13

Manche Vampire schlafen tiefer als andere. Rashed sprach nie darüber, aber ihm fiel es schwer, nach Sonnenaufgang nicht sofort zusammenzubrechen, und bis zum nächsten Einbruch der Nacht erinnerte er sich kaum an etwas. Vielleicht war es eine persönliche Besonderheit, die nicht alle Untoten betraf, nur ihn. Er sah darin eine Schwäche, hatte bisher aber noch keine Abhilfe gefunden.

Er schlief noch immer tief, als etwas sein Bewusstsein berührte, das fast wie der Traum eines Sterblichen war. Etwas Unsichtbares schien ihn aus der Dunkelheit zu beobachten. Rashed sah in der Nacht besser als ein Sterblicher, aber auch er brauchte dafür ein wenig Licht. Diese Schwärze konnte nicht einmal sein Blick durchdringen. Trotzdem fühlte er die Präsenz in der Finsternis: Sie bewegte sich, glitt zur Seite und versuchte, ihn von hinten zu erreichen.

Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr an Träume gedacht – solche Dinge blieben den Sterblichen vorbehalten. Aber was berührte sein Selbst? Plötzlich überkam ihn Furcht, und seine Lider zuckten nach oben.

Im gleichen Augenblick wurde der Deckel vom Sarg gezerrt.

Das Licht einer Fackel erhellte die Höhle hinter einer schattenhaften Gestalt – genug Licht für Rashed, alle Einzelheiten zu erkennen. Die Jägerin stand vor dem Sarg, mit einem zugespitzten Pflock in der Hand. Sie zögerte überrascht, stieß dann mit dem Pflock zu.

Zorn ersetzte die Furcht, und Rashed knurrte, als er das Handgelenk festhielt – die Spitze des Pflocks verharrte über seiner Brust. Ärmel und Arm der Jägerin waren feucht, und seine Hand begann zu dampfen.

Rashed stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus, ließ los und trat zu. Sein Fuß traf die Jägerin unter der Brust, und sie taumelte zurück. Sofort rollte er aus dem Sarg und kam auf die Beine. Was hatte sie getan?

Ein stechender Geruch stieg ihm in die Nase und brannte in den Augen. Knoblauch.

Er erinnerte sich an Rattenjunges Klagen darüber, was die Alte in der Taverne mit ihm gemacht hatte. Die Jägerin hatte sich mit Knoblauchwasser bespritzt.

Rashed konnte den linken Arm wieder ein wenig bewegen, aber nicht gut genug für den Kampf, und jetzt war seine rechte Hand verbrannt. Die Jägerin nahm den Pflock in die linke Hand und zog mit der rechten das Falchion. Rashed reagierte sofort und biss die Zähne zusammen, als er mit der verbrannten Hand das eigene Schwert zog.

Die Frau war schmutzig, und lose Strähnen ihres dunklen Haars klebten am blassen Gesicht – sie schien durch Dreck gekrochen zu sein. Aber ihre Züge brachten eisenharte Entschlossenheit zum Ausdruck. Sie war eine Jägerin, kein Zweifel. Mit kalter Erbarmungslosigkeit war sie in sein Zuhause eingedrungen, um ihn und die Seinen zu töten. Seit der Nacht von Corisches Tod hatte er keine echte Wut mehr gefühlt, aber jetzt füllte sie ihn ganz aus.

Ein Hund mit silbrigem Fell heulte und knurrte auf der anderen Seite der Höhle – ein Mann mit rotem Haar und rotem Bart hielt ihn dort zurück. Neben ihnen kniete der Halbelf mit dem hellen Haar und lud eine Armbrust.

»Rattenjunge!«, rief Rashed. »Wach auf!«

Die Jägerin sprang auf ihn zu und schwang ihr Falchion. Zu seiner eigenen Überraschung parierte Rashed den Hieb nicht, sondern wich zur Seite aus – er ließ sich von seinem Instinkt leiten. Auf keinen Fall durfte er sich von jener Klinge berühren lassen. Wenn er noch einmal ernsthaft verletzt wurde, war er erledigt, und dann gab es niemanden mehr, der Teesha beschützte. Er musste die Jägerin bezwingen – das war seine erste und einzige Priorität. Er beabsichtigte, sie in den Tunnel zurückzutreiben, wo sie nicht mit dem Falchion ausholen konnte und seine Kraft ihm einen Vorteil gab. Doch die vom letzten Kampf stammende Wunde in seiner Schulter brannte noch immer. Der linke Arm war fast nutzlos, also musste er mit dem rechten kämpfen. Rashed drehte sich ein wenig und griff an.

»Ja, meine Liebe«, sagte Edwan und blickte auf Teeshas zuckende Lider hinab. »Wach auf. Wir müssen fliehen.«

Sie trug ihr dunkelrotes Samtgewand, fast die Farbe von Wein, und das lockige, schokoladenbraune Haar umgab ihr schönes, ovales Gesicht. Er erinnerte sich noch daran, als sie ihm ihr erstes Lächeln geschenkt hatte. Es war eine der wenigen alten Erinnerungen, die ihm auch nach dem Tod geblieben waren.

Teesha vermied es wie Rashed, direkt auf Erde zu schlafen – sie hatte eine weiße Satindecke auf die Erde ihres Heimatlandes gelegt. Als sie den Sargdeckel hob und sich aufsetzte, wich Edwan zurück. Sie sah ihn blinzelnd an, und er bemerkte, dass die helle Satindecke die Farbe des Kleids noch lebhafter werden ließ.

»Wir müssen fliehen«, wiederholte er.

»Warum?«, fragte Teesha. »Was ist passiert?«

Er begann damit, ihr von dem Fremden in der »Samtrose« zu erzählen, begriff dann, wie dumm es war, mit solchen Schilderungen Zeit zu verlieren. Teesha musste zuerst von der Jägerin erfahren, damit sie mit ihm floh. Rashed kämpfte gegen sie. Mit ein wenig Glück fand der Krieger dabei den Tod – dann hatte Edwan seine Frau wieder für sich allein.

»Die Jägerin ist durch die Tunnel eingedrungen«, sagte er. »Sie hat den Hund, andere Sterbliche und viele Waffen mitgebracht. Wir müssen diesen Ort verlassen.«

Sorge erschien auf Teeshas Gesicht. »Wo ist Rashed? Hast du ihn nicht geweckt?«

»Die Jägerin fand zuerst ihn und Rattenjunge. Sollen sie sich ihr zum Kampf stellen. Komm mit mir, jetzt sofort.«

Teesha kletterte rasch aus dem Sarg und lief in den Tunnel, der zur Höhle des Kriegers führte.

»Nein!«, rief Edwan. Er flog an Teesha vorbei und verharrte vor ihr. »Die Jägerin ist dort. Du läufst auf sie zu. Wir müssen durch die Tunnel auf der anderen Seite entkommen.«

»Zur Seite, Edwan!«, rief Teesha. »Ich muss Rashed helfen. Wir brauchen ihn.«

Edwans Bestürzung wuchs, als sie einfach durch ihn hindurchlief. Er folgte ihr verwirrt und konnte nicht fassen, in welche Richtung sich die Ereignisse entwickelten. Voraus wurden Geräusche lauter: Knurren, Rufe, das Klirren von Stahl. Am Ende des Tunnels, dicht an der Wand, blieb Teesha stehen.

Edwan sah, wie Rashed gegen die Jägerin kämpfte. Jeder Hieb und jeder Schritt brachten sie der Öffnung auf der anderen Seite der Höhle näher. Offenbar wollte der Krieger seine Gegnerin in jenen Tunnel treiben. Auf der rechten Seite, hinter Rasheds Ruheplatz, waren der halbe Elf und ein rothaariger Mann dabei, Rattenjunges Sarg zu öffnen.

Teeshas Blick huschte zwischen der Jägerin und ihren Begleitern hin und her.

»Edwan!«, rief sie. »Hilf Rattenjunge!«

Edwan schwebte hinter ihr. Sie sah ihn nicht einmal an, gab ihm nur einen Befehl: »Nein.«

Teesha drehte sich um und starrte ihn verblüfft an. Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. Als sie erneut in die Höhle sah, hatte Rashed die Jägerin bis auf zwei Schritte an die Tunnelöffnung herangetrieben. Er trat in dem Versuch vor, näher an seine Gegnerin heranzukommen, und schlug kraftvoll mit dem Schwert zu.

Die Jägerin wich nach rechts, schmetterte ihr Falchion auf Rasheds Klinge und zwang sie zu Boden. Einen Sekundenbruchteil später schlug sie mit der anderen Hand zu, die einen Pflock hielt, und traf den Krieger an der verletzten Schulter.

Rashed drehte sich halb um und prallte mit dem Rücken gegen die Höhlenwand, die Brust ungeschützt. Gleichzeitig platzte die obere Hälfte von Rattenjunges Sarg auseinander. Die Jägerin wandte sich zu Rashed, dazu bereit, ihm den Pflock in die Brust zu rammen.

Bevor Edwan etwas sagen konnte, stürmte Teesha los und sprang auf den Rücken der Jägerin. Edwans schöne Frau schrie, als ihre Arme zu dampfen begannen.

Leesil schlich zum unteren Ende des Sargs, die Armbrust nach unten gerichtet – er wollte den Bettlerjungen mit dem ersten Schuss im wahrsten Sinne des Wortes festnageln. Den Riemen des Ausrüstungsbeutels hatte er sich über die andere Schulter geschlungen. Hinter ihm schlug Magieres Falchion gegen das lange Schwert des Edelmannes, aber er konnte sich nicht umdrehen, um zu sehen, wie es seiner Partnerin erging. Er musste darauf vertrauen, dass sie ihren Gegner beschäftigt hielt, so wie sie darauf vertraute, dass er Rattenjunge unschädlich machte. Wenn einer von ihnen versagte, würde der andere einem Angriff von hinten zum Opfer fallen.

Er nickte Brenden zu, der die Fackel in der einen Hand hielt und mit der anderen Chap am Genick gepackt hatte.

»Lass Chap los und heb den Deckel an«, sagte Leesil.

Brenden wollte der Aufforderung nachkommen, doch genau in diesem Augenblick explodierte die obere Hälfte des Sargdeckels – Rattenjunge brach von der anderen Seite hindurch. Leesil war so überrascht, dass er nicht richtig zielen konnte und zurücktaumelte.

Der dreckige kleine Kerl packte Brendens Unterarm und zog, wodurch der Schmied das Gleichgewicht verlor und auf die untere Hälfte des Sargs fiel, genau in Leesil Schusslinie. Chap wich zurück, als Brenden fiel, und die Fackel landete auf dem Boden. Der Sarg blockierte einen Teil ihres Lichts, und Schatten huschten über die Wände vor Leesil.

Die plötzliche Düsternis und Brendens Sturz bedeuteten für Leesil, dass er das Ziel aus den Augen verlor. Rattenjunge stieß sich ab, sprang über das Fußende des Sargs hinweg, drehte sich in der Luft und landete sitzend auf dem Boden.

Leesil richtete die Armbrust auf ihn, aber Rattenjunge trat nach dem Sag, der daraufhin über den Boden rutschte und gegen die Beine des Elfen stieß.

Leesil versuchte vergeblich, sich mit einer Hand festzuhalten; er fiel auf die Seite und rutschte mit dem Oberkörper durch das große Loch im Sargdeckel. Seine Kleidung blieb am gesplitterten Holz hängen, und Rattenjunge war auf ihm, bevor er sich drehen und aufrichten konnte.

Leesil sah in ein bleiches, schmutziges Gesicht mit runden, blutunterlaufenen Augen und einem höhnischen Grinsen. Die langen, spitzen Eckzähne waren ebenso gelb wie die anderen. Leesils Kopf ruckte zur Seite, als er eine Bewegung bemerkte.

Eine klauenartige Hand zuckte nach vorn, verfehlte seine Kehle nur knapp und traf ihn an Mund und Wange. Leesil spürte, wie ihm das eigene Blut übers Gesicht spritzte, bevor er den Schmerz fühlte.

»Niemand wird deine Leiche erkennen«, zischte Rattenjunge.

Leesil tastete nach der Armbrust – sie war ihm beim Fallen aus der Hand gerutscht. Wieder schnellte Rattenjunges Hand nach vorn, und Leesil hob den Arm, um seinen Kopf zu schützen. Mit der freien Hand griff er nach dem Gürtel, auf der Suche nach einem Pflock, einem Stilett oder irgendeiner anderen Waffe.

Das bleiche Gesicht und die Klauenfinger verschwanden in einem silbergrauen Blitz.

Leesil befreite sich aus dem Sarg, rollte zur Seite und stieß gegen die Armbrust.

»Schieß!«, rief Brenden. Er zog sich hoch; Blut tropfte aus einer Platzwunde in seiner Stirn. »Schieß auf ihn.«

Leesil rollte erneut herum und kam halb hoch, die Armbrust bereit, und sah Chap auf Rattenjunge. Hund und Untoter bildeten ein wildes, knurrendes Knäuel aus Zähnen, Gliedmaßen und Krallen – sie bewegten sich so schnell, dass Leesil keine Gelegenheit bekam, auf Rattenjunge zu zielen. Chap biss immer wieder zu, und Rattenjunge verletzte den Hund mit seinen Klauenhänden. Fellfetzen flogen durch die Luft.

»Ich kann nicht. Ich würde Chap treffen«, presste Leesil zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Narr!«, rief Brenden. Er schnappte sich die Fackel und warf sie in Richtung Rattenjunge.

»Nein, nicht …«, begann Leesil und sah, wie die Fackel Rattenjunge an der Hüfte traf. Sowohl der Hund als auch der Untote versuchten, dem Feuer auszuweichen.

Aus dem Augenwinkel sah Leesil, wie der große Edelmann Magiere zur Tunnelöffnung zurücktrieb. Immer wieder schlugen sie mit ihren Klingen aufeinander ein. Magiere zwang das Schwert ihres Gegners zu Boden und traf ihn mit dem Pflock an der verwundeten Schulter. Der Mann drehte sich halb um und stieß an die Wand, und Magiere trat nach vorn, erlangte wieder volle Bewegungsfreiheit. Beide Gesichter waren hassverzerrt – sie schienen nur noch den Kontrahenten zu sehen und alles andere vergessen zu haben. Magiere fauchte, und ihre Lippen wichen zurück, zeigten lange Eckzähne, als sie das Falchion hob, um dem Edelmann einen tödlichen Stoß zu versetzen.

Leesil wollte den Blick wieder auf seinen eigenen Gegner richten, als er einen roten Schemen sah, der sich von hinten auf Magiere stürzte.

Eine Frau. Brenden hatte recht gehabt.

Eine Masse aus braunem Haar und rotem Gewand umgab Magiere, als ihr die Frau auf den Rücken sprang und die Arme um Schultern und Hals schlang. Die Frau schrie, als sie, vom Knoblauchwasser verbrannt, zu dampfen begann. Magiere rammte ihr den Ellenbogen in die Seite, drehte sich halb und stieß ihr das Heft des Falchions ins Gesicht. Die Frau taumelte zurück, und als sie auf den Boden der Höhle prallte, schlug Magiere einmal mit ihrer Klinge zu.

Das kostete sie den Vorteil dem Edelmann gegenüber. Er fand das Gleichgewicht wieder und holte mit seinem langen Schwert aus.

Alles andere verschwand aus Leesils Wahrnehmung.

Er hob die Armbrust und schoss.

Ungeheuer.

Dieses Wort hallte immer wieder durch Magieres Selbst, als sie im Kampf gegen das große Wesen vor ihr angriff, zuschlug und auswich. Nur vage war sie sich seiner körperlichen Erscheinung bewusst, des kurzen schwarzen Haars und der hellen Augen.

Rashed. Sie wusste, dass er Rashed hieß. Der Name erschien einfach in ihrem Bewusstsein, ohne dass sie wusste, woher er kam. Als Zorn und Kraft wuchsen und ihre Kiefer schmerzten, empfing sie kurze Eindrücke von seinem Denken und Fühlen.

Er hielt sie für eine Mörderin, einen Eindringling. Doch sie wusste, was er war.

Ungeheuer, dachte sie erneut und hob das Falchion zum Schlag.

Sein Name spielte keine Rolle. Ihm den Kopf abzuschlagen, nur darauf kam es an. Sie war stark, so stark … Und schnell. Ihr Mund tat weh, und sie konnte nicht mehr sprechen.

Ein fast schriller Schrei erklang, und plötzlich spürte Magiere ein Gewicht auf Schultern und Rücken. Starke dünne Arme schlangen sich ihr um den Hals, und erneut ertönte die heulende Stimme, fast schmerzhaft laut. Dampf und Rauch stiegen auf und nahmen ihr die Sicht.

Magiere stieß mit dem Ellenbogen zu, traf einen weichen Oberkörper und fühlte zufrieden, wie Knochen nachgaben. Als die Arme sie losließen, wirbelte sie herum und schmetterte dem Angreifer das Heft des Falchions ins Gesicht, ohne zu sehen, mit wem sie es zu tun hatte. Sie nahm nur ein rotes Gewand wahr, teilweise in Rauchschwaden gehüllt, und schlug mit ihrer Waffe zu. Die Klinge traf etwas, aber Magiere drehte sich schon wieder um.

Rasheds Schwert kam auf sie zu. Magiere reagierte instinktiv und versuchte, ihm auszuweichen.

Ein Armbrustbolzen bohrte sich in Rasheds Bauch, und die Bewegungsrichtung des Schwerts änderte sich ein wenig. Es fuhr an Magieres Schulter vorbei.

Der Hass in Magiere brannte noch heißer und heftiger. Sie holte mit ihrem Falchion aus, hob es hoch über den Kopf und richtete die Spitze auf das Geschöpf vor ihr.

Das Ungeheuer riss sein Schwert hoch, bevor sie zuschlagen konnte.

Magieres Überraschung war größer als der Schmerz, als die Schneide des Schwerts ihren Hals traf. Hass und Kraft strömten plötzlich aus ihr heraus. Feuchte Wärme rann unter ihre Kleidung über den Körper.

Magiere sank auf die Knie, ließ den Pflock los und griff sich an den Hals, fühlte die gleiche feuchte Wärme zwischen den Fingern.

Rashed wankte einen Schritt zurück und zog den rauchenden Bolzen aus dem Bauch. Dann trat er wieder vor und bleckte in einem höhnischen Grinsen die Zähne.

Leesil senkte den Blick lange genug, um die Armbrust mit einem weiteren Bolzen zu laden. Wenn er zwischen die beiden Kämpfenden getreten wäre, hätte er riskiert, von einer der Klingen getroffen zu werden, und deshalb wartete er auf die Gelegenheit für einen zweiten Schuss. Töten konnte er den Edelmann damit nicht, aber vielleicht ließ er sich ein wenig ablenken, wodurch Magiere einen Vorteil bekam. Leesil spannte die Sehne und sah wieder auf.

Magiere kniete auf dem Boden, die Hand am Hals. Ihr Gesicht war keine Fratze des Zorns mehr. Die Augen wurden groß, blickten verwirrt und erschrocken. Blut quoll ihr über die Finger.

»Chap!«, rief Leesil und stellte nicht einmal fest, ob sich der Hund von seinem Gegner gelöst hatte. »Chap, schnapp ihn dir!«

Der Edelmann zog sich den Bolzen aus dem Bauch, so wie es Leesil bei Rattenjunge auf der Straße gesehen hatte. Chap sauste als silbergrauer Schemen an Leesil vorbei, sprang und stürzte sich auf den Mann.

Als sich Leesil abwandte, hörte er mehr als er sah, wie Chap gegen den Edelmann prallte. Es folgte lautes Knurren, das Klirren von Metall, als ein Schwert zu Boden fiel, dann ein zorniger Schrei. Der Elf achtete nicht darauf und konzentrierte sich wieder auf Rattenjunge.

Die Haut des kleinen Untoten war an vielen Stellen geschwärzt, und er blutete aus mehreren kleinen Wunden, als er die letzten an seiner schäbigen Kleidung fressenden Flammen ausschlug. Brenden griff schon wieder an, den längeren in Knoblauchwasser getauchten Pflock in beiden Händen. Der Schmied warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den kleineren Gegner und bohrte ihm den Pflock in die Brust.

Rattenjunge klappte den Mund zu einem Schrei auf, brachte aber keinen Ton hervor. Er erschlaffte nicht etwa im Tod, sondern zappelte wild, schlug mit der einen Hand nach Brendens Kopf und Schultern und griff mit der anderen nach dem Pflock. Brenden war viel schwerer als sein kleiner Widersacher, und trotzdem fiel es ihm schwer, ihn auf dem Boden festzuhalten.

»Du hast das Herz verfehlt!«, rief Leesil. Und dann flüsterte er: »Uns droht der Tod … wir verlieren diesen Kampf … Magiere!«

Die Untoten waren auf dem besten Wege, den Sieg zu erringen. Leesil konnte das Falchion nehmen und versuchen, Rattenjunge oder mit Chaps Hilfe den Edelmann zu erledigen, aber er sah keine Möglichkeit, sie beide schnell genug außer Gefecht zu setzen. Er war kein Schwertkämpfer; mit solchen Waffen kannte er sich nicht aus. Und selbst wenn er Glück hatte – vielleicht starb Magiere, bevor er Gelegenheit bekam, ihr zu helfen.

Leesil griff in seinen Beutel, holte eine Ölflasche hervor und zerschmetterte sie an Rattenjunges Sarg, den er anschließend mit einigen Tritten näher an den des Edelmanns heranbrachte. Auf diese Weise entstand eine kleine Barriere vor dem Schmied und Rattenjunge, der nach wie vor heftig auf dem Boden zappelte. Die Armbrust noch immer in der einen Hand beugte sich Leesil über die Särge, zog ein Stilett aus dem Ärmel und schnitt die restlichen mit Knoblauchwasser gefüllten Schläuche an Brendens Gürtel auf. Der Schmied hockte noch immer auf Rattenjunge, was für den Elfen bedeutete: Es hatte keinen Zweck zu versuchen, einen Pflock zu verwenden. Er musste es auf diese Weise versuchen und konnte nur hoffen, dass er ein wenig Glück hatte.

Wasser spritzte auf die zappelnde Gestalt am Boden, und Leesil beobachtete, wie Dampf und Rauch aufstiegen. Er packte Brenden am Hemd und zog ihn mit all seiner Kraft auf die Beine.

»Lauf zu Magiere!«, rief er. »Bring sie fort!«

Vom Gewicht des Schmieds befreit griff Rattenjunge mit beiden Händen nach dem Pflock, der sich an der falschen Stelle in die Brust gebohrt hatte. Sein Körper zitterte und erbebte, als das Knoblauchwasser ihn verbrannte. Brenden sprang fort und stürmte zu Magiere.

Mit der Hand, die das Stilett hielt, hob Leesil Brendens Fackel auf und trat zur anderen Seite der aus den Särgen geformten Barriere. Rattenjunge kam auf die Beine und zitterte noch immer, aber aus der ihn umgebenden Rauchwolke war dünner Dunst geworden. Leesil zögerte nicht. Er richtete die Armbrust auf Rattenjunge und schoss, hielt dann die Fackel an die ölgetränkte Stelle des Sargs. Das alte Holz brannte sofort, und Rattenjunge war hinter den Flammen gefangen. Leesil hielt sich nicht damit auf zu sehen, ob der Bolzen den verätzten Untoten getroffen hatte. Er ließ die Armbrust fallen und griff in den Beutel, holte eine zweite Ölflasche hervor.

Auf der anderen Seite der Höhle versuchte der blutbesudelte Chap, den Edelmann in die Enge zu treiben, oder zumindest fort von der Tunnelöffnung und Magiere. Bei Rattenjunge hatte Chaps Strategie darin bestanden, den Untoten von den Beinen zu stoßen und auf ihn zu springen, aber dafür war der Edelmann zu groß und zu schwer. Der Hund musste sich mit dem Versuch begnügen, in die Hände und Beine des Mannes zu beißen. Damit hielt er ihn aber nur ein wenig zurück, und auch nur für kurze Zeit.

Brenden hielt Magiere bereits in den Armen. Er hatte einen Ärmel seines Hemdes abgerissen und ihr damit notdürftig den blutenden Hals verbunden. Der Schmied nahm das Falchion, als er aufstand.

»Geh!«, forderte Leesil ihn auf, wich dann in die Tunnelöffnung hinter ihm zurück und zerbrach die zweite Ölflasche. »Chap, komm!«

Der Hund schnappte noch ein letztes Mal nach seinem Gegner, wirbelte dann herum und sprang mit langen Sätzen zum Tunnel. Der Edelmann folgte ihm, aber Chap war schneller. Als der Hund an ihm vorbeilief, hielt Leesil die Fackel ans Öl auf dem Boden und trat dann schnell in den Tunnel zurück. Vor ihm schossen Flammen nach oben.

»Lauft!«, rief Leesil.

Brenden und Chap brauchten keine zusätzliche Aufforderung. Der Schmied war schon ein ganzes Stück durch den Tunnel, als Leesil zu ihm aufschloss. Er trug Magiere über der Schulter, und Chap hatte vor ihm die Spitze übernommen. An Brendens Rücken zeigte sich bereits Blut aus Magieres Halswunde.

Dunkelheit, Staub und Furcht begleiteten sie.

Als sie die Einsturzstelle erreichten, kroch Chap sofort durch die Lücke. Brenden folgte ihm und zog die reglose Magiere zur anderen Seite. Leesil hörte, wie jemand hinter ihm durch den Tunnel lief. Ihm blieb nicht genug Zeit, sich zu fragen, wie einer der Untoten die Flammen durchdrungen haben konnte.

»Schnell«, drängte er.

Magieres Füße verschwanden durch die Lücke. Leesil warf die Fackel auf die anderen Seite und kroch ebenfalls durch die schmale Öffnung. Als er den Schutthaufen hinunterrutschte, griff er erneut in den Beutel – er hatte nur noch eine Ölflasche übrig. Er nahm die Fackel, zog mit den Zähnen den Stöpsel aus der Flasche, spuckte ihn fort und goss die Hälfte des Öls auf die Bretter im Haufen. Dann stopfte er den Beutel mit den vielen Ölflecken oben in die Lücke und zündete ihn an. Sofort züngelten Flammen in der Öffnung, durch die er eben gekrochen war.

»Das dürfte ihn eine Weile aufhalten«, sagte Leesil und versuchte, keinen Rauch einzuatmen. Mit der halb leeren Ölflasche in der einen Hand lief er los. »Weiter.«

An den Rest der Flucht erinnerte er sich kaum – abgesehen davon, dass Magiere bei jedem Schritt Blut verlor. Brenden lief in dem engen Tunnel so schnell er konnte, und Chaps Hecheln wies darauf hin, dass er der Erschöpfung nahe war. »Lauf, Junge, es ist nicht mehr weit«, sagte Leesil immer wieder. Sein Gesicht brannte von den vielen Kratzern, die Rattenjunge darin hinterlassen hatte.

Als sie die Falltür im Boden des luxuriös eingerichteten Wohnzimmers erreichten, legte Leesil die Fackel und die halb leere Ölflasche auf den Boden und berührte Brenden an der Schulter.

»Überlass sie jetzt mir und klettere hinauf«, sagte er.

Brenden ließ Magiere vorsichtig von seiner Schulter in Leesils Arme gleiten, klemmte sich dann Chap unter den Arm und stieg die Leiter hoch. Der Hund winselte leise, zappelte aber nicht.

Mit mehr Zeit hätte Leesil Magiere zu Boden sinken lassen. Stattdessen lehnte er sich an die Tunnelwand, damit er eine Hand frei bekam und ihren Kopf heben konnte, um einen Blick in ihr Gesicht zu werfen. Es war kalkweiß, und sie blutete noch immer durch den improvisierten Verband. Leesil drückte sie an seine Brust und neigte dann den Kopf, brachte ein Ohr an ihren Mund.

Sie atmete noch, wenn auch kurz und flach.

»Lebt sie?« Brenden beugte sich durch die Öffnung und streckte eine Hand nach unten.

»Ja«, antwortete Leesil.

»Mit dem aufgeschnittenen Hals … Es grenzt an ein Wunder.«

Leesil brachte Magiere zur Leiter und hob ihren Arm, damit Brenden das Handgelenk ergreifen konnte. Er trat mit der Absicht auf die erste Sprosse, Magiere hochzuheben, aber als Brenden mit der anderen Hand ihre Kleidung zu fassen bekam, zog er sie mit wenig Mühe nach oben.

»Es wird alles gut«, flüsterte Leesil der Bewusstlosen zu. »Stirb nur nicht.«

Er nahm Fackel und Ölflasche, kletterte rasch die Leiter hoch. Als er den Tunnel verlassen und die Falltür zugestoßen hatte, lag Magiere wieder über Brendens Schulter.

»Warum hast du die Fackel mitgebracht?«, fragte Brenden. »Wir brauchen sie jetzt nicht mehr.«

Leesil antwortete nicht. Er wollte keine Zeit vergeuden, indem er dem Schmied erklärte, was er vorhatte. Anstatt zum Schacht zu gehen, durch den sie hereingekommen waren, wandte er sich der Tür des Zimmers zu.

»Wir können Magiere nicht durch den Schacht tragen, und deshalb bringen wir sie durch den Haupteingang. Dieser Korridor führt vermutlich ins Lagerhaus. Komm.«

Brendens Augen wurden ein wenig größer, aber er nickte und trat durch die Tür. Chap folgte ihm.

Leesil zögerte nur einen Moment. Es gab keine andere Möglichkeit sicherzustellen, dass ihnen niemand folgte; vielleicht hatten sie Glück, und jene Geschöpfe verbrannten. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob Arbeiter ihr Einkommen und Kaufleute Profit verloren – Magiere hatte dies alles fast mit dem Leben bezahlt.

Er träufelte Öl auf den Läufer und die Falltür, auch auf das Sofa, zündete alles an und lief durch die Tür. Leesil unterbrach seine Flucht nur, um hier und dort Öl an die Wände zu spritzen, bis die Flasche leer war. Als er den Boden des großen Lagerhauses erreichte, wartete Brenden zwischen den Kisten, die für das Verladen auf ein Schiff oder Abholung durch Händler bereitstanden.

Leesil sah sich um und entdeckte einen Stapel mit Kleiderbündeln. Brenden riss die Augen auf, als der Elf die Fackel darauflegte.

»Und jetzt raus«, sagte Leesil. »Suchen wir eine Tür.«

Brenden sah, wie die Kleider Feuer fingen und Rauch aufstieg. »Dort drüben«, brummte er verärgert.

Leesil folgte, als der Schmied zu einer schlichten, ganz gewöhnlich aussehenden Tür eilte. Sie war von innen verriegelt, also wahrscheinlich nicht der Ausgang, durch den die Arbeiter am Ende des Tages das Lagerhaus verließen. Leesil schob den Riegel zurück und trat die Tür auf.

Draußen stellte er fest, dass sich Chap kaum mehr auf den Beinen halten konnte – der Kampf und die vielen kleinen Wunden hatten ihn all seine Kraft gekostet. Leesil bückte sich und nahm den Hund in die Arme. Abgesehen von seinem Gesicht war er nicht verletzt, aber ebenfalls erschöpft. Die Stärke von Panik und Zorn verließ ihn.

»Ich verstehe kaum etwas von der Heilkunst«, sagte Leesil. »Wir müssen jemanden finden, der Magiere helfen kann, und zwar schnell.«

Brenden sah ihn an, und in seinem Gesicht rangen Kummer und Ärger miteinander. »Zu mir. Bei mir zu Hause seid ihr sicherer.«