte es auf allen vieren laufen, wenn es wollte. Die Fetzen eines offenbar von Chap zerrissenen Hemds hingen am Oberkörper. Blut rann aus Wunden in Armen und Brust des bleichen Mannes. Das bis auf die Schultern reichende dunkle Haar wirkte fehl am Platz, wie nachträglich hinzugefügt, um Kontrast zu schaffen. Das strähnige Haar verhüllte das Gesicht, doch die Augen waren deutlich zu erkennen: Sie schienen von innen heraus zu glühen. Er hob eine schmale, dürre Hand und betrachtete die von Chaps Zähnen verursachten Wunden am Handgelenk. Kleine, krumme Nägel ragten aus den Fingerspitzen, wie falsch gewachsene Krallen.

»Nicht möglich … nur ein Hund … aber es brennt.« Überraschung erklang in der Stimme des Mannes. »Verdammter Köter …«, zischte er zornig. »Du solltest Parko nicht verletzen können. Nicht auf diese Weise.«

Er hob den Blick seiner glühenden Augen, als er Magiere bemerkte. Der Kopf des Mannes neigte sich zur Seite, immer weiter, bis er fast eulenartig auf der Schulter ruhte und das Haar zur Seite fiel; er starrte Magiere an. Sie hielt ihr Falchion bereit.

Das hohlwangige Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen war weiß wie Kalk. Eine Krankheit schien seinen Körper in Haut und Knochen verwandelt zu haben.

»Jäger?«, fragte er mit süßer Stimme und holte zischend Luft. Der Kopf neigte sich noch weiter zur Seite, und plötzlich lachte der Mann. »Jägerin!«

Kalte Furcht regte sich in Magiere, als sie dieses Wort hörte. Sie hatte den Mann nie zuvor gesehen, aber er wusste von ihr – zumindest wusste er, warum sie hierhergekommen war.

Er sprang auf allen vieren nach links.

»Bleib da, Chap«, sagte Magiere, aber nicht schnell genug.

Der Hund sprang ebenfalls, aber bevor er landete, wechselte der Mann die Richtung, machte einen Satz nach vorn und zur rechten Seite. Chaps Vorderpfoten sanken in Schlamm und lockeren Kies, als er versuchte, sich zu drehen. Er verlor das Gleichgewicht, fiel und rutschte über das felsige Ufer des Flusses. Magiere sah die Bewegungen des Mannes, nach rechts und nach links, richtete den Blick dann auf Chap, als er fiel. Sie blinzelte.

Der Mann war schon in der Luft und flog ihr entgegen.

Magiere duckte sich und rollte nach vorn, unter dem Fremden hinweg. Sie vergeudete keine Zeit damit, sich zu fragen, wie er so schnell sein und so weit springen konnte. Den Fluss im Rücken kam sie wieder auf die Beine und sah, wie sich der Angreifer in der Luft drehte und erneut ihr zuwandte. Seine Füße berührten kaum den Boden, als er sprang.

Magiere holte mit dem Falchion zu einem kurzen, schnellen Hieb aus. Es war kein gezielter Schlag, und sie wollte auch gar nicht treffen. Es ging ihr nur darum, den Mann zu verscheuchen. Es wäre nicht gut gewesen, jetzt jemanden zu töten, nachdem sie Leesils improvisierte Darbietung im Dorf zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hatte.

Der bleiche Mann duckte sich, hüpfte zur Seite und entging der Klinge. Magiere nutzte die Gelegenheit und wandte sich in die andere Richtung, um nicht mehr den Fluss im Rücken zu haben. Das irre Lachen des Fremden hallte von den Bäumen wider.

»Arme Jägerin«, spottete er, hob die Finger mit den krummen Nägeln und richtete sich aus der Hocke auf.

Magiere wich einen Schritt zurück. »Ich möchte nur den Hund. Es liegt mir nichts daran, dir wehzutun.«

Der Mann lachte erneut, die Augen halb geschlossen; ihr Glühen wurde zu zwei hellen Streifen.

»Das könntest du auch gar nicht«, sagte er, seine Stimme so hohl wie die Wangen.

Dann sprang er.

Es war der gleiche Traum, und diesmal spülte der Wein ihn nicht fort.

Der nur zwölf Jahre alte Leesil hockte auf dem Boden eines dunklen Zimmers und hörte seinem Vater zu.

»Hier …« Der Vater deutete auf die Basis des menschlichen Schädels in seiner Hand. »An dieser Stelle kann eine dünne, gerade Klinge angesetzt werden, wenn das Individuum abgelenkt ist. Bei den meisten großköpfigen Humanoiden bewirkt das einen schnellen, stillen Tod.«

Der Vater drehte den Schädel und zeigte die Öffnung dort, wo das Rückgrat gewesen war.

»Es ist ein sehr schwieriger Stoß. Wenn du ihn nicht richtig ausführst …« Er bedachte seinen Sohn mit einem mahnenden Blick. »… kannst du dich mit einem harten Stoß zur Seite retten, bevor das Opfer einen Ton von sich gibt. Verwende dabei immer das Stilett oder eine ähnlich dünne, feste Klinge – nie einen Dolch oder ein Messer. Breite Klingen bleiben in der Schädelbasis stecken oder werden vom ersten Wirbelknochen abgelenkt.«

Der Mann sah seinen Sohn an. Ein dichter, grau melierter Bart verbarg die untere Hälfte seines schmalen, kantigen Gesichts. Er streckte die Hand mit dem Schädel aus. Der junge Leesil betrachtete ihn, bemerkte aber vor allem, wie schmal und fast zart die Hände seines Vaters waren. Sie wirkten immer anmutig und elegant, auch wenn sie Grausames taten.

»Verstehst du?«, fragte der Vater.

Leesil sah auf, das Stilett in einer Hand, die für einen Jungen etwas zu groß war. Wach erinnerte er sich daran, die Frage seines Vaters mit einem Nicken beantwortet zu haben, aber der Traum war immer anders als die Erinnerung. Er wollte den Schädel nehmen, zögerte jedoch.

»Nein, Vater«, sagte der junge Leesil. »Ich verstehe nicht.«

Eine zweite Gestalt kam aus dem Schatten, schien aus dem dunklen Boden in der Ecke des Raums zu wachsen: eine große Frau, noch etwas größer als der Vater, schlank, die Haut honigbraun wie Leesils, aber so glatt und perfekt, wie Leesil sie noch nie bei jemand anders gesehen hatte. Das lange Haar und die schmalen, fedrigen Brauen glänzten in einem goldenen Ton, wie die Fäden eines Spinnennetzes im Sonnenschein. Die Spitzen ihrer Ohren blieben fast immer unter den schimmernden Locken verborgen. Ihre großen bernsteinfarbenen Augen neigten sich an den Seiten nach oben, den gewölbten Brauen entgegen.

»Die richtige Antwort lautet Ja, Leesil«, sagte die Frau in einem freundlichen Ton. Es war der leise Tadel einer liebevollen Mutter.

Ruhig sah sie auf ihn herab, und alles in ihm drängte danach, sie zufriedenzustellen, auch wenn es ihn mit Elend erfüllte.

»Ja, Mutter … ja, Vater«, hauchte er. »Ich verstehe.«

Leesil rollte sich im Schlaf auf die Seite, stöhnte leise und erwachte plötzlich, ohne zu wissen, was ihn geweckt hatte. Für einen Moment war er dankbar dafür, vom Traum befreit zu sein. Dumpfer Schmerz pochte hinter seiner Stirn, das Ergebnis von Erschöpfung und zu viel Wein. Er hatte zu wenig getrunken, um den Traum in dieser Nacht von ihm fernzuhalten, und gerade genug, um einzuschlafen. Das Bild vor seinen Augen verschwamm, und es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass das Lager um ihn herum leer war.

»Magiere?«, rief er. »Chap?«

Keine Antwort. Furcht hob den Benommenheitsschleier des Alkohols von seinen Gedanken.

Aus der Ferne kam ein Heulen, das nichts Menschliches oder Tierisches zu haben schien. Leesil stand auf, schob zwei Stilette in die Unterarmfutterale und wankte durch den Wald, in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.

Magiere wandte sich erneut zur Seite und hielt ihren Gegner mit kurzen Hieben auf Distanz. Die Anstrengung ließ sie schneller atmen, doch mit all ihren Finten und Manövern war es ihr nicht gelungen, den Fremden zu vertreiben. Geschickt wich er den Schlägen aus, grinste oder lachte gackernd, während er sprang und tanzte. Magieres Fuß stieß gegen etwas dicht über dem Boden, vielleicht einen herabgefallenen Ast, und sie begriff, dass der Mann sie zu den Bäumen zurückgetrieben hatte.

Panik quoll in ihr empor. Sie schaffte es gerade so, sich den Burschen vom Leib zu halten. Die ganze Zeit über blieb ihr Blick auf ihn gerichtet, aus Furcht, dass er plötzlich sprang. Wenn sie sich darauf konzentrieren musste, auf dem Waldboden nicht zu stolpern, so musste das ihre Wachsamkeit beeinträchtigen.

»Jägerin, Jägerin«, sang der bleiche Mann, als er einen Satz nach rechts machte und auf allen vieren landete. »Komm und fang deine Beute!«

Ein Teil der Panik wich Zorn.

Wenn sie dem Fremden die Initiative überließ, hatte sie kaum Aussichten, den Kampf zu gewinnen. Inzwischen ahnte sie, dass der so ausgezehrt und krank wirkende Mann mehr über ihren Beruf wusste, als er sollte. Dennoch: Sie wollte vermeiden, ihn zu töten, wenn das möglich war. Ein Irrer, der von einer falschen Jägerin der Untoten faselte, war ein zweifelhafter Ankläger. Aber jemand, der durch eine Klinge starb, in der gleichen Nacht, in der sie im Dorf gewesen war …

Dadurch ergaben sich viele Fragen, vielleicht genug, um die Dorfbewohner zu veranlassen, sich mit der Bitte um Hilfe an ihren Lehnsherrn zu wenden. Magiere blieb stehen und wartete darauf, dass ihr Gegner einen neuen Vorstoß unternahm. Vielleicht bekam sie dabei Gelegenheit, ihn mit der flachen Seite der Klinge bewusstlos zu schlagen.

Ein jaulendes Knurren vom Fluss erinnerte sie an Chap, der über das felsige Ufer gerutscht war. Aus einem Reflex heraus sahen sowohl Magiere als auch der Mann zur Seite. Unmittelbar darauf kehrten ihre Blicke zurück, rechtzeitig genug, um den Fehler des jeweils anderen zu erkennen. Der Mann sprang, die klauenartigen Finger auf Magieres Hals gerichtet. Ihr blieb keine Zeit für bewusste Gedanken – sie handelte instinktiv und schlug mit dem Falchion zu.

Die Klauenhand verfehlte ihr Ziel und traf Magieres Brust. Die Klinge stieß an das Schlüsselbein des Fremden. Fingernägel kratzten über Leder. Scharfer Stahl schnitt durch zerrissenen Stoff und in weißes Fleisch.

Magiere verlor den Boden unter den Füßen, als sie nach hinten gestoßen wurde. Sie stieß mit dem Kopf gegen einen Baumstamm, kippte benommen zur Seite und fiel zu Boden. Ihr Herz schlug heftig, als sie darauf wartete, dass der Gegner auf ihr landete, doch das geschah nicht. Sie sah auf und versuchte, etwas zu erkennen.

Der bleiche Mann stand vor ihr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die nicht sehr tiefe Wunde in seiner Brust – die Möglichkeit, dass ihn die Klinge verletzen könnte, schien ihm bis eben überhaupt nicht in den Sinn gekommen zu sein. Das Grinsen war verschwunden, und jetzt verwandelte sich das Gesicht in eine Fratze des Zorns.

»Nicht möglich …«, murmelte er.

Es gab kaum mehr Hoffnung, den Mann nicht zu töten. Magiere schloss die Hand fest ums Heft und wollte das Falchion heben, um sich damit zu schützen. Doch sie kam nicht dazu – der Mann stürzte sich auf sie. Eine knochige Hand griff nach ihrer Kehle und hielt sie am Boden fest. Magiere versuchte, das Falchion zu drehen und damit den Kopf ihres Gegners zu erreichen, aber er packte sie am Handgelenk und drückte auch den Arm zu Boden.

»Du kannst dies nicht mit mir machen«, knurrte er. »Es ist unmöglich.«

Das Bild vor Magieres Augen verschwamm wieder, als sich die Hand fester um ihre Kehle schloss.

»Du kannst Parko nicht verletzen«, zischte der Fremde fassungslos, obwohl die Wunde in seiner Brust etwas anderes behauptete.

Magiere wurde die Luft knapp, und sie spürte, wie sich neue Benommenheit in ihr ausbreitete. Kälte wogte heran – die Finger an ihrem Hals schienen die Wärme aus ihrem Körper zu saugen.

Sie schlug mit der freien Hand zu, nach dem ovalen Dunst, zu dem der Kopf des Fremden geworden war. Ihre Faust traf auf etwas Hartes, und sie fühlte die Wucht des Schlages bis in die Schulter. Doch der Kopf des Mannes bewegte sich kaum. Magiere griff nach dem Gesicht, das sie nur vage sah, drückte so fest wie möglich zu.

Sein Fleisch gab ebenso wenig nach wie die Knochen darunter, und wieder strömte ihr Kälte entgegen, durch die Hand.

Entsetzen stieg in Magiere auf, als sich das bleiche Gesicht ganz auflöste und sie begriff, dass sie unmittelbar davor stand, das Bewusstsein zu verlieren. Die Kälte grub sich tiefer, in die Brust hinein, und selbst die Furcht verlor sich in diesem Empfinden. Auch in der Kehle und dem Handgelenk des an den Boden gedrückten Waffenarms breitete sich der Frost aus.

Etwas in ihr reagierte darauf.

Es kam nicht vom schwächer werdenden Körper, sondern wuchs aus einem verborgenen Ort tief in ihr und pflanzte sich voller Unruhe fort. Es schuf ein stärker werdendes Fieber, das von den Knochen zu den Muskeln und Nerven sprang und prickelnde Hitze hinterließ. Schließlich konzentrierte es sich im Bauch. Die Hitze verwandelte sich in einen Knoten aus zunehmendem Schmerz, den die Kälte nicht betäuben konnte, erreichte von dort aus den Hals. Eine Leere öffnete sich in Magiere und wartete darauf, gefüllt zu werden.

Es machte sie … hungrig.

Sie fühlte sich plötzlich wie ausgehungert. Ein Begehren, das auf einer Welle aus Zorn ritt, suchte nach einer Möglichkeit, den Hunger zu stillen. Und es fand eine: Sie musste den Fremden töten.

Die freie Hand drückte gegen den Kopf des Mannes, und diesmal gab er ein wenig nach.

Hunger breitete sich von ihrem Magen aus und wuchs durch die Glieder, vertrieb Erschöpfung und Furcht und löste die vom Fremden stammende Kälte auf. Magiere versuchte, den Waffenarm zu heben – langsam kam das Handgelenk nach oben, obwohl der Mann es noch immer festhielt. In ihrer Dunkelheit hörte sie, wie ihr Gegner zischte, als er ihre Kehle losließ, um die Hand in seinem Gesicht zu ergreifen. Sie keuchte und füllte ihre Lungen mit Luft.

»Nein … nein … nein!«, heulte der Mann. »Du kannst es nicht mit Parko aufnehmen.«

So sehr sich Magiere auch bemühte: Sie konnte weder mit dem Falchion zustoßen noch die andere Hand zum Kopf ihres Widersachers zurückbringen. Der Oberkörper des Mannes ruckte nach vorn, und dabei erklang ein sonderbares Klicken und Klacken. Es entstand wieder ein Bild vor ihren Augen, und sie sah, wie sich das verschwommene Oval ihrem Gesicht näherte – Klack –, zurückwich und erneut nach vorn kam: Klack. Es hörte sich an wie das zuschnappende Maul eines Tieres.

Plötzlich verstand Magiere. Mit ihren Griffen blockierten sie sich gegenseitig, und der Mann sah nur einen Ausweg: Er versuchte, sie zu beißen.

Magiere wölbte den Rücken, brachte ihren Kopf nach oben und aus seiner Reichweite und drückte dann mit beiden Armen zu. Ein böses Knurren kam von links, und etwas zog sie etwa fünfzehn Zentimeter weit über den Boden. Der bleiche Fremde heulte zornig, als sich seine Klauenfinger von ihren Handgelenken lösten. Magiere versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war, und dadurch verlor sie ihre Konzentration.

Sie sah Chap, der von links heranflog, den Mann erreichte und von ihm abprallte. Der Körper des Fremden ruckte nach rechts, und wieder wurde Magiere ein kleines Stück mitgezogen. Der knurrende Schemen jagte erneut heran und traf den Bleichen an der Seite. Hund und Mann fielen von Magiere herunter und wälzten sich mit lautem Knurren und Fauchen über den Boden in die dunkleren Nachtschatten der Bäume.

Magiere stand rasch auf und wollte so schnell wie möglich zwischen die beiden kommen, denn sie befürchtete, dass Chap dem Mann weit unterlegen war. Sie stolperte und hielt sich an einem Baumstamm fest. Der seltsame Hunger in ihr war noch immer da, wenn auch etwas schwächer als vorher. Ihr schwindelte, als sie unsicher auf das Kampfgewühl zuwankte und versuchte, Hund und Mann voneinander zu unterscheiden.

Der bleiche Fremde wirbelte zu ihr herum, befand sich aber außer Reichweite. Chap sprang nach seinen Beinen, und der Mann wandte sich wieder dem Tier zu. Der Hund war zu schnell für ihn, und Magiere hörte einen schmerzerfüllten Schrei, als Chap ins Handgelenk des Fremden biss.

In diesem Moment rückte das, was Magiere hörte, sah und fühlte, von ihrem Bewusstsein fort. Hund und Mann schienen weit entfernt zu sein, zu weit, als dass sie sie erreichen konnte. Ihr Hals fühlte sich noch immer halb zusammengepresst an, und sie atmete schwer.

Das schmerzerfüllte Heulen war kaum verklungen, als sie das Falchion in beiden Händen hielt und mit der ganzen Kraft ihres Körpers zur Seite schlug. Sie zielte nicht, lenkte die Klinge nur nach oben – der Mann würde sich wahrscheinlich aufrichten, um den Arm aus Chaps Maul zu ziehen. Der Hieb brachte sie aus dem Gleichgewicht, und die Schatten des Waldes verschmolzen miteinander und drehten sich.

Sie fiel, und ihr Kopf prallte auf die weiche Decke aus welken Blättern auf dem Boden. Von einem Augenblick zum anderen verschwand der Hunger aus ihr. Von jäher Panik erfasst rollte sie zur Seite, bevor sich der Fremde erneut auf sie stürzen konnte. Aber er kam nicht.

Schließlich blieb Magiere still liegen. Ihr fehlte die Kraft, sich aufzusetzen oder gar aufzustehen. Sie bekam starke Kopfschmerzen, aber ihr Blick stabilisierte sich, und sie hörte wieder Geräusche: das Rauschen des Flusses, das leise Knarren von Zweigen und Ästen im Wind, ihr mühevolles Atmen und das Knistern von Kiefernnadeln und Blättern unter ihr, als sie sich bewegte und erneut versuchte, auf die Beine zu kommen.

Als die Schatten über Magiere wieder Substanz gewannen, als sie zu Bäumen und Sternen am Himmel über dem Wald wurden, rollte sie sich schwer auf die Seite.

Zwei glühende Augen starrten aus der Dunkelheit.

Magiere hielt unwillkürlich den Atem an, bis sie eine fleckige Schnauze und Hundeohren bemerkte. Chap richtete einen erwartungsvollen Blick auf sie.

Neben ihm lag eine bleiche Gestalt auf dem Boden. Chap sah darauf hinab und bleckte die Zähne. Ein dumpfes Knurren kam aus seiner Kehle, wurde dann zu einem Jaulen. Der Hund ließ den Kopf hängen und hechelte.

Magiere krabbelte auf allen vieren über den Boden. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre sie meilenweit gelaufen, ohne einmal zu verharren. Als sie sich dem Mann näherte, hielt sie das Falchion zum Schlag bereit, doch ihr Gegner rührte sich nicht.

»Zurück, Chap«, sagte sie mit kratzender, trockener Stimme.

Vorsichtig stieß sie den Mann mit der Klinge an, doch er bewegte sich noch immer nicht. Als sie noch etwas näher kam, sah sie den Grund dafür.

Wo sein Kopf gewesen war, gab es nur einen Halsstummel. Magiere sank zurück, und ihr Falchion fiel schwer zu Boden.

Sie hatte so viele Dörfer gesehen, dass sie sich nicht mehr an alle erinnerte. Jedes Mal schien es einen rationalen Grund für den Tod der Dorfbewohner gegeben zu haben. Bei diesem Dorf lag der Fall nicht anders. Die kalte Haut des Mannes und seine Blässe waren offensichtliche Zeichen einer Krankheit, und das mochte der wahre Grund sein, warum sich Mütter und Väter, Ehegatten und Geschwister bei den Toten versammelten und um ihre Seele beteten. Krankheit brachte oft Wahnsinn, wie bei diesem Mann. Und Magiere hatte ihn getötet.

Der brennende Hunger war fort, ebenso die Kälte, die von dem Verrückten ausgegangen war. Als sie sich an jene seltsamen Empfindungen erinnerte, schauderte Magiere heftig, doch sie nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie hatte einen Bewohner des Dorfes getötet; schlimmer konnte es kaum kommen. Voller Erschöpfung und Verzweiflung hockte sie da, als sie plötzlich ein mattes Licht bemerkte.

Verwundert senkte sie den Blick und sah ihr Topas-Amulett. Sie hatte geglaubt, es weggesteckt zu haben, aber es baumelte über ihrer Lederweste. Es glühte nur sehr schwach, und vielleicht hätte Magiere das gar nicht gesehen, wenn ihr Blick nicht direkt darauf gerichtet gewesen wäre. Sie beobachtete, wie es allmählich verblasste, fragte sich dann, ob es eine Sinnestäuschung gewesen war, hervorgerufen von Erschöpfung und Mangel an Luft.

Magiere sah zum in der Nähe sitzenden Hund, der sie noch immer erwartungsvoll anstarrte.

»Komm her, Chap«, sagte sie. Das Sprechen fiel ihr schwer.

Der Hund lief zu ihr und nahm erneut Platz. Für Magiere war es eine Anstrengung, die Hand zu heben und ihn zu untersuchen. Er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein, hatte nur einige kleine Wunden an den Schultern und Seiten. Das Blut an seiner Kehle stammte aus einem nicht sehr tiefen Schnitt, der keine besondere Aufmerksamkeit erforderte. Erleichterung durchströmte Magiere. Am kommenden Tag würde der Hund Schmerzen haben, aber nach einem solchen Kampf hätte sie Schlimmeres erwartet.

Sie rieb sich den Hals und glaubte zu spüren, dass sich dort Blutergüsse gebildet hatten. Chap stand plötzlich auf, kam noch näher und leckte ihr Kinn und Wange.

»Hör auf«, sagte sie scharf. »Spar dir das für deinen betrunkenen Herrn.«

Chap sprang fort und lief neben dem reglosen Körper auf und ab. Er bellte kurz und nicht besonders laut, sauste dann in Richtung Fluss.

Magiere fragte sich, was diesmal in ihn gefahren war, doch der Blick zum Fluss erinnerte sie an das unmittelbare Problem. Der Horizont wurde hell. Es dauerte nicht mehr lange, bis ein neuer Tag begann – die Leiche musste verschwinden.

Die Zeit reichte nicht, sie zu vergraben, und selbst ein verborgenes Grab konnte gefunden werden, bevor sie Gelegenheit bekam, diese Gegend zu verlassen. Magiere wusste nicht, wie weit sich die Dorfbewohner von ihren Häusern und Feldern entfernten, auf der Suche nach Feuerholz und anderen Dingen, die der Wald für sie bereithielt. Ohne eine Möglichkeit, die Leiche fortzutragen, blieb nur der Fluss. Sie griff nach den Füßen des Toten und zog ihn zum Ufer.

Sein Hemd war zu sehr zerrissen und nützte ihr nichts mehr. Rasch rollte sie lange Grashalme zu Schnüren zusammen, band damit die Hosenbeine zu und stopfte anschließend Steine hinein. Die ganze Zeit über vermied sie es, die Leiche zu genau anzusehen. Es weckte Übelkeit in ihr, die bleiche Haut zu berühren. Sie war so kalt, als wäre der Mann schon länger tot, nicht erst seit wenigen Minuten. Als sie fertig war, drehte sie sich um und wollte in den Wald zurückkehren, um nach dem Kopf zu suchen. Doch sie blieb stehen, gefesselt von einem Anblick, der sie mit neuem Ekel erfüllte.

Sie sah Chap, und der Kopf des Mannes baumelte von seiner Schnauze – die Zähne hielten ihn an den Haaren. Er kam näher, setzte seine Last vor Magiere ab und blickte zu ihr auf.

Sie wusste nicht, was sie mehr verabscheute: den abgetrennten Kopf mit den verblüfft aufgerissenen Augen oder die ruhige Gelassenheit des Hunds einem so grässlichen Objekt gegenüber. Die Übelkeit in ihr wich neuer Kälte, als sie sich daran erinnerte, dass er neben dem Toten auf und ab gelaufen und dann zum Fluss gesaust war. Sie blickte in die großen silberblauen Augen des Hunds.

Ihm war klar gewesen, was es zu tun galt, noch bevor sie daran gedacht hatte. Aber er war doch nur ein Hund.

Magiere bückte sich langsam, um den Kopf zu nehmen, wandte den Blick dabei nicht von Chap ab, bis sie schließlich neben der Leiche kniete. Sie verlor keine Zeit damit, über diese unheimliche Entwicklung nachzudenken. Ohne andere Mittel zur Hand band sie den Kopf mit dem langen Haar am Gürtel fest. Dann zog sie den Leichnam zum Fluss, watete bis zu den Oberschenkeln ins kalte Wasser und drückte den Toten unter die Oberfläche und weiter in Richtung Flussmitte.

Die ersten Meter stromabwärts schwamm der Tote, ging dann aber unter. Magiere hörte ein metallisches Klappern von den Bäumen und drehte sich um.

Chap saß am Ufer und sah sie an. Vor ihm lag das Falchion, das sie im Wald zurückgelassen hatte.

»Hör auf!«, rief sie verärgert, platschte an Land und ergriff die Klinge. Als sie sich danach bückte, fühlte sie sich von neuem Schwindel erfasst. Vorsichtig richtete sie sich auf. »Hör auf mit diesen Dingen.«

Chap jaulte leise, neigte den Kopf zur Seite und sah sie an.

Sie sah einen dunklen Fleck an der Waffe. Mit einem Blick auf den Hund trat Magiere zum Waldrand und wischte die Klinge im Gras ab. Sie war gerade damit fertig, als jemand aus dem Wald kam und übers felsige Flussufer schwankte. Leesil.

Er sah sich um, bemerkte Magiere und eilte zu ihr. Zweimal stolperte er, fiel aber nicht. Chap lief mit wedelndem Schwanz zu ihm.

»Ich habe etwas gehört … und du warst nicht da«, brachte Leesil keuchend hervor. »Was ist los? Warum bist du …?« Er sah Magieres derangierte Kleidung, Gras und Blätter in ihrem Haar. Sein Blick glitt zu Chap und erfasste das blutverschmierte Fell. Erschrocken riss er die Augen auf und untersuchte den Hund rasch. Als er keine lebensbedrohlichen Wunden fand, sah er wieder Magiere an. »Was ist geschehen?«, fragte er deutlicher.

Magiere wandte den Blick von seinen blutunterlaufenen Augen ab. Die Sonne stand dicht unter dem Horizont und färbte die Wolken rot. Der Tag hatte noch nicht begonnen, aber sie wusste, dass ihr Leben von jetzt an in eine neue Richtung führte. Als abergläubischer Bauer hätte sie vielleicht von einem Omen gesprochen.

»Ich bin fertig damit, Leesil«, sagte sie. »Es ist vorbei.«

Leesils Augen waren noch immer groß und zeigten eine Mischung aus Überraschung, Verwirrung und Ärger.

»Was ist denn los?«, fragte er. »Wir wollten darüber reden.«

Magiere sah zum Fluss. Die Leiche war untergegangen, aber vielleicht tauchte sie irgendwo wieder auf. Sie dachte an den leblosen Körper, der unter der Oberfläche von der Strömung fortgetragen wurde.

»Ich gehe nach Miiska«, sagte sie. »Kommst du mit?«

In dem Küstenstädtchen namens Miiska herrschte rege Aktivität in einem am Wasser gelegenen Lagerhaus, obwohl die Morgendämmerung noch nicht gekommen war. Der große Hauptraum zwischen den schlichten Bretterwänden enthielt Bierfässer, Weizensäcke und Wolle auf der Importseite, getrockneten Fisch und einige Handwerksprodukte auf der Exportseite. Kisten, Fässer und zusammengeschnürte Bündel wurden hinein- und herausgetragen, von Schreibern in Listen verzeichnet. Trotz der offenen Türen roch das Lagerhaus nach ölimprägnierten Seilen, verwittertem Holz, Metall, Schweiß von Mensch und Tier und nach all den Dingen, die in den letzten Tagen ans Ufer gespült worden waren. Ein kleiner Junge in einem zu großen grünen Hemd und mit einem Schopf graubraunen Haars fegte die ganze Zeit über und versuchte zu verhindern, dass sich zu viel Staub und Schmutz ansammelte. Arbeiter bereiteten die Fracht für einen Lastkahn vor, der den Hafen bei Tagesanbruch verlassen würde. Trotz der allgemeinen Geschäftigkeit sprachen nur wenige Leute miteinander.

Rechts neben der zum Hafen gelegenen Tür, die breit genug war, um einen Karren passieren zu lassen, stand ein hochgewachsener Mann und beobachtete die Arbeit ruhig. Er erteilte keine Anweisungen, überprüfte kaum etwas und schien zu wissen, dass alles zu seiner vollen Zufriedenheit erledigt wurde. Durch seine beeindruckende Größe schien er daran gewöhnt zu sein, auf andere hinabzusehen, selbst auf jene, die nicht kleiner waren als er. Die langen muskulösen Arme steckten in einem dunkelgrünen Kasack und waren verschränkt. Sein dünkelhaftes Gebaren machte deutlich, dass er die Muskeln nicht dem Umstand verdankte, selbst Kisten geschleppt zu haben. Ein bleiches Gesicht ließ das kurze dunkle Haar noch dunkler erscheinen. Die wie Kristall glänzenden hellblauen Augen beobachteten alles gleichzeitig.

»Nein, Jaqua«, ertönte eine Stimme hinter ihm. »Ich habe zwanzig Fässer Wein bestellt und zweiunddreißig mit Bier. Du bringst die Zahlen durcheinander.«

Der Mann richtete seinen Blick ins Innere des großen Raums. Eine braunhaarige junge Frau, nur zwei Drittel so groß wie er, stritt mit dem obersten Schriftführer des Wareneingangs.

»Fräulein Teesha, ich bin sicher …«, begann Jaqua.

»Ich weiß, was ich bestellt habe«, sagte sie ruhig. »So viel Wein können wir derzeit nicht verkaufen. Schick zwölf Fässer zurück. Und wenn der Kapitän des Lastkahns versucht, uns Transportkosten in Rechnung zu stellen … Sag ihm, dass wir uns dann einen anderen Geschäftspartner suchen.«

Der große Aufseher verließ seinen Platz an der Tür und trat näher.

»Gibt es ein Problem?«, fragte er gelassen.

»Nein, Herr.« Der Schriftführer namens Jaqua wich zurück. Sein Gesicht wurde ausdruckslos, doch er schloss die Finger beider Hände so fest um das Listenbrett in seinen Händen, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Teesha lächelte und zeigte dabei kleine weiße Zähne. Ohne Verunsicherung blickte sie zu ihrem großen Partner auf.

»Nein, Rashed. Nur ein Fehler bei der Weinbestellung. Die Sache wird in Ordnung gebracht.«

Rashed nickte, blieb aber stehen, und Jaqua eilte fort, um den Fehler zu korrigieren.

»Er hat in letzter Zeit mehrere Bestellungen durcheinandergebracht«, sagte Teesha. »Vielleicht probiert er den Wein zu oft.«

Rashed erwiderte ihr Lächeln nicht, was die junge Frau keineswegs beunruhigte. Nur wenige hätten sie schön genannt, doch in ihrem puppenhaften Gesicht gab es eine besondere Heiterkeit. Männer, die ihr begegneten, veranlasste sie, einen Moment später an Heirat zu denken. Rashed wusste, dass ihr Äußeres nur eine Maske darstellte, aber er fand ihr Erscheinungsbild ebenso angenehm wie alle anderen. Außerdem mochte er ihre Gesellschaft.

»Ersetz Jaqua durch jemand anders, wenn du ihn nicht magst«, sagte er.

»Oh, sei nicht so streng. Ich möchte ihn nicht ersetzen. Ich …« Teesha unterbrach sich mitten im Satz und sah ihn an.

Rashed starrte zur Nordwand des Lagerhauses und umklammerte mit einer Hand seine Kehle. Kalte Taubheit erfasste ihn. Es war viele Jahre her, seit er zum letzten Mal Schmerz gefühlt hatte, und die Rückkehr der Pein erstaunte ihn. Die Gedanken verblassten, noch bevor sie sich ganz in seinem Bewusstsein bilden konnten.

Er trat näher zur Wand, drehte sich und lehnte den Rücken an eins der Bretter. Die kalte Linie an seinem Hals reichte bis zum Nacken.

Teesha griff nach seinem Arm, sanft erst. Dann drückten ihre Finger zu.

»Rashed … was ist los?«

»Teesha«, brachte er leise hervor.

Ihre kindlichen Hände hielten ihn fest und verhinderten, dass er zur Seite kippte. Als er begann, in sich zusammenzusacken, zog sie ihn hoch. Teesha war stark, stärker als jeder Mann im Lagerhaus, doch das wusste niemand. Sie schlang einen Arm um Rasheds Taille und führte ihn durch eine Seitentür, aus dem Blickfeld argwöhnischer Augen. Draußen versuchte er, aus eigener Kraft auf den Beinen zu bleiben. Er spürte, wie ihre Hände sein Gesicht berührten, und blickte in ihre besorgten Augen hinab.

»Was ist los?«, fragte sie erneut.

Eine Welle aus Kummer spülte über ihn hinweg, gefolgt von Zorn. Ein bleiches Gesicht mit tief in den Höhlen liegenden Augen und eingefallenen Wangen erschien vor seinem inneren Auge, löste sich dann auf und verschwand. Rashed starrte über die Gebäude hinweg zum Wald und zum Horizont im Nordosten.

»Parko ist tot«, flüsterte er, so bestürzt, dass er nicht laut sprechen konnte, und zu zornig, um es deutlich zu sagen.

Teesha runzelte die Stirn. »Aber wie kannst du das wissen?«

Rashed schüttelte kurz den Kopf. »Vielleicht weil er einmal mein Bruder war.«

»Du hast nie eine so starke Verbindung zu ihm gefühlt, nicht einmal bevor er uns für den Wilden Pfad verließ.«

Rashed senkte den Blick zu Teesha, und Zorn überwog alle anderen Empfindungen.

»Ich habe es gespürt. Jemand hat ihm den Kopf abgeschnitten und … etwas Nasses … fließendes Wasser.«

Teesha sah ihn groß an, für einen Moment wie erstarrt, und durch ihre Hände fühlte Rashed ihr Schaudern. Rasch zog sie die Hände von seinem Gesicht zurück, wie angewidert von dem, was er beschrieben hatte. Dann beugte sie sich vor, bis ihre Stirn seine Brust berührte.

»Oh Rashed … Es tut mir leid.«

Er blickte erneut zum nordöstlichen Horizont, und einmal mehr wogte Kälte durch ihn. Es beunruhigte ihn, auf eine halb vergessene Art und Weise – es war Jahrzehnte her, seit er zum letzten Mal so etwas wie Kälte gefühlt hatte.

»Wir müssen herausfinden, wer es getan hat. Wo ist Edwan?«

»In der Nähe.« Teesha schloss für ein oder zwei Sekunden die Augen. »Auch mein Mann sagt, dass es ihm leidtut.«

Rashed ging nicht darauf ein.

»Schick ihn los. Sag ihm, er soll den Verantwortlichen finden und mir seinen Namen bringen. Sag ihm, er soll im Nordosten suchen.« Rasheds Blick kehrte aus der Ferne zurück. »Sag ihm, er soll sich beeilen.«

In ihrer Nähe erschien ein mattes Schimmern in der Luft, wie Licht, das aus der rissigen Klappe einer Laterne kam. Teesha wandte sich dem Glühen zu, und ihre Lippen bewegten sich, als würde sie sprechen, ohne das ein Wort zu hören war. Das Licht verschwand wieder.