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Mit dem Bussardkollektor der SunSeeker ließ sich ganz gut bremsen, aber nicht annähernd so gut beschleunigen, stellte Redwing fest.
Das Deck unter seinen Füßen schwankte immer wieder, und das Schiff knackte und ächzte. Die Magnetfelder des Kollektors breiteten sich aus und verschlangen Plasma, das der Fusionsreaktor benötigte, und allmählich wurde das Schiff schneller.
Redwing verabscheute die Erschütterungen und seltsamen Geräusche, denn sie verunsicherten ihn, entzogen sich seiner Kontrolle. Um die Fluglage stabil zu halten und richtig manövrieren zu können, brauchte die SunSeeker Plasma für Reaktor und Triebwerk. Doch über der künstlichen Welt war die Plasmadichte gering, und deshalb musste der Kollektor neu konfiguriert werden, um ein energetisches Gleichgewicht zu gewährleisten. Was dazu führte, dass das Schiff einem komplizierten Kurs folgte, der es nicht zu weit von der Schale entfernte, damit die schwachen Signale von der Landegruppe – beziehungsweise den beiden Gruppen – empfangen werden konnten.
»Können wir nicht für etwas mehr Stabilität sorgen, Jam?«, fragte Redwing.
Der Blick des schlanken Mannes blieb auf die Kontrollen gerichtet, als er den Kopf schüttelte. »Ich versuche es, Sir. Ayaans neue Anordnung dreht sich, wenn wir die Geschwindigkeit verändern.«
Ayaan saß an einer nahen Station. »Ich bekomme keine Kohärenz«, meldete sie. »Der Antennenfokus lässt sich nicht ausrichten.«
Redwing war kein Techniker und fühlte sich fast fehl am Platz. Bussardkollektor und Antrieb der SunSeeker bildeten ein außerordentlich komplexes System, das Spezialisten erforderte. Die Subsysteme waren mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, die die wichtigsten Kontroll- und Steuerungsfunktionen wahrnahm.
Im Vergleich mit dem Schiff war ein altes Automobil ein Idiot savant, das nur deshalb seinen Zweck erfüllte, weil analoge Rückkopplungen und sich selbst steuernde Netzwerke nach vielen Jahren unablässiger Versuche und auch nach vielen Toten gut genug funktionierten. Autos waren gewissermaßen das Ergebnis einer Fahr-Evolution. Die SunSeeker stellte das Resultat einer zweihundertjährigen Evolution von separater, objektorientierter künstlicher Intelligenz dar. Für sich genommen zeichneten sich die einzelnen KI-Systeme nicht durch besondere Leistungsfähigkeit aus. Eher war das Gegenteil der Fall: Die eingebetteten Systeme kamen nicht an die Kapazität menschlicher Intelligenz heran, waren in manchen Fällen sogar viel »dümmer«. Aber das Ganze, alle KI-Subsysteme zusammengenommen, war mehr als die Summe seiner Teile, und nur das machte die SunSeeker zu einem wahren Sternenschiff, dazu imstande, viele Lichtjahre weit zu fliegen.
Die KI-Systeme des Schiffes bildeten eine eigene Gesellschaft, in der es zu Veränderungen und Weiterentwicklungen kam. Jede künstliche Intelligenz führte ihr eigenes »Leben«, bestimmt von Beschränkungen und Belohnungssystemen, und aus ihren Wechselwirkungen erwuchs eine soziale Intelligenz, das Selbst der SunSeeker. Zu Anfang war es der Gesellschaft der Erde verpflichtet gewesen, aber im Verlauf des jahrhundertelangen Fluges hatte es sich weiterentwickelt. Smarte Netzwerke mussten über eine solche Fähigkeit verfügen.
Und es war auch zu Anpassung imstande.
»Captain, die Subsysteme haben eine Möglichkeit gefunden, die Kohärenz zu verbessern!«, rief Ayaan plötzlich. »So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt.«
Redwing trat hinter ihren Beschleunigungssessel und betrachtete die grafischen Darstellungen auf den Schirmen. Daraus ging hervor, dass sich die smarten Systeme innerhalb von Millisekunden den ständigen Veränderungen in der Flugbahn der SunSeeker anpassten. Ayaans Antennensystem bestand aus Hunderten von Komponenten, und die schnellen Justierungen sorgten dafür, dass sich der Fokus nun viel besser ausrichten ließ.
Die Antennen zeigten Empfangsbereitschaft an und registrierten wenige Sekunden später ein starkes Signal. »Es stammt von Aybes Kommunikator«, sagte Ayaan aufgeregt.
»Übermitteln Sie Beths Biodaten, sobald Sie können.«
»Sie werden bereits übertragen«, erwiderte Ayaan sofort.
»Wie ist die Situation der Gruppe?«
»Aybe hat diesen Text gesendet.«
DEN FREMDEN WESEN ENTKOMMEN.
HABEN DIE WÜSTE VERLASSEN.
SIND DURCH DICHTEN WALD UNTERWEGS.
»Das ist alles?«, fragte Redwing.
»Ich musste das Signal dreimal bearbeiten, um auch nur diese wenigen Worte zu bekommen.«
»Können sie uns Details senden?«
»Ich bitte Aybe, die zu übermittelnde Nachricht abzuspeichern und den Kommunikator auf automatische Sendung einzustellen, sobald er unser Trägersignal empfängt. Auf diese Weise müsste es klappen.«
»Und Audio?«
»Dafür sind die Störungen zu stark. Unter den gegebenen Umständen können wir von Glück sagen, dass diese kurze Textnachricht durchgekommen ist.«
»Unter den gegebenen Umständen?«
»Wenn man berücksichtigt, wie schwach das Signal ist, wie schnell wir fliegen, wie genau die Antennen ausgerichtet werden müssen …«
»Verstehe«, sagte Redwing. »Ausgezeichnete Arbeit, Lieutenant.«
Ayaan lächelte und fügte hinzu: »Ich übertrage den Text direkt an Ihre Adresse.«
»Wenn wir nur mehr Leute hätten, um dies zu analysieren«, sagte Redwing und kam sich plötzlich sehr allein vor.
Ayaan schenkte ihm erneut ein freundliches Lächeln. »Unsere Experten sind dort unten und sammeln Informationen.«
Er nickte und hob den Kopf ein wenig – die Besatzungsmitglieder sollten seine Unsicherheit nicht bemerken. Eine alte Regel: Wenn einem die Leute in die Nasenlöcher sehen können, hält man den Kopf auf der richtigen Alpha-Höhe.
»Hat Aybe die Nahrungsmittelhinweise erhalten?«
»Hab sie gerade übertragen. Hier kommt die Bestätigung für den Empfang und … Verdammt, die Verbindung ist unterbrochen.«
Redwing ging einige Schritte und kehrte dann zu Ayaan zurück. »Bevor sie mit der Eros aufbrachen, meinte Cliff, dass sie vielleicht gar nicht in der Lage wären, etwas von dem zu essen, was die Tassenwelt zu bieten hat. Und jetzt schicken wir ihm eine Art Speisekarte.«
Ayaan lachte. »Ich schätze, das ist eine wichtige Sache.«
»Wirklich?«, erwiderte Redwing. »Ich hätte eher gedacht: Nahrung ist Nahrung.«
»Die meisten Biochemiker halten es für einen historischen Zufall, dass alle unsere Zucker rechtsdrehend sind, die Aminosäuren hingegen linksdrehend. Ebenso gut hätte es umgekehrt sein können.«
Redwing blinzelte. Er vergaß immer wieder, dass die Besatzung des Schiffes aus Multispezialisten bestand. Aus gutem Grund: Der Verlust eines Mannes oder einer Frau sollte nicht die gesamte Mission gefährden.
»Dort unten sieht es offenbar anders aus«, sagte er. »Beth hat von Durchfall und Erbrechen berichtet. Glücklicherweise konnten einige Arzneien aus ihren Medo-Paketen helfen. Cliffs Gruppe ist es vermutlich ähnlich ergangen.«
»Aus Beths Textnachrichten geht hervor, dass der größte Teil ihres Wissens von den Vogel-Leuten stammt.«
Redwing nickte erneut. »Sie wussten, was giftig ist, und vielleicht sind Gifte universell.«
Ayaan musterte ihn aufmerksam, stellte er fest. »Sir, ich verstehe Cliffs Sorgen und auch seinen Vorschlag, die fremde Luft zu untersuchen, um herauszufinden, ob sie für uns schädlich ist.«
»Sie haben die Luft untersucht. Offenbar ist sie unbedenklich für uns.«
»Beth berichtete von Symptomen, die einer Grippe ähneln. Nichts Schlimmes, zum Glück.«
»Vielleicht haben sie sich einfach nur erkältet.«
Ayaan schüttelte den Kopf. »Worauf es mir ankommt … Cliff hat seine Bedenken deutlich zum Ausdruck gebracht, ohne dass Sie ihnen Beachtung geschenkt haben.«
»Das stimmt so nicht ganz. Ich habe der Landegruppe geraten, vorsichtig zu sein. Wir mussten jemanden hinunterschicken, und ein gewisses Risiko ließ sich dabei nicht vermeiden.«
»Ja, und das finde ich so bewundernswert. Sie haben die Entscheidung trotz unserer Sorgen getroffen.«
Redwing überlegte, ob sie sich bei ihm einschleimen wollte. Aber nein, eine solche Frau war sie nicht. »Das ist meine Aufgabe.«
Ayaan strahlte. »Ich bin froh, dass es nicht meine ist.«
»Auch Sie werden nicht umhinkönnen, Entscheidungen zu treffen, wenn diese Situation andauert. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Der größte Fehler besteht darin, sich so sehr vor einer Entscheidung zu fürchten, dass man sie nicht trifft.«
Sie lachten beide, und es fühlte sich gut an.
An jenem Abend lag Redwing in seiner Koje, ließ den Tag noch einmal Revue passieren und dachte an Ayaans Worte.
Auf der Erde hatten die Medien die Meer-Weltraum-Analogie bis zum Abwinken bemüht und Redwings Mission mit der von Captain Cook und Magellan verglichen. Aber jene Seeleute waren mit reichlich Erfahrung aufgebrochen, nach vielen Seereisen, die immer länger geworden waren. Die erste Generation von Sternenschiff-Kommandanten hatte einen großen Sprung machen müssen, von Flügen innerhalb des Sonnensystems, dann zum Kuiper-Gürtel und zum Rand der Oort’schen Wolke, bis schließlich die ersten Reisen über interstellare Entfernungen möglich waren, über hunderttausendmal so große Distanzen. Es war so, als hätte man mit einem kleinen Segelboot in einem drei Fußballfelder großen Becken geübt, um dann plötzlich zu einer Weltumsegelung aufzubrechen.
Bei den ersten Testflügen hatte Redwing ein Bussardkollektor-Schiff bis zur Oort’schen Wolke gebracht, und dabei war es zu keinen nennenswerten Zwischenfällen gekommen. Doch bei all ihren Probeflügen hatte die SunSeeker nur bis maximal auf ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und auch nur für eine Woche. Vor der SunSeeker waren fünf andere Schiffe zu den Sternen aufgebrochen, und während des ersten Jahrzehnts hatte keins von ihnen über Leistungsanomalien des Antriebs berichtet. Was allerdings nicht viel bedeutete. Seit vielen Jahren trafen von der Erde keine Nachrichten mehr ein, aus welchen Gründen auch immer.
Dies war ein völlig fremdes Meer, über das sie segelten, dachte Redwing, und ihm fiel ein: Magellan war an Land gegangen, auf den Philippinen in einen Konflikt verwickelt worden und bei einem Kampf gestorben, den er selbst begonnen hatte. Er war davon überzeugt gewesen, den Engel der Jungfrau Maria auf seiner Seite zu haben, und glaubte deshalb, nicht verlieren zu können, obwohl er einem zahlenmäßig weit überlegenen Feind gegenüberstand. Spätere Generationen benannten eine kleine Galaxis nach ihm, aber er hatte viele dumme Entscheidungen getroffen, insbesondere jene fatale, sich dabei allein von Gefühlen leiten zu lassen.
Woraus man durchaus eine Lehre ziehen konnte.