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Redwing genehmigte sich eine Mahlzeit 47 mit Granatapfelsoße, synthetischem Fleisch, braunem Langkornreis und reichlich Gemüse. Der Geschmack war scharf und herzhaft wie auch bei den anderen Speisen, aber sein Gaumen hatte sich inzwischen daran gewöhnt und fand ihn langweilig. Er fand keinen Gefallen mehr an den Mahlzeiten, was auch daran lag, dass ihn jede einzelne an die schwindenden Vorräte der SunSeeker erinnerte.

Die Situation war alles andere als stabil. Das beständige Summen und Brummen des Fusionsantriebs war einem Ächzen und Stöhnen gewichen – die Bussardkollektoren gaben sich alle Mühe, genug Brennstoff für den Reaktor einzusammeln. Immer wieder liefen Erschütterungen durchs Schiff und erinnerten den Captain daran, dass die Lage jederzeit kritisch werden konnte. Und als ob das noch nicht genug wäre, musste Redwing fast ständig an die beiden Gruppen auf der Tassenwelt denken, an die Gefahren, die ihnen drohten. Er kam nie zur Ruhe, war immer in Sorge, aber davon durfte er sich den anderen Besatzungsmitgliedern gegenüber natürlich nichts anmerken lassen.

Die Kontaktaufnahme mit der Beth-Gruppe war bisher der einzige Durchbruch. Es lenkte Redwing ein wenig von den ständigen Navigationsproblemen des Schiffes ab und erinnerte ihn daran, dass die ausgeschickte Landegruppe noch nicht verloren war.

Der Captain hob eine Braue, als sich Ayaan Ali an den Tisch im Speiseraum setzte und respektvoll wartete. Sie war Araberin, und normalerweise trug sie Uniform wie alle anderen. Manchmal allerdings erschien sie beim Essen in einem hübschen Gewand und mit smaragdgrünen Ohrringen.

»Ja?«, fragte Redwing. »Gibt es etwas Neues?«

»Wir haben die Hochleistungsantennen zusammengeschaltet.«

»Wie ist Beths Signal?«

»Stark und …«

»Lässt sich ein visueller Kontakt herstellen?«

»Himmel, Captain, wir haben es hier mit einfachen Kommunikatorsignalen zu tun!«

»Zuerst die Antwort auf meine Frage und dann die Beschwerden.«

Ayaan versteifte sich und zögerte einige Sekunden. »Nein, Sir«, sagte sie dann und sprach langsam. »Ich glaube nicht, dass ein visueller Kontakt möglich ist. Dafür fehlt die Bandbreite.«

»Betrifft das Problem allein die Bandbreite oder auch Kohärenz und Stabilität des Signals?«

»Das spielt eigentlich keine Rolle.«

»Verstehe.« Redwing warf einen Blick auf die Berichte und Datenübersichten, die Ayaan mitgebracht hatte. »Gut. Jetzt zu den Beschwerden.«

Ayaan blinzelte und presste kurz die Lippen zusammen. »Keine, Sir. Weder Beschwerden noch Ausreden.«

»Ausgezeichnet.« Redwing gestattete sich ein kurzes Lächeln.

Ayaan übertrug ein Diagramm auf sein Tablet – es zeigte die neue Anordnung der Antennen. »Wenn wir alles richtig eingestellt haben, sollte ein regelmäßiger Komm-Kontakt möglich sein.«

»Können wir uns dann auf die Suche nach Cliff machen?«

»Ja, aber denken Sie daran: Wir wissen nicht, über welche Ausrüstung sie verfügen.«

»Ich schätze, Cliff und seine Leute haben ebenfalls einfache Kommunikatoren.«

»Die Frage ist, ob sie noch immer darüber verfügen. Bisher haben wir überhaupt keine Signale von ihnen empfangen.«

Redwing verstand genug von Technik, um zu wissen: Es war ein ziemlich großes Problem, alle Mikrowellenantennen der SunSeeker zu bündeln. Mithilfe von Software und Hardware mussten die einzelnen Antennen zu einem Gesamtsystem zusammengeschaltet werden, was bereits schwer genug war. Richtig kompliziert wurde es, weil dabei auch noch die Eigenbewegungen des Schiffes und die Rotation der gewaltigen Schale berücksichtigt werden mussten.

»Sie leisten großartige Arbeit, Ayaan. Mir ist klar, vor welchen Problemen Sie stehen. Halten Sie weiterhin nach Signalen von Cliffs Gruppe Ausschau.«

Ayaan nahm die Worte erstaunt zur Kenntnis – Redwing ging mit Lob sehr sparsam um.

Redwing nickte, stand auf, verließ den Speiseraum und ging zur Brücke, wo er mit zielstrebigen, kraftvollen Schritten – für die Augen der Crew bestimmt – vor den Hauptschirm trat. Er zeigte nicht nur Bilder von der Tassenwelt, sondern auch Datenkolonnen und schematische Darstellungen. Eine Anzeige wies auf etwas hin, das Redwing auch fühlte: Er hatte die Anweisungen erteilt, die zentrifugale Gravitation auf einen Wert von 0,8 g zu bringen – damit jeder von ihnen an die Schwerkraftverhältnisse des Artefakts gewöhnt war, sollte eine zweite Landung erforderlich werden.

Aber bevor Redwing eine entsprechende Anweisung erteilte, wollte er genau wissen, wie die Lage bei Beth und Cliff beschaffen war.

Eine weitere Erschütterung erfasste die SunSeeker. Der Captain nahm sie zum Anlass, sich umzudrehen und zur technischen Station zu gehen.

»Wie sieht es mit der Induktionsspule aus?«, fragte er den Piloten, einen jungen Mann namens Jampudvipa, den alle Jam nannten.

»Sie stottert. Ich habe sie wieder stabilisiert und benutze die dreistufigen Schubmodule. Wir bekommen kaum genug Plasma, um das System vor Störschwingungen zu schützen.«

»Was ist mit Delta-V? Sind wir dazu imstande?«

Jam verzog das Gesicht und zuckte die Schultern. »Vielleicht.«

Der Hauptschirm zeigte die gewaltige künstliche Welt der Schale, besser gesagt: nur einen kleinen Teil von ihr. Der Anblick war immer wieder überwältigend.

Die Landschaft strich bemerkenswert schnell unter der SunSeeker hinweg, denn immerhin flog das Schiff mit einer orbitalen Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern in der Sekunde. Das Terrain präsentierte eine verblüffende Vielfalt: ausgedehnte Wälder, mit einem Grün, das üppiges Leben verhieß; Wolken, die in einer Höhe von hundert Kilometern über flache Meere hinwegzogen; relativ kleine Wüsten aus goldenem Sand; zu beiden Seiten von niedrigen Hügeln gesäumte Flüsse; und Wirbelstürme größer als die Kontinente der Erde. Es war eine überaus beeindruckende Geografie, eine riesige künstliche Welt, konzipiert und geschaffen von … wem?

Redwings Blick glitt zu den Kommunikationsanzeigen. Beths Signalstärke betrug derzeit null, aber vorher war es gelungen, für einige Minuten einen Kontakt herzustellen. Damit Beth in Reichweite blieb, mussten Redwing, Jam und die gertenschlanke blonde Kopilotin Clare Conway den Kurs des Schiffs ständig korrigieren. Aber der Sonnenwind war hier sehr schwach, gerade stark genug, dass die Induktionskammern nicht automatisch abschalteten. Der Weltraum war überall ziemlich leer, doch der Sonnenwind des roten Sterns blieb sehr dünn, noch dünner als bei Sol. Alle Sonnen bliesen Plasma ins All, aber bei diesem roten Stern wurde es irgendwie in den Jet geleitet. Vermutlich handelte es sich um eine Art magnetische Bündelung, doch das Wie blieb den Technikern und Ingenieuren ein Rätsel. Das ganze Artefakt verspottete alle bisherigen Leistungen der Menschheit – selbst die SunSeeker war im Vergleich dazu ein Nichts. Eine kolossale Schale, die so schnell rotierte, dass sie alle neun Tage eine Strecke zurücklegte, die der irdischen Umlaufbahn entsprach.

Jams Aufgabe bestand darin, das Schiff so nahe bei der Atmosphäre der Schale zu halten, dass sie Beths schwache Signale empfangen konnten. Er brachte sie so dicht heran, dass die Landschaften unter ihnen flach erschienen: eine endlose blau-grüne Fläche mit weißen Wolkentupfern, Hunderte von Kilometern hoch. Alles erstreckte sich im ewigen Schein von Sonne und Jet, die unterschiedliches Licht auf die riesige künstliche Welt warfen.

Redwing sah die Anspannung in Jams Gesicht, obwohl der Mann versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie lange können wir diesen Tanz fortsetzen?«

»Einen Tag noch, vielleicht auch zwei.«

»Und dann?«

»Dann müssen wir das normale Triebwerk verwenden.«

»Wir können es uns nicht leisten, Treibstoff zu verbrennen.«

»Ich weiß.« Jams wässrige Augen musterten Redwing. »Aber ich kann die Gesetze der Himmelsmechanik nicht ändern.«

»Das bedeutet für mich so gut wie gar nichts, Jam. Es wird Zeit, dass wir uns ein bisschen den Kopf zerbrechen, um mit unseren Leuten in Kontakt zu bleiben.«

Fast hätte Redwing mit meinen Leuten gesagt, aber das hätte falsch geklungen, zu besitzergreifend. Er musste ernst und konzentriert wirken, über den Dingen stehend. Vom Captain erwartete man, dass er vor allem das größere Bild im Auge behielt.

Um Jam ein wenig Zeit zu geben, ging Redwing erst durch den Kontrollraum, wo er auf die einzelnen Schirme und Displays blickte, und dann über den Rest des Decks. Nur wenige Besatzungsmitglieder saßen an den einzelnen Stationen – die meisten befanden sich nach wie vor im Kälteschlaf, um die Ressourcen des Schiffes zu schonen –, und Redwing grüßte sie mit kühler, distanzierter Freundlichkeit.

Als er die Biologische Abteilung erreichte, zögerte er kurz und trat dann durch die Schleuse. Ein starker Tiergeruch schlug ihm entgegen, und er rümpfte die Nase – ein Schwein war aus dem Pferch entkommen. Es lief zu ihm, quiekte, schnüffelte und furzte. Aber damit noch nicht genug: Es entleerte seinen Darm aufs Deck, drehte sich um und lief fort.

Es kam Redwing nicht in den Sinn, selbst sauber zu machen. Stattdessen rief er die Feldbiologin Condit und zeigte ihr die stinkende Masse auf dem Boden.

Sie zuckte die Schultern. »Tut mir leid, Captain. Das Schwein entwischte mir, als ich mich ums Futter kümmerte.«

»Was fressen die Tiere?«

»Alles. Abfälle von unseren Mahlzeiten, menschliche Hautschuppen, die sich in den Luftfiltern angesammelt haben und so weiter. Sie würden sogar ihren eigenen Kot fressen, wenn wir sie ließen.«

»Vielleicht sollten wir das. Geschähe ihnen recht.«

Condit nickte und schien die Worte ernst zu nehmen. »Das könnte bei der Ernährung helfen, ja. Wir gewinnen achtzig Prozent des Stickstoffs aus unserem Urin, aber es ist viel schwerer, feste Abfallstoffe zu verwerten. Vielleicht sollten wir unsere Ausscheidungen für die Ernährung der Schweine verwenden.«

Ein Teil von Redwing fand Gefallen an dieser Idee. Sollen sie Scheiße fressen! Marie Antoinette hatte recht. Aber er wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck und sagte: »Kümmern Sie sich darum.«

Zurück im Hauptkorridor atmete er dankbar die trockene, schale Schiffsluft und nahm sich vor, seinen schrägen Sinn für Humor besser unter Kontrolle zu halten.

Er hoffte, dass niemand Zugang zu den Aufzeichnungen seines früheren Selbst hatte. Jahrzehnte vor dem Bau der SunSeeker hatte er der ganzen Idee von interstellaren Reisen sehr skeptisch gegenübergestanden, einen ironischen Artikel über das Programm geschrieben und vorgeschlagen, Roboterschiffe mit einer schlichten Anweisung loszuschicken, die lauten sollte: Fertige zehn exakte Kopien dieser Tafel mit deinem Namen unten auf der Liste an und schicke sie zehn dir bekannten intelligenten Spezies. Nach vier Milliarden Jahren wird dein Name auf der Liste ganz oben stehen, und dann herrschst du über die Galaxis.

Ein Scherz, schnell vergessen. Das Auswahlkomitee schien den Artikel nicht gekannt oder nicht beachtet zu haben, als es sich für ihn als Captain entschied. Doch jetzt musste er sich diese Art von Humor verkneifen.

Jam sah auf, als Redwing in den Kontrollraum zurückkehrte. »Captain, ich glaube, wir könnten …« Er zögerte, wie erschrocken von der eigenen Idee. »Vielleicht könnten wir zusätzliches Plasma bekommen, wenn wir uns noch einmal dem Jet nähern.«

»Zu gefährlich. Bei der letzten Annäherung hätte es uns fast erwischt.«

»Ich könnte uns heranbringen, ohne das Schiff ins turbulente Herz des Jets zu steuern.«

Redwing lächelte. Turbulentes Herz – keine schlechte Beschreibung dafür, wie er sich fühlte. »Sie wollen Plasma einsammeln und es bunkern?«

»Das sollte eigentlich möglich sein, wenn wir den Bussardkollektor ein wenig umkonfigurieren.«

»Aber es bringt uns von der Schale weg. Es ist eine ziemlich große Kursänderung.«

»Ich habe alles berechnet, Captain. Wir können es schaffen.«

Jams Blick fügte hinzu: Jetzt sind Sie dran.

»Wir verlieren den Kontakt mit Beth, nicht wahr? Und Cliff konnten wir selbst mit Ayaans Antennengruppe bisher nicht erreichen.«

Jam nickte. »Stimmt, ja. Aber nach dem Jet-Manöver können wir beschleunigen und in zehn Tagen wieder in Reichweite sein.«

»Planen Sie alles«, sagte Redwing langsam. »Ich möchte Ayaan zunächst Gelegenheit zu einem weiteren Versuch geben, Cliff zu erreichen.«

»Ja, Sir.«

Redwing setzte seine Wanderung fort und wünschte sich mehr Möglichkeiten zur Auswahl. Er bedauerte, sich nicht selbst der Landegruppe angeschlossen zu haben – hier meldete sich sein Tatendrang. Andererseits, der Captain traf alle wichtigen Entscheidungen, und deshalb musste er an Bord bleiben, auch wenn es bedeutete, dass er in der SunSeeker festsaß, zum Abwarten verurteilt.

Während der Vorbereitung auf die Mission hatte er an Veranstaltungen teilgenommen, bei denen frühere Konzepte der interstellaren Raumfahrt erklärt worden waren. Redwing hatte es als komisch und auch erschreckend empfunden. Bei einer aus der Ära des Übermaßes stammenden Darbietung war es um einen schneidigen Captain gegangen, der sich immer auf die Oberfläche von Planeten begab, um die neuen Welten selbst zu erforschen, ohne dass irgendjemand dieses Verhalten infrage stellte. Hinzu kamen viele andere absurde Vorstellungen, wie zum Beispiel überlichtschnelle Raumfahrt (und das nach Einstein!), Englisch sprechende Außerirdische und bequeme Teleportation, wenn man das Schiff verlassen wollte. Niemand erklärte, warum dies nicht zu einer Ökonomie mit unbegrenzten Ressourcen führte. Immerhin hätte der Transporter ebenso gut Nahrungsmittel, nützliche Gegenstände oder Geld produzieren können, denn schließlich war er imstande, Menschen zu kopieren.

Auch die Menschen im Zeitalter des Übermaßes hatten von den Sternen geträumt, ohne sich groß zu fragen, wie viel Mühsal und Gefahren die Tiefen des Alls bereithalten konnten.

Redwing rang sich ein Lächeln ab, richtete aufmunternde Worte an die Besatzungsmitglieder und behielt seine Gedanken für sich.