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Als sie nach einer langen Fahrt mit dem Magnetwagen Rast machten, begab sich Cliff auf die Suche nach Nahrung. Es fühlte sich gut an, den Wagen zu verlassen und sich Bewegung zu verschaffen.

Sofort fiel ihm auf, dass es hier kaum Spuren oder Exkremente von Tieren gab. Er fand einige reife Beeren und Früchte, die nicht an Zweigen wuchsen, sondern direkt an den Baumstämmen, was das Pflücken erleichterte. Mithilfe mehrerer Ausrüstungsgegenstände hatte er einen Giftdetektor improvisiert, der ihnen gute Dienste leistete. An Bord der SunSeeker gab es zu diesem Zweck natürlich weitaus bessere Geräte, aber als sie mit der Eros gelandet waren – vor einer Ewigkeit –, hatten sie nur mit einem Aufenthalt von wenigen Tagen gerechnet.

Der Detektor hielt die violetten Früchte für unbedenklich.

Allerdings lockte ihr Saft kleine Fliegen an, die es anschließend auf die Feuchtigkeit in den menschlichen Augen abgesehen hatten. Sie flogen Cliff in die Ohren und versuchten dort, tiefer zu kriechen. Dutzende von ihnen tanzten in der Luft, und man konnte ihnen nur entkommen – vorübergehend –, wenn man lief.

Auf diese Weise brachte er die Fliegen zu den anderen, die nach den Plagegeistern schlugen. Es wurde so schlimm, dass sie beschlossen, in den Magnetwagen zu klettern und die Fahrt fortzusetzen. Aybe war besonders gereizt, denn die Fliegen hatten ihn mehrmals in den Hals gestochen. Er machte seinem Ärger Luft, indem er erneut »die Leistungsfähigkeit des Wagens« erprobte. Was weitere halsbrecherische Manöver bedeutete. Howard hatte das Magnetfeld in der Nähe des Fahrzeugs gemessen und festgestellt, dass es sich um einen asymmetrischen Dipol handelte, mit einem unter dem Wagen komprimierten Magnetfeld. Voll beladen erreichte das Vehikel nur dann höhere Geschwindigkeiten, wenn sie dicht über dem Boden blieben, und so flogen sie in einer Höhe von nur einem Meter. Je mehr Gewicht, desto höher die maximale Geschwindigkeit. »Man stellt es sich eigentlich anders herum vor«, sagte Howard. »Vielleicht liegt es daran, dass höheres Gewicht eine bessere ›Abstützung‹ des Magnetfelds auf dem Metall im Boden bedeutet.«

Aybe nickte. »Ich schätze, es gibt bereits eingebettete Magnetfelder in der Metallstruktur der Schale.«

»Meinst du die Gitterstrukturen, die wir an der Außenfläche gesehen haben?«, fragte Irma. »Es könnten große Supraleiter gewesen sein. Howard, wie stark ist das Magnetfeld am Boden?«

»So stark, dass ich die Intensität mit meiner einfachen Ausrüstung nicht messen kann. Mindestens hundertmal so stark wie auf der Erde, vielleicht noch viel stärker.«

Nach einer Weile ragte ein Berg vor ihnen auf, ein Höhenzug. Aybe hielt direkt darauf zu.

»Das ist nicht sehr weit von dem Gitter entfernt, das ich entdeckt habe«, sagte Irma. »Vielleicht befindet sich eine Stadt in der Nähe.«

»Sehen wir uns die Sache genauer an«, schlug Howard vor.

Durch die Feldstecher betrachtet sah der Höhenzug ganz normal aus und schien aus Felsgestein zu bestehen. Nirgends zeigten sich Einheimische. Durch einige Schluchten steuerte Aybe sie näher heran.

»Kein Anzeichen von Leben«, sagte er. »Vielleicht hat der Höhenrücken eine strukturelle Bedeutung.«

»Von dort oben haben wir einen besseren Überblick«, sagte Cliff sanft. Er hatte mehr von der Schale sehen wollen, bisher aber keine Möglichkeit bekommen, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Sie hätten ein Flugzeug gebraucht, und davon zeigten sich nur wenige am Himmel.

Aybe steuerte den Magnetwagen über den kahlen, steinigen Hang. An einigen Stellen gab es Einschnitte, und darin glänzte Metall.

»Ich glaube, das Magnetfeld wird hier stärker«, sagte Howard.

Aybe nickte. »Es fühlt sich an, als hätte der Wagen mehr Grip.« Er brachte den Magnetwagen näher zum Boden, und sie kamen schneller voran.

Schon vom Hang des Höhenzugs aus bot sich ihnen ein weiter Blick. Cliff sah Wälder, Grasland und hügelige Gebiete. Es ging immer steiler hinauf, und das Summen und Brummen des Magnetwagens wurde lauter, als sein Antrieb stärkeren Belastungen ausgesetzt war. Cliff fragte sich, woher er seine Energie bezog. Sie hätten den Wagen auseinandernehmen müssen, um es herauszufinden.

Als sie weiter an Höhe gewannen, sahen sie Wolkenberge in der Ferne, wie gewaltige Gebirge aus Watte. Die Schale drehte sich einmal in etwa neun Tagen, und das musste sich auf die Atmosphäre auswirken, auf die verschiedenen Luftströmungen in ihr, die natürlich auch die Wolken betrafen. Cliff hatte die Auswirkungen auf der dünnen Schicht gesehen, die die Atmosphäre begrenzte und daran hinderte, ins All zu entweichen: Kräuselungen und ein langsames Wogen, verursacht von den Bewegungen der Luftmassen darin. Die Dynamik der Atmosphäre führte dazu, dass in manchen Bereichen ausgedehnte violette Gewitterzonen entstanden. Selbst Tornados waren möglich. Wie konnte man Regen und allgemeine Wetterentwicklung bei einer so gewaltigen künstlichen Welt vorhersagen oder gar beeinflussen?

Inzwischen hatte Aybe sie noch weiter nach oben gebracht, und Cliff begriff, dass der Höhenzug die Ausmaße eines Gebirges hatte – einmal mehr spielten ihm die ungewohnten Größenverhältnisse der Schale einen Streich. Sie befanden sich nun über den niedrigsten Wolken, und der Blick reichte noch weiter. Cliff sah vom Rand der Schale in Richtung Astloch und beobachtete das langsame Wabern des Jets, der wie eine rot-orangefarbene Himmelsschlange wirkte. Sein Blick folgte ihm bis zur Öffnung in der Mitte der Schale, wo Dunst ihn daran hinderte, Einzelheiten zu erkennen. Davor erstreckte sich ein viele Millionen Kilometer durchmessender gewölbter Bereich aus Spiegeln.

Cliff wollte sich gerade abwenden, als er etwas bemerkte.

Ein Funkeln und Glitzern fiel ihm auf, und er gewann den Eindruck von Bewegung. Wurden die Spiegel neu ausgerichtet, um den Jet zu verändern und sein Wabern zu stabilisieren?

»Lasst uns dorthin fahren.« Cliff streckte die Hand aus. »Wer auch immer die Geschicke dieser künstlichen Welt bestimmt – er wohnt dort.«

»Wir haben nicht die geringste Ahnung, was uns dort erwartet«, sagte Howard.

»Wir haben überhaupt keine Ahnung!«, entfuhr es Irma.

»Vielleicht brauchen wir einen noch besseren Überblick«, erwiderte Cliff.

»Nach oben«, sagte Aybe.

Der Magnetwagen glitt weiter an den Flanken des Berges empor, der viel höher war, als sie zunächst angenommen hatten. Schließlich machten sie an einer Stelle Rast, wo einige spiralförmige Bäume wuchsen. Ihre großen Blätter eigneten sich als Ersatz für Toilettenpapier und auch dafür, Fische zum Kochen darin einzuwickeln. Terry hatte inzwischen einige Kräuter entdeckt, die ihren Speisen einen angenehm aromatischen Geschmack verliehen. Cliff nahm die Fische aus, die sie in einem kleinen See fingen, und prägte sich dabei die Besonderheiten ihrer Organe und inneren Strukturen ein.

Sie alle genossen die Aussicht. Auf der einen Seite erstreckte sich ein metallisch blaues Meer bis in weite Ferne. Der flache Horizont zu beiden Seiten verschwand im Dunst, und das Meer wirkte nicht konkav, einfach nur gewaltig.

Auf der Erde gab es Geschöpfe, die in den Tiefen der Ozeane lebten, in einer Welt ewiger Finsternis. Hier war es immer hell; die Sonne ging nie unter und ermöglichte allen Lebewesen ständige Orientierung. Die Tiere verkrochen sich irgendwo, um im Dunkeln zu schlafen, mit Ausnahme einiger karnivorer Echsen, die Cliff beim Dösen im Sonnenschein beobachtet hatte.

Terry kam und setzte sich neben ihn, um ebenfalls die Aussicht zu genießen. Sie schwiegen – die Zeit des Smalltalks war längst vorbei. Die endlosen Tage setzten ihnen allen zu. Selbst ihre besonders strapazierfähige Enduro-Kleidung zeigte unübersehbare Abnutzungserscheinungen. Sie machten halt, wann immer sie einen Bach oder See fanden, nutzten dann die Gelegenheit zu einem Bad. Aber die meiste Zeit über stanken sie. Die Männer hatten zottelige Bärte, und Irmas Haar wurde immer länger – wenigstens schützte beides vor dem UV-Licht von Sonne und Jet. Für die Mission der SunSeeker waren nur kräftige, gesunde Individuen ausgesucht worden, doch der lange Aufenthalt im Freien zerrte immer mehr an ihren Kräften. Am schlimmsten war die Aussicht, dass in absehbarer Zeit keine Verbesserung der Situation zu erwarten war.

»Dort«, sagte Terry und zeigte mit dem ausgestreckten Arm. »Das ist schalenaufwärts, nicht wahr?«

»Du meinst höhere Breiten?« Cliff warf einen Stein und beobachtete, wie er unter ihnen über den schiefergrauen Hang tanzte, bevor er in der dunstigen Tiefe verschwand.

»Ja, an den Spiegeln vorbei. Es müssen mindestens hundert Millionen Kilometer von hier sein.«

»Ziemlich weit«, sagte Cliff und war abgelenkt von etwas, das er gesehen hatte. Er hob den Feldstecher vor die Augen und richtete ihn auf die Spiegelzone, dorthin, wo ein buntes Blitzen begonnen hatte. Zahlreiche Spiegel gewannen die gleiche Farbe und formten … ein Bild.

Cliff starrte mit offenem Mund.

»Sieh dir das dort an«, wandte er sich an Terry. »Was erkennst du?«

»Na schön. Ich … Lieber Himmel, das ist ein Gesicht!«

»Nicht nur irgendein Gesicht, sondern das eines Menschen.«

»Was?« Terry schwieg einige Sekunden und hielt Ausschau. »Meine Güte, du hast recht! Es ist das Gesicht einer Frau.«

»Ich kenne sie gut«, sagte Cliff. »Wir kennen sie alle. Es ist Beth.«

»Mein Gott … ja.«

»Und ihre Lippen bewegen sich.«

»Ja. Ich habe früher mal von den Lippen lesen können … Ich glaube, sie sagt ›Komm!‹.«

Cliff stellte fest, dass er den Atem anhielt. »Ich habe mich also nicht geirrt.«

»Komm … zu … mir. Das wird ständig wiederholt.«

Das Gesicht in den Spiegeln sprach die Worte immer wieder. An einigen Stellen – vielleicht dort, wo die Spiegel nicht ganz genau ausgerichtet waren – verschwammen die Konturen wie hinter einem Vorhang flirrender Hitze.

»Bedeutet das, Beth befindet sich in der Gewalt der Vogel-Leute?«

»Wir haben es mit fremden Wesen zu tun, die vielleicht auf eine ganz andere Art und Weise denken. Es könnte eine an Beth gerichtete Nachricht sein, mit der sie aufgefordert wird, zu den Vogel-Leuten zu kommen. Oder die Herren der Schale fordern uns – mich – auf, zu Beth zu gehen.«

»Na so was«, sagte Terry.

Mit gerunzelter Stirn starrte Cliff auf das Bild und die sich wiederholenden Lippenbewegungen. Die Überraschung war so groß, dass er das Gefühl hatte zu schweben. Oft hatte er von Beth geträumt, voller Sehnsucht, und manchmal hatte er sich vorgestellt, dass sie längst tot war, umgekommen in irgendeinem Dreckloch.

»Es könnte auch sein, dass die Nachricht von Beth stammt …«, sagte er langsam und hoffnungsvoll.