16

Ellinwood wusste nicht, was er tun sollte, als er den »Seelöwen« verließ und nach Hause in die »Samtrose« eilte. Er musste nachdenken, und das konnte er am besten daheim.

Als er die Sicherheit des luxuriösen Zimmers erreicht und die Tür geschlossen hatte, gab er sich der Panik hin. Was sollte er jetzt machen? Sein erster Gedanke bestand darin, all die prächtigen Möbel um ihn herum zu verkaufen, doch dann fiel ihm ein, dass sie ihm gar nicht gehörten. Sie waren Eigentum der »Samtrose«. Er besaß praktisch nur die teure Kleidung an seinem Leib, die Sachen im Kleiderschrank, ein Schwert, das er nie benutzte, und einige persönliche Dinge wie zum Beispiel Silberkämme und kristallene Fläschchen mit Duftwasser.

Rashed existierte nicht mehr, und das bedeutete: Er würde kein Geld mehr von ihm bekommen.

Der Konstabler sah sich selbst in dem ovalen, von Silber umrahmten Spiegel, und ein Teil der Panik löste sich auf. Er machte eine gute Figur in dem grünen Samt. Sicher, einige Leute hielten ihn für zu dick, aber die Dünnen ließen sich von stattlichen Männern immer leicht einschüchtern. Seit Jahren beherrschte er Miiska. Irgendwie würde er die gegenwärtige Situation überstehen.

Er ging zum Kirschholz-Kleiderschrank, schloss die oberste Schublade auf und sah hinein. Rashed hatte ihn nicht völlig mittellos zurückgelassen; Ellinwood war nicht so dumm gewesen, seine ganzen Einnahmen auszugeben. Wenn er sein Geld für Opiat und Gewürzwhisky einteilte, reichte es für ein halbes Jahr.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Seine Vereinbarung mit Rashed war nicht so einzigartig. Als Konstabler von Miiska wusste er über viele Dinge Bescheid. Vor kurzer Zeit hatte er entdeckt, dass die Frau des wichtigsten Kaufmanns der Stadt ihren Mann mit einem Karawanenführer betrog, der sechsmal im Jahr nach Miiska kam. Wie viel würde sie bezahlen, um ihr Geheimnis zu schützen? Und das Ratsmitglied Devon hatte neulich eine große Summe von den Gemeinschaftsmitteln abgezweigt, um Spielschulden zu bezahlen.

Ellinwoods Gedanken rasten. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Wenn einflussreiche Leute Geheimnisse hatten, waren sie bereit, für Stillschweigen viel zu bezahlen. Er wusste genau, was es zu tun galt.

Aber noch nicht gleich.

Zuerst würde er in der Auseinandersetzung mit Magiere die Taktik ändern und sie loben. Er würde ihr seine volle Unterstützung anbieten – etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig – und auf diese Weise das Vertrauen und die Loyalität seiner Wächter zurückgewinnen. Derzeit war seine Situation nicht sonderlich gefestigt. Ellinwood beschloss, einige Monate lang der ideale, perfekte Konstabler zu sein. Letztendlich änderten sich bei seinem Spiel nur die Namen der Spieler.

Er fühlte sich besser und sicherer, als er die untere Schublade des Kleiderschranks aufzog, das Opiat und den Gewürzwhisky hervorholte. Bisher hatte er sich diese Wonne noch nie am Morgen gegönnt, aber dies war ein besonderer Tag. Er brauchte Trost.

Kurze Zeit später war das Kelchglas gefüllt. Ellinwood lehnte sich im weichen Sessel zurück und nahm den ersten Schluck.

Der Tag verging schnell.

Teesha erwachte als Erste am Abend und setzte sich seltsam desorientiert auf. Dann kehrten die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück – Rashed hatte sie im Bauch dieses alten Schiffes untergebracht.

Er schlief auf dem Boden neben ihr. Sie berührte ihn an der Schulter.

»Rashed, wach auf.«

Er öffnete die Augen. Verwirrung huschte über sein Gesicht, so kurz und schnell, dass Teesha kaum etwas davon bemerkte. Dann setzte er sich ebenfalls auf und wirkte wieder wie ein kompetenter Anführer. Sie hatte gut daran getan, ihn als Oberhaupt ihrer kleinen Familie zu wählen. Aber er konnte so eigensinnig sein. Wie seltsam, dass dies seine einzige Schwäche war. Jetzt sah sich Teesha der schwierigen Aufgabe gegenüber, ihn wieder zur Flucht zu bewegen. Beim ersten Mal war es nicht schwierig gewesen.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

»Ich könnte Nadel und Faden gebrauchen.« Teesha lächelte.

Rashed erwiderte das Lächeln nie, aber sie wusste, dass ihn solche Scherze entspannten. Und dadurch gewann sie Kraft.

Sie sah sich mit größerer Aufmerksamkeit um als am Morgen. Rashed schien dieses Schiff während einer nächtlichen Wanderung gefunden zu haben. Offenbar war die Besatzung nicht in der Lage gewesen, es wieder freizubekommen. Sie hatten es einfach aufgegeben, und jetzt war es fast ganz unter Gebüsch verborgen. Die Planken des Decks waren alt, aber intakt, und es drang kein Tageslicht zu ihnen herein. Der Ort bot so viel Sicherheit, wie man sich unter diesen Umständen erhoffen konnte.

Rashed trat zu Rattenjunge und schüttelte ihn. »Wach auf. Wir müssen gehen.«

Rattenjunge war noch immer schwach. Die vom Hund verursachten Bisswunden hatten sich zwar geschlossen, aber die Mischung aus Feuer und Knoblauchwasser hatte deutliche Spuren hinterlassen. Er brauchte bald wieder Blut.

»Wohin gehen wir?«, wandte sich Teesha an Rashed.

»Zurück zum Lagerhaus.«

»Was? Warum?«

»Weil wir nichts haben und nicht wissen, ob es ganz niedergebrannt ist«, sagte Rashed. »Vielleicht haben die Hafenarbeiter das Feuer gelöscht. In unserem gegenwärtigen Zustand können wir nicht in einer Menge untertauchen, ohne bemerkt zu werden. Wir brauchen Kleidung und Waffen. Alles befand sich im Lagerhaus.«

Teesha schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich. Vielleicht gibt es dort Wächter, die Ermittlungen anstellen. Wir sollten uns noch heute Abend auf den Weg machen. Ich weiß, dass es riskant ist, aber wir können uns unterwegs Blut beschaffen und stehlen, was wir brauchen. Nachdem wir auf unserer Reise einige Häuser besucht haben, sollten wir wieder über alle notwendigen Dinge verfügen.«

Rattenjunge kam auf die Beine. »Das finde ich auch.«

»Wächter sind keine Gefahr für uns«, sagte Rashed.

»Wenn wir verschwinden, halten uns die Stadtbewohner für tot«, beharrte Teesha. »Dann lässt uns die Jägerin in Ruhe.«

Zum ersten Mal richtete Rashed scharfe Worte an sie. »Sie lässt uns erst dann in Ruhe, wenn sie in einem Grab liegt!«

Rattenjunge wich zurück – der Zorn überraschte selbst ihn. Rashed öffnete die Luke.

»Kommt. Wir müssen feststellen, was mit dem Lagerhaus passiert ist.«

Teesha war nicht zornig – derartige Empfindungen konnte sie Rashed nicht entgegenbringen. Aber sein Verhalten verunsicherte sie, und sie wünschte sich, dass er Miiska und die Jägerin weit hinter sich ließ. Ihre Klinge durfte nie wieder in seine Nähe geraten.

Es wäre besser gewesen, wenn sie sich still und leise auf den Weg gemacht hätten. Andererseits: Er war der Anführer, und sie selbst hatte dabei geholfen, ihn in diese Position zu bringen.

Ihr und Rattenjunge blieb nichts anderes übrig, als ihm nach draußen zu folgen.

Rattenjunge schien nicht in der Lage zu sein, Rashed so etwas wie Mitgefühl entgegenzubringen, aber als sie alle die Reste ihres einstigen Zuhauses betrachteten, wurde ihm klar: Sein Gefühl des Verlustes war viel geringer als das des großen Kriegers, dessen Gesicht ausdruckslos blieb.

Es war nichts übrig. Sie hockten hinter einer großen, halb verkohlten Kiste und blickten auf einen großen Haufen Asche. Die Tunnel darunter existierten wahrscheinlich gar nicht mehr. Wenn Rashed nicht den geheimen Gang zum Strand angelegt hätte, wären sie jetzt alle unter herabgestürzten Erdmassen begraben. Oder sie wären vielleicht ebenfalls verbrannt, wie alles andere.

Und genau darin lag Rasheds Dilemma.

Rattenjunge wusste, dass Teesha recht hatte. Sie sollten Miiska noch in dieser Nacht verlassen und die Reise auf der Straße riskieren, unterwegs Blut trinken und sich neu ausrüsten. Aber so sehr er Rasheds arrogantes Gebaren auch verabscheute: Wenn es um ihr Überleben ging, war ihnen ihr Anführer immer einen Schritt voraus.

Es war eine Frage der Motivation. Rashed behauptete, dass sie nur dann wirklich sicher sein konnten, wenn sie die Jägerin töteten. Wenn das stimmte, würde Rattenjunge bleiben und kämpfen. Aber an diesem Abend wirkte Rashed weniger rational als sonst. Es schien ihm mehr um Rache zu gehen. Rache war ein Luxus, und an Luxus war Rattenjunge nicht interessiert.

Und was genau trieb Teesha zur Flucht? Der vernünftige Wunsch nach Überleben? Oder ging es ihr nur darum, Rashed von einem weiteren Kampf gegen die Jägerin abzuhalten? Manchmal glaubte Rattenjunge, dass er Teesha viel besser verstand als Rashed. Ihr Anführer hielt Teesha für ein entzückendes Geschöpf, für das zarte Herz ihrer Gemeinschaft, das geschützt werden musste. Rattenjunge wusste, dass sie zu Anteilnahme und auch Liebe fähig war, aber sie hatte sich immer von ihren eigenen Wünschen leiten lassen und es verstanden, Rashed zu ihrem willfährigen Werkzeug zu machen.

Doch in letzter Zeit war ihr Verhalten schwer zu deuten. Rattenjunge gewann den Eindruck, dass ihre Gefühle für Rashed den Überlebensinstinkt überflügelten.

Und den persönlichen Groll gegen Rashed einmal beiseitegenommen: Rattenjunge wusste, dass er durchaus nützlich war. Außerdem lag ihm nichts daran, allein zu sein. Er wollte, dass die Jägerin keine Gefahr mehr für ihre Existenz darstellte, doch welcher Weg war besser? Sollten sie fliehen oder kämpfen?

Kühler Wind wehte vom Meer, wirbelte dort, wo das Lagerhaus gestanden hatte, schwarzen Staub auf und trug ihn fort.

»Oh Rashed«, sagte Teesha mit aufrichtigem Kummer, als sie die Reste ihres Zuhauses betrachtete. »Es tut mir so leid.«

»Hier finden wir nichts mehr von Wert für uns«, sagte Rattenjunge. »Sollen wir Nahrung suchen, fliehen oder versuchen, die Jägerin zu finden? Ich meine, wir sollten eine gemeinsame Entscheidung treffen, bevor wir irgendetwas unternehmen.«

Teesha schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ihre Sorge um Rasheds geistige Verfassung wurde offensichtlich, und auch Rattenjunges Besorgnis wuchs.

»Ihr seid beide Narren, wenn ihr von ihm eine Entscheidung erwartet«, erklang eine dumpfe Stimme.

Edwan zeigte sich neben Teesha, so grässlich wie immer. Das Erscheinungsbild des Geistes bereitete Rattenjunge kein Unbehagen, aber er hatte in Edwan nie mehr gesehen als eine gelegentlich nützliche Anomalie.

Dies war eine Nacht neuer Reaktionen. Teesha runzelte fast die Stirn.

»Mein Geliebter …«, wandte sie sich an Edwan. »Wir sind in einer ziemlich unangenehmen Situation. Es wäre mir lieber, wenn du uns helfen könntest.«

»Die Jägerin ist kein Scharlatan«, sagte er zornig. Sein langes blondes Haar wogte, als der abgetrennte Kopf in Bewegung geriet. »Sie ist ein Dhampir, dazu geboren, Untote wie euch zu jagen. Ihr werdet sie nicht besiegen. Wenn ihr bleibt, sterbt ihr alle einen absoluten Tod und leistet mir Gesellschaft.«

Rashed wandte sich schließlich vom niedergebrannten Lagerhaus ab. »Woher willst du das wissen?«, fragte er den Geist. »Jedes Mal, wenn wir miteinander reden, hast du mehr tragische oder kritische Neuigkeiten für uns.«

»In der ›Samtrose‹ wohnt ein Fremder. Er weiß über viele Dinge Bescheid. Ich habe gehört, wie er der Jägerin sagte, dass sie ein Dhampir ist.« Edwans Worte wurden undeutlicher. Rattenjunge wusste, dass die Kommunikation auf körperlichem Niveau dem Geist mit jedem verstreichenden Monat schwerer fiel. »Er ist stark – nicht wie die anderen. Etwas an ihm …«

»Was ist mit den Verletzungen der Jägerin?«, fragte Rashed direkt.

»Sie sind kaum der Rede wert«, antwortete der Geist. »Der Elf gab ihr sein Blut zu trinken, und sie heilte wie einer von euch.«

Rashed schüttelte fast traurig den Kopf.

»Dhampire existieren nur in Geschichten. Nachkommen von Sterblichen und Vampiren? Unsere Art kann keinen Nachwuchs zeugen. Das weißt du.«

Rattenjunge war nicht so sicher. »Corische sprach manchmal mit mir, wenn er in gedrückter Stimmung war, und seine Lieblingsthemen waren unsere Stärken, Schwächen und Fähigkeiten. Er sagte mir einmal, dass die Veränderung unserer Körper eine Weile dauert. Ich weiß nicht, warum. Er meinte, in den ersten Tagen nach der Verwandlung wäre es einem Untoten noch möglich, ein Kind zu zeugen oder zu empfangen.«

»Und wenn schon.« Rashed winkte verärgert ab. »Wenn die Jägerin mehr ist als ein Mensch, so wird es noch notwendiger, sie zu töten.«

»Nun, Herr«, sagte Rattenjunge, »vielleicht sollten wir es mit einer anderen Taktik versuchen. Wir beide hätten sie in der vergangenen Nacht getötet, wenn nicht der Halbelf, der Schmied und der verdammte Hund gewesen wären. Niemand sonst in der Stadt wird ihr helfen. Wenn wir ihr die Unterstützung nehmen, steht sie allein da.«

Teesha nickte ernst. Durch einen Riss in ihrem roten Gewand sah Rattenjunge den weißen Bauch.

»Ja, Rashed«, sagte sie. »Wenn wir zuerst ihre Freunde töten und anschließend die Jägerin … Bringst du uns dann von hier fort? Wir können uns an einem anderen Ort ein neues Zuhause schaffen.«

Rashed trat zu ihr, und seine Stimme klang weicher und sanfter, als er erwiderte: »Natürlich. In Miiska können wir nicht bleiben.«

»Jeder von uns nimmt sich einen von ihnen vor«, sagte Rattenjunge. »Dadurch ist die Gefahr geringer, dass uns jemand sieht.«

»Also gut«, entgegnete Teesha fast froh. »Ich übernehme den Schmied … Nein, Edwan, sei unbesorgt. Er lebt allein. Ich singe ihn in einen süßen Schlaf. Er wird gar nicht merken, wie ihm geschieht.«

»Ich knöpfe mir den Halbelfen vor«, sagte Rattenjunge resigniert. »Ich werde ihn mithilfe des Hunds fortlocken. Aber um den Köter zu erledigen, brauche ich vielleicht etwas so Gewöhnliches wie eine Armbrust.« Er lächelte. »Oder eine Axt.«

»Seid ihr beide sicher?«, fragte Rashed. »Ich weiß, es sind nur Sterbliche, aber unternehmt nur dann etwas, wenn ihr den Schmied oder den Elfen allein erwischt.«

»Ich weiß, wie man einen Sterblichen kontrolliert«, erwiderte Teesha.

Das stimmte, dachte Rattenjunge. Sie verstand es auch, Unsterbliche zu kontrollieren.

Rashed wollte das Blut der Jägerin so schnell wie möglich, und Rattenjunge begriff, dass dieser neue Plan einen Sinn ergab.

»Entscheidet«, sagte der große Untote. »Die Freunde der Jägerin sterben jetzt, und morgen kommt sie an die Reihe. Anschließend machen wir uns auf den Weg.«

Edwan hatte bisher stumm zugehört, doch von ihm ging eine Kälte aus, die selbst Rattenjunge spürte, obwohl er sonst gar keine Kälte fühlte.

»Und was machst du, während deine beiden Begleiter die Freunde der Jägerin töten?«, wandte sich der Geist an Rashed.

Der Krieger trat mit ruhiger Entschlossenheit zurück, und der vom Meer her wehende Wind zerrte an seinem Kasack. »Es gibt nur ein Loch im Rumpf dieses Schiffes. Abgesehen davon ist es intakt. Ich werde versuchen, es zu reparieren und ins Wasser zu schieben.«

Zuerst fand Magiere die Vorstellung absurd, an diesem Abend den »Seelöwen« zu öffnen und Gäste zu bedienen. Sie konnte kaum fassen, dass Leesil die Öffnung der Taverne angekündigt hatte.

Caleb kochte schnell eine Lammfleischsuppe, und Leesil kaufte Brot in Karlins Bäckerei. Sie legten den immer noch sehr schwachen Chap auf Leesils Bett und schlossen die Schlafzimmertür, aber er jaulte und kratzte immer wieder an der Tür. Schließlich gab Magiere nach und brachte ihn nach unten. Ihre Wunden waren fast alle geheilt, doch der Hund bewegte sich noch immer langsam und vorsichtig. Solange er still am Kamin lag und vorgab, Wache zu halten, konnte er im Schankraum bleiben.

Als die ersten Leute eintrafen, um Bier zu trinken und zu reden, verbesserte sich Magieres Stimmung ein wenig. Leesils Instinkt hatte sich erneut als richtig erwiesen. Die Taverne verwandelte sich in einen Ort des Lebens, Essens und der Unterhaltung. Letztens hatte sie zu viel Zeit mit dem Tod verbracht.

Die Kundschaft war diesmal ein wenig anders. Es kamen weniger Hafenarbeiter, dafür aber mehr Ladenbesitzer und Markthändler. An Seeleuten mangelte es natürlich nie. Die Frauen mehrerer Fischer machten viel Aufhebens um Leesils Gesicht, und er saugte die ihm geltende Aufmerksamkeit auf wie ein trockener Schwamm Wasser.

Magiere füllte Krüge mit Bier und Gläser mit Wein – die neuen Kelchgläser, die sie von einigen Stadtbewohnern als Geschenk bekommen hatte. Leesil half Caleb, Suppe zu servieren, bis alle satt waren, und dann begann er ein lautes Pharo-Spiel. Nach Magieres Geschmack war es ein wenig zu laut, aber die Gäste schienen es zu genießen.

Die Atmosphäre erinnerte Magiere ein wenig an die eines Erntefestes. Zwar konnte sie nicht daran teilnehmen, aber ein nicht ganz unwillkommenes Gefühl der Zufriedenheit bahnte sich einen Weg durch das schuldbewusste Entsetzen, das sie empfunden hatte, als Geoffry und Aria gekommen waren, um sie zu bezahlen. Miiska war jetzt ihr Zuhause. Ob absichtlich oder nicht: Leesil und sie hatten etwas getan, um die Stadt zu schützen.

Dieser Gedanke veranlasste sie, den Blick vom Bierfass abzuwenden und zur einzigen Person im Schankraum zu blicken, die nicht feierte: Brenden.

Er war den ganzen Tag unter dem Vorwand geblieben, die Taverne für den Abend vorzubereiten, aber Magiere vermutete, dass er einfach nicht nach Hause gehen wollte. Er saß allein da, trank und lächelte gelegentlich und nickte, wenn ihn jemand ansprach. Magiere spürte, wie ihn Trauer erfasste, wenn er anschließend wieder allein zurückblieb. Er hatte sich gewaschen und trug ein langärmeliges weißes Hemd und eine braune Kniehose. Ohne das Leder des Schmieds sah er verwundbar aus. Magiere hätte ihn gern aufgemuntert, wusste aber nicht, wie.

Sie selbst trug das eng geschnürte dunkelblaue Kleid, das ihr Tante Bieja vor vielen Jahren geschenkt hatte. Die Lederrüstung war völlig ruiniert, und Magiere hatte bei Baltzar, einem Schneider in Miiska, eine neue bestellt, aber bis dahin musste sie sich mit diesem Kleid begnügen. Außerdem brachte sie Leesil damit zum Lächeln. Zumindest das war sie ihm schuldig, und sie versuchte, seine zufriedenen Blicke zu erwidern. Und doch … Wenn er sie ansah, erinnerte sich Magiere an seine blasse Haut und das blutende Handgelenk.

Die Tür öffnete sich erneut. Der Bäcker Karlin, Geoffry und Aria kamen herein, von den übrigen Gästen herzlich begrüßt. Die beiden jungen Leute traten zum Pharo-Tisch, um beim Spiel zuzusehen, und Karlin kam zur Theke.

»Du siehst prächtig aus«, sagte er und lächelte.

»Du ebenfalls«, scherzte Magiere.

»Gib mir einen Riesenkrug Bier. Ich trinke nur selten, aber heute Abend mache ich eine Ausnahme.«

»Und warum?«, erwiderte Magiere und fragte sich, ob ihr daran lag, dieses Thema anzuschneiden.

»Das weißt du genau. Unsere Stadt und ihre Straßen sind sicher. Unsere Kinder haben nichts mehr zu befürchten. Vielleicht trinke ich bis zum Morgengrauen.«

So oft Magieres Gedanken auch zu dunklen Orten glitten – die Fröhlichkeit des Bäckers war ansteckend.

»Ich brauche einen ständigen Nachschub an Brot, wenn’s geht«, sagte sie. »Zumindest für eine Weile.«

Karlin nickte, und sein rundes Gesicht glühte.

»Ich habe eine bessere Idee. Arias Vater ist der hiesige Schuster. Er macht gute Geschäfte, aber zu seiner Familie gehören fünf Kinder, und sie können ihm nur begrenzt Hilfe leisten. Das Mädchen ist eine gute Köchin. Du solltest dir überlegen, es in deine Dienste zu nehmen, jetzt da … nun, da Beth-rae tot ist.«

Das gehörte zu den Dingen, die Magiere an Karlin mochte: Er konnte über die Wahrheit sprechen, ohne dabei plump oder gefühllos zu wirken.

»Hat sie Interesse?«

»Ja. Auf dem Weg hierher haben wir darüber gesprochen.«

Magiere nickte. »Ich rede später mit ihr.« Sie zögerte kurz und versuchte, munter zu klingen. »Warum gehst du nicht zu Brenden? Er sitzt dort ganz allein.«

Karlin nahm seinen Krug. »Mache ich.«

Und so nahm der Abend seinen Verlauf.

Die Leute aus Miiska blieben bis spät. Außer den geschäftlichen Dingen hatte Magiere nichts mit Caleb besprochen. Irgendwann während der vergangenen beiden Tage war Beth-raes Leiche fortgebracht und begraben worden, und Magiere schämte sich, weil sie nicht wusste, wo und wann. Sie nahm sich vor, später danach zu fragen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Sie wollte Beth-raes letzte Ruhestätte zusammen mit Leesil besuchen – für ihn war das ebenso nötig wie für sie. Und sie würde dafür sorgen, dass man das Grab regelmäßig mit Blumen schmückte.

Die kleine Rose saß bei Chap am Kamin. Sie trug ihr Musselinkleid und wirkte sehr wach. Die langen blonden Locken waren ungekämmt. Magiere brachte es nicht über sich, das Mädchen ins Bett zu schicken.

Irgendwann nach Mitternacht, als nur noch wenige Gäste übrig waren, stand Leesil auf und wies darauf hin, dass die Taverne jetzt schloss. Damit überraschte er Magiere ein wenig, aber sie war dem Elfen dankbar und half ihm dabei, die letzten Gäste freundlich nach draußen zu schicken – alle bis auf Brenden.

»Was für ein Abend«, sagte Leesil, als er die Tür schloss. »Ich bin fix und fertig.«

Plötzlich war der große Schankraum leer und still. Magiere hörte das Knacken des Feuers, drehte sich um und sah, dass Rose neben Chap auf dem Läufer lag und schlief – die Schnauze des Hunds ruhte an ihrem Hals. Magiere wollte zuerst zu ihr gehen und sie wecken, überlegte es sich dann aber anders. Sollte das Kind dort schlafen. Leesil konnte es später nach oben tragen.

Brenden stand auf. »Ich sollte ebenfalls gehen. Ihr seid müde und braucht euren Schlaf.«

»Ich begleite dich nach Hause«, sagte Leesil. »Lass mich nur die Karten wegräumen. Du solltest die Einnahmen sehen, Magiere. Alle waren in so guter Stimmung, dass ich sie ein wenig geschröpft habe.«

»Ich dachte, du bist müde«, erwiderte Brenden. »Du brauchst nicht mit mir zu kommen.«

»Die frische Luft wird mir guttun. Es ist ein bisschen stickig hier drin.«

Magiere kannte Leesil gut genug, um zu wissen, dass es ihm nicht um frische Luft ging. Offenbar war ihm Brendens Stimmung nicht entgangen.

»Geht nur«, sagte sie. »Wir machen morgen sauber.«

Brenden richtete einen hilflosen Blick auf sie, als wollte er etwas sagen, drehte sich dann um und trat durch die Tür.

Leesil folgte dem Schmied und verharrte kurz auf der Schwelle. »Ich bleibe nicht lange fort«, sagte er.

Magiere nickte nur und schloss die Tür. Woraufhin sie mit Caleb allein war.

Sie fand den Alten in der Küche, wo er den Suppentopf ausspülte.

»Lass nur«, sagte sie. »Soll ich Rose für dich nach oben tragen?«

»Nein, Fräulein«, erwiderte er. Er wirkte wie immer ruhig und gefasst. »Ich kümmere mich darum. Du solltest dich hinlegen und ausruhen.«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Magiere und wünschte sich eine ehrliche Antwort.

»Es wird schon wieder«, antwortete Caleb. »Du weißt, dass die meisten Stadtbewohner dankbar sind, nicht wahr? Ungeachtet aller Konsequenzen.«

»Ja, sie sind dankbar«, sagte Magiere. »Das sind die Verzweifelten immer.«

Caleb sah sie verwundert an, schwieg aber.

»Wie viele Leute wussten, dass sich Untote in ihrer Stadt herumtrieben?«, fragte sie ihn. »Und woher wussten sie davon? Wie hast du es erfahren?«

Die Worte schienen ihn noch mehr zu verwirren. »In einer Stadt von Miiskas Größe verschwindet niemand, ohne Spuren zu hinterlassen. Das gilt insbesondere für Leute wie meine Tochter und Meister Dunction. Vor eurem Eintreffen fand man gelegentlich eine Leiche mit Löchern im Hals oder an der Kehle. Es geschah nicht oft. Manchmal vergingen Monate zwischen zwei solchen Vorfällen. Aber es sprach sich schnell herum. Ich glaube, die meisten Bürger wussten von der Heimsuchung durch etwas Übernatürliches. War das nicht auch in den Dörfern so, denen du deine Dienste angeboten hast?«

Die klaren Linien seines alternden, fragenden Gesichts berührten etwas in Magiere. Sie hatte nie einen Vater gehabt, mit dem sie sprechen konnte, und sie fühlte den Wunsch, Caleb alles zu erzählen. Aber sie wusste, dass sie ihm damit nur zusätzliche Schmerzen bereitet hätte. Seine Frau war tot, und er glaubte, dass ihr Opfer der großen »Jägerin der Untoten« geholfen hatte. Er musste weiterhin davon überzeugt sein, dass Beth-raes Tod dazu beigetragen hatte, Miiska Sicherheit und Freiheit zu geben, dass nie wieder jemand das spurlose Verschwinden einer Tochter oder eines Ehepartners beklagen musste. Magiere war nicht so egoistisch, Caleb seine Illusionen zu nehmen, nur um ihr eigenes Gewissen zu erleichtern.

»Ja«, sagte sie. »Aber für mich ist dies jetzt vorbei, Caleb. Ich möchte nur noch die Taverne führen, zusammen mit dir und Leesil.«

Kühle Luft traf sie beide, als plötzlich die Tür aufschwang.

»Vorbei?«, wiederholte eine fast zornige Stimme. »Wieso glaubst du das?«

Welstiel kam herein, wie ein Lehnsherr, der die Hütte eines Bauern auf seinem Land betrat.

»Caleb …«, sagte Magiere. »Trag Rose nach oben.«

Der Alte zögerte, verließ dann aber die Küche.

»Was machst du hier?«, wandte sich Magiere an den späten Besucher.

Aus irgendeinem Grund schien dies ein sonderbarer Ort für ein Gespräch mit Welstiel zu sein, inmitten von Töpfen, Pfannen und getrockneten Zwiebeln an den Wänden. Zwar hatten sie auf Brendens Hof miteinander gesprochen, aber in ihrer Vorstellung sah sie ihn immer in seinem exzentrischen Zimmer in der »Samtrose«, umgeben von Büchern und Glaskugeln. Nur zwei kleine Kerzen und eine Lampe erhellten die Küche. Die weißen Stellen an Welstiels Schläfen zeigten sich besonders deutlich.

»Ich frage mich, ob du wirklich so dumm bist wie die anderen Einfaltspinsel in dieser Stadt«, sagte er mit tiefer, harter Stimme. »Ich habe erwartet, dass du deine nächsten Schritte planst, aber stattdessen schenkst du den ganzen Abend Bier aus und feierst einen illusorischen Sieg.«

»Wovon redest du da?«, fragte Magiere. »Ich habe genug von deinen kleinen Geheimnissen und rätselhaften Bemerkungen.«

»Wie kannst du glauben, dass die Vampire tatsächlich vernichtet sind? Hast du ihre Körper gesehen?«

Es lief Magiere kalt über den Rücken.

»Leesil hat das Lagerhaus in Brand gesetzt, und es stürzte ein. Nichts kann darin oder darunter überlebt haben.«

»Du bist ein Dhampir!«, erwiderte Welstiel zornig. »Letzten Abend bist du tödlich verletzt worden, und jetzt stehst du hier, gesund. Die anderen heilen noch schneller als du. Sie sind wie die Küchenschaben unter diesen Dielen.« Er trat näher. »Stell dir vor, was sie aushalten können.«

Magiere hielt sich an dem alten Eichentisch fest, auf dem Beth-rae Gemüse geschnitten hatte. Die Müdigkeit senkte sich so schwer auf sie herab, dass sie auf einem Stuhl Platz nehmen musste. Dies durfte nicht sein. Sie hatte geglaubt, alles überstanden zu haben.

»Vielleicht habe ich ihre Körper nicht gesehen, aber ich nehme an, du hast keine Untoten in den Straßen der Stadt beobachtet, oder?«

Welstiels Blick durchbohrte sie. »Kümmere dich um deine Freunde.«

Er drehte sich um, verließ die Küche und verschwand in der Nacht

»Warte!«, rief Magiere.

Sie lief ihm durch die Küchentür nach, doch niemand zeigte sich zwischen der Rückseite der Taverne und dem Wald, der sie vom Meer trennte. Und dann, in einem kristallklaren Moment, hatte Magiere nur noch einen Gedanken.

»Leesil!«

Sie eilte in die Küche zurück und in den Schankraum, nahm dort ihr Falchion.

Als Brenden und Leesil stumm durch die Straßen von Miiska gingen, staunte der Schmied über die vielen Widersprüche, die der Halbelf in sich vereinte: In einem Moment war er ein kaltblütiger Kämpfer und im nächsten eine Glucke. Leesil trug ein grünes Kopftuch, das die spitzen Enden seiner Ohren bedeckte. Er ähnelte jetzt einem schlanken Menschen mit leicht schräg stehenden bernsteinfarbenen Augen. Brenden fragte sich nach dem Grund für das Tuch.

»Warum trägst du das manchmal?« Er deutete auf Leesils Kopf.

»Was meinst du?«, erwiderte der Elf. Dann hob er die Hand zum Kopftuch. »Oh, das. Früher habe ich es die ganze Zeit über getragen. Als Magiere und ich das Sp…, als wir gejagt haben, wollten wir keine Aufmerksamkeit erregen. Sie hielt es für besser, unauffällig zu bleiben, bis wir entschieden, den Auftrag zu übernehmen. Es gibt nicht viele von meiner Art in Strawinien und Umgebung, und deshalb hielt ich meine Ohren bedeckt. Hier spielt es keine Rolle, aber alte Gewohnheiten lassen sich schwer überwinden. Außerdem hält mir das Kopftuch das Haar aus dem Gesicht.«

Über so einfache und kleine Dinge sprachen sie unterwegs. Abgesehen von einigen betrunkenen Seeleuten und Wächtern auf Streife begegneten sie niemandem. Schließlich erreichten sie Brendens Schmiede.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Leesil.

Es fiel Brenden schwer, diese Frage zu beantworten, aber er wollte seinen Freund nicht verletzen.

»Nach dem Tod meiner Schwester habe ich mich sehr über Ellinwoods Verhalten geärgert – der Zorn auf ihn lenkte mich ab. Dann kamt ihr. Während wir suchten, kämpften und versuchten, Rache zu nehmen, hatte alles einen Sinn für mich. Jetzt, da das vorbei ist … Ich habe das Gefühl, dass ich Eliza begraben und um sie trauern sollte. Aber sie liegt bereits in ihrem Grab. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Leesil nickte. »Ich verstehe. Ich glaube, das war mir schon den ganzen Tag über klar.« Er zögerte. »Hör mir zu. Morgen früh stehst du auf, gehst zu Elizas Grab und nimmst Abschied von ihr. Dann öffnest du deine Schmiede und arbeitest den ganzen Tag. Abends kommst du zum ›Seelöwen‹, isst und sprichst mit Freunden. Ich schwöre dir: Nach einigen solchen Tagen erscheint dir die Welt wieder halbwegs normal.«

Brenden schluckte und wandte den Blick ab.

»Danke«, erwiderte er, weil er das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen. »Wir sehen uns morgen Abend.«

Der Elf hatte bereits den Rückweg angetreten, als fehlten auch ihm die richtigen Worte.

»Wenn dir die Pferde ausgehen, denen du Hufeisen verpassen kannst, so hilf mir bei der Reparatur des verdammten Daches«, rief er ihm über die Schulter zu.

Brenden sah dem mit langen Schritten davongehenden Leesil nach, bis der Elf hinter einer Ecke verschwand, betrat dann seine kleine Hütte. Sie erschien ihm seltsam leer, denn es fehlten die meisten Ziergegenstände. Er hatte Elizas Sachen genommen und zur Seite gelegt, weil sie schmerzvolle Erinnerungen weckten. Eine Kerze, die sie im letzten Sommer angefertigt hatte, stand auf dem Tisch, aber er zündete sie nicht an. Als er das Hemd aus der Hose zog, wehten die wundervollen Melodien eines wortlosen Lieds durchs Fenster.

Sang draußen jemand?

Er ging zum hinteren Fenster und sah hinaus. Neben dem Holzstapel stand eine junge Frau in einem zerrissenen Samtkleid. Langes, lockiges Haar, braun wie Kaffee reichte ihr bis zur schmalen Taille. Sie erschien ihm vage vertraut. Herrliche Töne kamen aus ihrem kleinen Mund. Etwas forderte ihn auf, im Haus zu bleiben, aber eine unwiderstehliche Sehnsucht zerrte an ihm. Brenden trat durch die Hintertür und von der Veranda herunter auf den Hof.

Als er sich langsam der singenden Frau näherte, sah er, dass ihre weißen Hände die eines Kindes waren. Doch das eng geschnürte Korsett und die runden Brüste wiesen eindeutig auf eine Frau hin. Das puppenartige Gesicht bot keinen Hinweis auf ihr Alter.

»Hast du dich verirrt?«, fragte er. »Brauchst du Hilfe?«

Die Frau hörte auf zu singen und lächelte. »Ich habe mich verirrt und bin allein. Sieh die Traurigkeit in meinen Augen.«

Er sah in die dunklen, ovalen Augen und vergaß, wo er war. Er vergaß seinen Namen.

»Komm und setz dich zu mir«, sagte sie.

Er sank neben sie und lehnte sich an den Holzstapel. Sie wirkte so zart und gebrechlich, dass er sich fürchtete, sie zu berühren, aber sie neigte zufrieden den Kopf an seine Schulter.

»Du bist so liebenswürdig und rücksichtsvoll«, sagte sie. »Du würdest mir nichts zuleide tun, oder?«

»Nein«, erwiderte er. »Das würde ich nie.«

Sie wandte ihm das Gesicht zu, und ihre Hand berührte ihn am Hinterkopf.

»Oder vielleicht doch?«

Sie hielt ihn fest, mit Händen so hart wie Knochen, und biss ihm in den Hals.

Nein, sie biss ihn nicht, sie küsste ihn, und er wollte, dass sie nicht von ihm abließ. Er entspannte sich, gab sich dem Kuss hin.

Dann schloss er die Augen und sank tiefer in ihre Arme.

Rattenjunge dachte seit Tagen an das schlanke Mädchen mit der hellbraunen Haut. Er erinnerte sich daran, vor dem Fenster gestanden und beobachtet zu haben, wie es schlief. Er hatte seinen Duft genossen, bevor er von Teesha fortgezogen worden war. Jetzt stand er wieder am Fenster.

Rashed wollte bestimmt, dass seine Wunden heilten und er wieder stark wurde, bevor er den Halbelfen und seinen Hund angriff. Ja, ganz bestimmt. Diesmal durfte er nicht versagen, und das bedeutete: Er brauchte seine ganze Kraft. Und um seine ganze Kraft zu haben, musste er Blut trinken.

Das Mädchen hatte langes braunes Haar, das gut zur hellbraunen Haut passte. Als es sich im Schlaf auf die Seite drehte, nahm er den Geruch von sauberem Musselin und Lavendelseife wahr – plötzlich konnte er nicht länger warten.

Er machte nur selten von seinen geistigen Fähigkeiten Gebrauch, abgesehen davon, seine sterblichen Opfer vergessen zu machen. Warum sollte er? Sie waren keine Schwindler oder Betrüger; ihnen ging es um Blut. Aber manchmal bewunderte und beneidete er Teesha sogar um ihre mühelose Jagd. Und wollten sie nicht die Jägerin loswerden und wieder auf Reisen gehen? Vielleicht konnte er seine Fähigkeiten erproben und verbessern. Teeshas Sorge um Rashed drängte ihre Sorge um ihn immer mehr beiseite. Vielleicht war das schon immer der Fall gewesen, und er hatte es nur nicht bemerkt. Rattenjunge wusste, dass er nie Rashed sein konnte. Aber er verfügte über andere Talente. Er sollte sie entwickeln und Teesha damit beeindrucken, wenn sie unterwegs waren. Dieser Gedanke entlockte ihm ein Lächeln.

Gleichzeitig spürte er den unwiderstehlichen Drang, das braunhaarige Mädchen zu besitzen, seine Hand zu berühren und sein Blut zu trinken. Erneut dachte er daran, dass er seine ganze Kraft brauchte.

»Komm«, flüsterte er.

Sie öffnete die Augen, und er projizierte einen Gedanken in ihr Bewusstsein. Draußen gab es etwas Wichtiges. Sie musste aufstehen und es finden. Träumte sie? Aber selbst im Traum musste sie nachsehen und feststellen, was auf sie wartete.

Sie stand auf, eilte zum Fenster und sah hinaus. Als sie nichts entdeckte, beugte sie sich über den Fenstersims.

Rattenjunge packte sie an den Schultern und zog sie nach draußen. Sie schrie nicht, sah ihn nur überrascht an.

Er wollte sie nicht erschrecken und projizierte weiter die Vorstellung, dass sie träumte. Sie leistete keinen Widerstand in seinen Armen, sah ihn nur neugierig an. Eine sonderbare Aufregung erfasste Rattenjunge. Er ließ sich Zeit, nahm den Duft von Lavendelseife an ihrem Hals wahr und einen vagen Fischgeruch, der von den Händen kam. Er strich über ihr weiches Haar und die glatten Arme.

Langsam ließ er sie zu Boden sinken und bohrte seine spitzen Zähne in ihren Hals, während er sie auch weiterhin mit der Macht seines Geistes beruhigte.

Aus einem Reflex heraus drückten ihre schmalen Hände gegen seine Schulter, aber der Moment verstrich, und er spürte, wie sie nach seinem Hemd griff.

Unglaubliche Kraft erfüllte ihn. Dominanz durch blinde Angst war eine Sache, aber dies war ganz etwas anderes – davon hatte Parko nie gesprochen.

Er trank, bis ihr Herz aufhörte zu schlagen.

Sie war jetzt nur noch eine leere Hülle, und Rattenjunge ließ den Körper einfach liegen – er wusste, dass Rashed jetzt keinen Wert mehr auf Geheimhaltung legte. Er blickte auf die Tote hinab und bedauerte, dass die wundervollen Momente vorbei waren.

Dann rückten die Gedanken an den Elfen und seinen Hund in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Sollte er sich Waffen besorgen? Nein, sein verbrannter Leib heilte schnell, und er hatte sich nie stärker gefühlt. Er brauchte keine Dinge der Sterblichen. Lautlos huschte er durch die fast verlassenen Straßen von Miiska und näherte sich dem »Seelöwen«.

Als er die Taverne erreichte, riss er einen Fensterladen auf. Der Hund lag allein im großen Schankraum, neben dem Kamin.

»Hallo, Hündchen, Hündchen«, sang Rattenjunge. Wie hatte der halbe Elf ihn genannt? Chap? »Komm, Chap.«

Chaps großer, wolfsartiger Kopf ruckte nach oben, und der Hund starrte ihn an – mit ungläubigem Erstaunen, hätte Rattenjunge schwören können. Dann fletschte er die Zähne, knurrte zornig und sprang wie erwartet zum Fenster.

Rattenjunge lächelte, als er zum Stadtrand und dem Wald dahinter lief.

Magiere lief durch dunkle Straßen zu Brendens Schmiede, so schnell, dass ihre Lungen zu platzen drohten. Das lange Kleid behinderte sie, aber sie zog es mit der freien Hand hoch und lief weiter.

Die ganze Zeit über hoffte sie inbrünstig, dass Welstiel nicht recht behielt.

Die Wahrheit schmerzte mehr als das Stechen in ihrer Brust. Wie hatte sie glauben können, das keine Gefahr mehr bestand, nur weil Leesil und Brenden davon ausgingen, dass die Tunnel unter dem brennenden Lagerhaus eingestürzt waren? Ihre Beine wurden schwerer, aber sie achtete nicht darauf und stürmte weiter, das Falchion in der rechten Hand.

Voraus geriet die Schmiede in Sicht, und sie rief: »Leesil!« Es war ihr gleich, wen sie weckte.

Die Vordertür war geschlossen. Sie schlug mit der Faust dagegen.

»Leesil! Brenden?«

Niemand antwortete. Magiere versuchte, die Tür zu öffnen – sie war nicht verschlossen.

Sie trat ein, doch in der kleinen Hütte hielt sich niemand auf. Vielleicht waren Leesil und Brenden nicht direkt hierher gegangen? Möglicherweise hatte Leesil beschlossen, den Schmied mit einem Kartenspiel in einer anderen Taverne aufzumuntern.

Magiere versuchte, sich mit diesem Gedanken zu trösten. Ja, Leesil war mit Brenden woanders hingegangen; vermutlich saßen die beiden jetzt irgendwo an einem Pharo-Tisch. Doch ihre Hoffnungen waren ein hysterischer Versuch, sich Sicherheit vorzugaukeln, und das wusste sie auch.

Nein, Leesil hatte gesagt, dass er nicht lange fortbleiben würde.

Als Magiere am hinteren Fenster vorbeiging, bemerkte sie etwas Weißes. Sie drehte sich um und sah Brendens Hemd. Er lag neben dem Holzstapel, nicht weit von den verblassenden Flecken entfernt, die Elizas Blut hinterlassen hatte.

»Nein!«

Sie lief durch die Hintertür nach draußen und ging neben dem Schmied in die Hocke. Seine Haut war weiß, die Kehle dunkelrot und aufgerissen. Sonderbarerweise zeigte sich kein Entsetzen in seinem Gesicht. Ganz im Gegenteil: Es wirkte friedlicher als jemals zuvor. Das rote Haar und das dunkelrote Blut am Hals bildeten einen auffallenden Kontrast zur weißen Haut.

Auf dem Boden zeigte sich nur wenig Blut. Wer auch immer ihm die Kehle zerfetzt hatte: Er schien darauf bedacht gewesen zu sein, jeden Tropfen zu trinken. Magiere versuchte, neutralen Abstand zu dem zu wahren, was sich ihren Blicken darbot, aber sie brachte es einfach nicht fertig.

Brenden war der einzige wirklich tapfere Bürger dieser Stadt gewesen – nur er hatte ihr und Leesil geholfen. Und was hatte ihm seine Tapferkeit eingebracht? Wie war seine Bereitschaft, ihnen Hilfe zu leisten, belohnt worden? Mit dem Tod.

Magiere streckte die freie Hand aus und berührte Brendens Bart. Von dort aus glitt die Hand zur Kehle, und ihre Finger tasteten am Hals entlang, wie in der Hoffung, noch einen Puls zu fühlen. Nichts. Sie wusste bereits, dass er tot war und sie nichts mehr für ihn tun konnte. Diesmal war sie es, die einen Preis bezahlte, und er bestand aus tiefem Kummer.

Magiere erinnerte sich daran, wie er an jenem Morgen vor der Taverne gestanden, Ellinwood den Weg versperrt und ihr Zuhause geschützt hatte.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie ihm zu. »Es tut mir alles so leid.«

Welstiel hatte recht. Sie hätte nachsehen sollen. Sie hätte nach den Körpern der Untoten suchen müssen, um sich zu vergewissern, dass ihre Existenz tatsächlich ausgelöscht war. Stattdessen hatte sie zugelassen, dass Leesil und Brenden einfach nach draußen gegangen waren. Letztendlich war es ihre Schuld.

Magiere ließ ihr Falchion fallen, schlang die Arme um die Knie und schaukelte vor und zurück. Es war zu viel für sie.

Einfach zu viel.

Ein gespenstisches Heulen kam aus der Ferne und weckte Magiere aus ihrer Passivität.

Sie hob ihr Falchion auf, verließ den Hof und lief auf die Straße vor Brendens Schmiede.

Chaps Heulen erklang erneut – der Hund hatte mit der Jagd begonnen.