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Die kleine Primatin lernte erstaunlich schnell. Memor wies ihre Dienstler an, einen Bewusstseinssondierer zu bringen, eine kompakte Version der alten Geräte. Normalerweise wurden solche Apparate von den Gelehrten verwendet, aber in Memors Auftrag hatten die Techdienstler einige Zeit an einem kleineren Modell gearbeitet, das sich bei den Letzten Eindringlingen verwenden ließ.
Hier in den Treibhausterrassen – einem privilegierten Garten mit den Ausmaßen Alter Kontinente – lebten und gediehen zahlreiche unterschiedliche Geschöpfe. Die Astronomen untersuchten sie seit den lange zurückliegenden Anfängen der Reise. Die vom Bewusstseinssondierer erfassten geistigen Vorgänge zeigten die langsamen Fortschritte der Evolution unter den konstanten Bedingungen der Welt, und jetzt konnte diese Technik dabei helfen, Aufschluss über die neuen Fremden zu gewinnen – eine Idee, die Memor gekommen war, als sie ihrem Untergeist erlaubt hatte, sich ganz zu entfalten.
Sie brachte die Übersetzer-Primatin dazu, in die Maschine hineinzukriechen. Es schien ihr zu gefallen, das Gehege zu verlassen. Die Dienstler hatten den Sondierungstunnel beim Eingang des Geheges errichtet, und die Primatin zeigte großes Interesse an der Technik.
Memor sprach sanft, mit gedämpften Lauten und beruhigenden Farbmustern ihres Gefieders. Dienstler kümmerten sich um die vorsichtige Primatin und schnatterten in ihrer einfachen Sprache. Kurze Zeit später war alles bereit.
Das Gerät funktionierte erstaunlich gut. Die Dienstler hatten es bei den auf Bäumen lebenden Affenwesen ausprobiert, bei Lebensformen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Letzten Eindringlingen aufwiesen. Die Primatin legte sich in den Apparat, nachdem ihr versichert worden war, dass er bei den Übersetzungen helfen sollte. Was natürlich nicht stimmte. Aber solche Lügen waren nützlich beim Umgang mit sol-chen nicht besonders intelligenten Geschöpfen. Memor seufzte – eine dumpfe Vibration, die durch ihren ganzen Körper ging.
Die Sondierung zeigte ein erstaunlich fremdartiges Gehirn. Sonderbar, ja. Memors Untergeist erkannte strukturelle Verbindungen und Ähnlichkeiten (wenn auch sehr primitive) mit dem Bewusstsein der Astronomen des Vogel-Volks, das sich in zahllosen Zyklen zur Perfektion entwickelt hatte.
Der Scan schien der Primatin nicht zu gefallen. Sie wurde unruhig, und Memor beobachtete auf den Schirmen, wie Furcht und Beklommenheit zunahmen, sichtbar gemacht durch Verästelungen, wie die eines Blitzes in der geheimnisvollen Wolke eines unbekannten Geistes. Eines … geteilten Geistes.
Memor erlebte das angenehme Zittern einer neuen Erkenntnis. Eine Idee spross wie eine prächtige Blume aus ihrem Untergeist.
Diese unbeholfenen, schwachen Fremden lebten in einer Art Mittelmaß. Ihre Sinne waren ihrem viel kleineren Maßstab angepasst. Natürlich konnten sie keine Bakterien sehen, wohl aber winzige Dinge erkennen. Die größeren Maßstäbe der Welt entzogen sich ihnen, vermutlich deshalb, weil sie sich auf einer gravitationellen Masse entwickelt hatten, wie Memors Vorfahren. Ihr beschränkter Horizont ging letztendlich auf die Wölbung des Planeten zurück; aufgrund ihrer Körpergröße konnten sie die Dinge nur aus einer geringen Höhe betrachten. Hier, an diesem Ort, mussten sie sich wahrhaft winzig vorkommen.
Noch kleiner als der physische Maßstab war ihre Vorstellung von Zeit. Wesen so primitiv wie diese Letzten Eindringlinge unterlagen dem Diktat von Orbitalzyklen, Jahreszeiten, Tag und Nacht, der Drehung von Planeten. Sie lebten in einem System aus Wiederholungen, ließen Schlaf und Fortpflanzung von einer planetaren Uhr bestimmen. Sie waren Sklaven der Zeit.
Memor wies ihre Dienstler an, die Zeitskalen der Primatin zu untersuchen. Die kleineren Geschöpfe tollten umher und machten von ihren Instrumenten Gebrauch. Das Ergebnis war eindeutig.
Die Aufmerksamkeitszyklen der Primatin waren nur wenige Augenblicke lang und somit erschreckend kurz. Diese kleinen Zeitspannen nutzte sie für die Verarbeitung und Integration von Informationen. Was bedeutete: Sie konnte all die normalerweise langweiligen Dinge des reinen Überlebens keinen geringeren Teilen ihres Geistes überantworten. Sie musste die ganze Zeit über wachsam sein.
Es fiel Memor schwer, sich so etwas vorzustellen. Das Volk hatte den lästigen Rhythmus von Kurzzyklen schon vor langer Zeit überwunden. Das war die Idee hinter dem Streben nach Konstanz: Freiheit vom Ticktack des Ursprungs. Heute bestimmten Suche und Reise die Existenz des Volkes.
Dieses kleine Geschöpf musste sich die ganze Zeit über um die Verwaltung des eigenen Seins kümmern, um Verdauung, Exkretion, selbst um die Aufnahme von Sauerstoff, das Ein- und Ausatmen. Wie konnte es ständig so beschäftigt sein? Eine schwierige Frage und eine deprimierende obendrein.
Angesichts so kurzer Verarbeitungszyklen blieb solchen Wesen kaum geistige Kraft für Dinge jenseits des eigenen Herzschlags. Sie führten ein armseliges, immerzu abgelenktes Leben. Und doch war es ihnen gelungen, ein Raumschiff zu bauen?
Spürten sie überhaupt die Drehung der Evolution oder der Welt?
Memor überlegte. Ihr Untergeist analysierte beharrlich wie immer, präsentierte diesmal aber keine Ergebnisse. Sie inspizierte die Analysen Schicht für Schicht und fand … nichts. Ihr Untergeist war verwirrt. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen.
Konnten diese haarigen Zweibeiner verstehen, dass sie primitiv waren, weil sie der Knechtschaft des Wechsels von Hell und Dunkel unterlagen? Einmal hatte auch das Volk unter einem solchen Joch leiden müssen. Aber es hatte sich schließlich davon befreit und in Alter Zeit die Welt gebaut, um der Unfreiheit solcher Zyklen zu entkommen. In gewisser Weise repräsentierte dieses Geschöpf die ferne Vergangenheit, vom Bewusstseinssondierer und Memors Anweisungen in die Gegenwart geholt.
Nach dem Scan versuchte Memor, mit der Primatin zu sprechen. Sie wankte ein wenig und bewegte die kleinen Arme, um das Gleichgewicht zu wahren. »Wie ich sehe, war die Untersuchung durch unsere Erkenntnis suchende Maschine anstrengend für dich«, sagte Memor.
»Ihr habt mein Gehirn untersucht?«, erwiderte das Wesen scharf. Es war eine Sie, eine Frau, erinnerte sich Memor; das vergaß sie manchmal.
»Ich habe deine Fähigkeiten analysiert«, sagte Memor, was in gewisser Weise stimmte.
»Du verdammter, stinkender Riesenvogel! Dazu hattest du kein Recht!«
Der Lärm enthielt kaum Informationen. Aber Memor erkannte den Zorn der Primatin, der auch in fahrigen Bewegungen mit den Armen Ausdruck fand. Es sah komisch aus. Memor hatte festgestellt, dass dieses Individuum eine etwas dunklere Haut hatte als die anderen, was vielleicht bedeutete, dass es mehr Zeit im Licht von Sonnen verbracht hatte und älter war, also auch klüger. Deshalb hatte sie es ausgewählt, in der Hoffnung, eine Spur Weisheit zu finden. Vielleicht war es eine vergebliche Hoffnung, aber noch wusste Memor nicht genug.
Sie wies die Dienstler an, die Primatin erneut in den Sondierer zu bringen. Was der fremden Weiblichen ganz und gar nicht gefiel.
Ah. Eine Erkenntnis reifte in Memors Untergeist. Neue Informationen erreichten ihr Bewusstsein, und sie beobachtete, wie es tiefer unten in ihrem Selbst arbeitete. Sie konnte in den einzelnen Schichten des Untergeistes blättern und sich ansehen, was dort geschah, und auch im Geist der Primatin. Dies war eine sehr interessante neue Erfahrung gewürzt mit dem Aroma des Fremdartigen.
Konnte sie die Primatin während der Sondierung befragen? Soweit sie wusste, war etwas Vergleichbares in der ganzen langen Geschichte der Astronomen noch nie zuvor geschehen. Doch in ihrem Untergeist wuchs diese Idee aus dem Nährboden des Kreativen, und Memor erkannte ihren Wert. Also los.
Die Dienstler standen voller Ehrfurcht da, als Memor die Bilddaten anforderte und schnell von ihnen lernte, dem Untergeist dabei die Führung überließ. Dienstler konnten das nicht verstehen, denn ihr Geist arbeitete linear wie bei fast allen Wesen mit einer nennenswerten mentalen Komponente. Ihre Bewusstseinssphären waren vereint, ja, verfügten aber nur über wenig Untergeist. Die Dienstler benutzten eine Variante des linearen Denkens wie auch die Letzten Eindringlinge, aber in den Letzten Eindringlingen steckten offenbar Fähigkeiten, die den Dienstlern fehlten. Zweifellos wäre es keinem Dienstler gelungen, den für allgemeine Eindringlinge bestimmten Fallen zu entgehen.
Memor sah sich den Hirnscan der Primatin genau an. Eine hereditäre neurale Ausstattung beherrschte diese Geschöpfe. O ja, sie waren wirklich primitiv. Ihr Gehirn war geteilt, direkt in der Mitte. Das kannte Memor auch von anderen Spezies – die Evolution hatte diese Möglichkeit recht oft genutzt, vielleicht als eine frühe Vorsichtsmaßnahme. Auch beim Vogel-Volk gab es dieses Merkmal, das bei den Lebensformen in diesem Teil der Galaxis weit verbreitet war.
Aber hier gab es etwas Neues. Einfache Tiere teilten die biologischen Funktionen, damit sie sich nicht gegenseitig störten und die elementaren Hirnfunktionen beeinträchtigten. Weiter oben auf der Leiter der Evolution wurden die Aufgaben der inneren Organe wie Verdauungstrakt, Herz und so weiter vom bewussten Geist getrennt; unbewusste Steuerungsmechanismen setzten ein, um das Bewusstsein zu entlasten.
Doch einige wichtige Charakteristiken des hoch entwickelten Bewusstseins fehlten diesen Letzten Eindringlingen. Höhere Intelligenz benötigte nicht mehr Nützlichkeitsmodi, sondern Kreativität. Die Quelle von intuitiven Querverweisen und übergreifenden Assoziationen musste für das Bewusstsein zugänglich sein. Bei allen intelligenten Wesen gab es einen Untergeist, doch diese Primaten konnten nicht darauf zugreifen! Nur ein auf dem oberen Niveau vereinter Geist, über der Ebene der reinen Körperfunktionen, konnte Ideen entwickeln, sie mit Vernunft und Rationalität verändern und in neue Werkzeuge verwandeln.
Den Letzten Eindringlingen fehlten diese Fähigkeiten. Was sie antrieb, ihre Intuitionen und Assoziationen … Es blieb ihnen verborgen. Der Obergeist – das Kommandozentrum der Person, die Verwaltungszentrale, die alle wichtigen Entscheidungen traf – hatte keinen direkten Zugriff darauf.
Die Fremden waren primitiv. Aber sie hatten ein Raumschiff gebaut.
Diese Erkenntnis verblüffte Memor so sehr, dass sie eine Zeit lang kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann rief sie sich zur Ordnung, überlegte und befragte ihren Untergeist, der ihr leider keine Antworten anbieten konnte. Vielleicht brauchte er eine Ruhepause; oft brachte Schlaf neue Ideen.